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Demokratie in Coronazeiten
"Europa ist nicht mehr Chefsache"

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot kritisiert die EU und streitet für ein republikanisches Europa. Die Krise müsse einen "Denkraum für ein anderes Europa" eröffnen, forderte Guérot im Dlf. Und Wolfgang Schäubles Worte über Freiheit und Sicherheit seien richtig gewesen.

Ulrike Guérot im Gespräch mit Michael Köhler | 03.05.2020
Die deutsche Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot
Die Politologin Ulrike Guérot lehrt an der Donau-Universität Krems (picture-alliance/APA/Herbert Pfarrhofer )
Die Intervention von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Lebensschutz sei nicht absolute Staatsaufgabe, mag irritieren, aber sie rückt etwas zurecht, nämlich den Satz, hinter dem Lebensschutz müsse nun alles andere zurückstehen. Auf die Frage, wie das in ihren Ohren klinge, antwortet die an der Donau-Universität in Krems lehrende Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Guérot: "Ich habe mich über die Äußerungen von Herrn Schäuble, die leider missverstanden wurden, sehr gefreut. Ich fand das einen klugen Einwurf, der mich erinnert hat an den Stoiker Juvenal: 'So betrachte es als die größte Schandtat, das nackte Leben über all die Dinge zu stellen, für die es sich zu leben lohnt.'"
"Ich glaube, Herr Schäuble wollte einfach darauf hinweisen, dass nichts absolut zu stellen ist, und, dass man natürlich von einer Pflicht des Staates jedes Leben zu schützen, auch politikwissenschaftlich nicht ausgehen kann, sondern im Gegenteil ist ja die Staatlichkeit in moderner Variante eigentlich der Schutz vorm Staat." Für die Sicherheit dürfe nicht alles geopfert werden. "Selbst wenn man die Freiheit auf den Tisch legt, hat man noch keine Garantie, dass man dann auch wirklich sicher ist," sagte die Politikwissenschaftlerin. Die französischen Revolutionäre hätten auch nicht "Securité" gerufen, sondern aus gutem Grund "Liberté, Egalité und Fraternité". Darüber "nochmal nachzudenken, stünde uns in dieser Situation gut an", sagte Ulrike Guérot. Wir hätten die Freiheit etwas "aus dem Blick verloren".
Kantige Profile
Mit Blick auf die die politisch unterschiedlichen Lager der Ministerpräsidenten Laschet und Söder meinte die Publizistin, wir sehen die starke Stunde der Exekutive. "Wir haben auch bestimmte Männlichkeitstypen, Jens Spahn, Herr Söder, auch Sebastian Kurz, die mit einem kantigen Profil als Exekutive sich darstellen." Ulrike Guérot machte ein "Plädoyer für die Nachdenklichkeit von Armin Laschet, wie ich das eben skizziert habe" und fragt weiter: "Was kriegen wir zurück, wenn es denn mal vorbei ist und wer definiert, wann dieser Zustand vorbei sein soll?" Die Folgekosten für die Gesamtgesellschaft müssten in den Blick genommen werden.
Denkraum für ein anderes Europa
Auf den desaströsen Zustand der EU in der Corona-Krise angesprochen, sagte die Publizistin: "Ich versuche seit 15 Jahren Bücher zu schreiben, warum die EU in den Strukturen, in denen sie gerade steckt, so nicht funktionieren kann. Die EU erweist sich auch in dieser Krise leider wieder als weitgehend einflusslos, steuerungslos, obwohl einiges versucht wird. Wir haben in der Bankenkrise, in der Geflüchtetenkrise, wir haben noch kurz vor Corona mit dem Blick auf Lesbos gesehen, dass die EU immer weniger handlungsfähig ist und große Probleme hat." Die Frage, die sie umtreibt, lautet, was machen wir jetzt auf diesem europäischen Kontinent. Was machen wir mit dieser Krise? Es ist eine globale Krise. "Nutzen wir die bestehenden Strukturen, müssen wir sie verbessern?"
Zu den plötzlichen Veränderungen bemerkte die Publizistin: "Wir haben über ein Virus außer Kraft gesetzt - im Handumdrehen -, von dem wir auf europäischer Ebene gesagt haben, es kann nie passieren: die schwarze Null aufgeben, die Schuldenbremse aufgeben, das 60-Prozent-Verschuldungskriterium aushebeln. In Windeseile. Jetzt guck ich mir das an und denke, geht ja doch, so einfach ist das! Damit geht ein Denkraum auf für ein anderes Europa."
Europa der Bürger, kein Super-Staat
Ulrike Guérot fragt, ob diese Krise etwas bewirken kann und wenn ja, was? "Wie kriegen wir eine Bürger-Europa-Bindung hin. Wie lässt man daraus eine europäische Demokratie hervorgehen? Das ist die Diskussion, die ich mir wünsche". Auf die nationalstaatliche Wagenburg angesprochen, räumt sie ein: "Ich bin auch von dem Begriff supranational völlig abgekommen." Die Diskussion über ein supranationales Europa sei gescheitert, stimmt sie zu. "Niemand möchte einen Super-Staat, auch ich möchte keinen Super-Staat."
Wir bräuchten einen starken europäischen Kontinent. Wir brauchen eine "Bürgerbindung, wo die Bürger entscheiden und nicht ein europäischer Rat", so Guérot. Dazu bräuchten wir eine andere Repräsentation im politischen System. Dann ließen sich die Menschen auch für eine europäische Arbeitslosenversicherung oder eine europäische Transaktionssteuer gewinnen. Zum Schluss spricht sie sich für einen zweiten Anlauf für eine europäische Verfassung aus. "Europa ist nicht mehr Chefsache, es ist aber Bürgerinnen- und Bürgersache geworden." Von Ratspräsidentschaften hält die Publizistin nichts. Sie seien keine Impulsgeber mehr. Souverän seien am Ende nur die Bürgerinnen und Bürger. Der ursprünglich utopische Entwurf müsse das europäische Vertragswerk auch heute in Coronazeiten wiederbeleben. "Ich wünsche mir, dass die Enttäuschung uns in Wallung bringt, dass wir sagen, nie wieder".