Freitag, 19. April 2024

Archiv


Demokratisches Grundrecht: Konsumfreiheit

Der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik zeigte sich 1955 besorgt über die sich abzeichnende "Übersteigerung der Forderungen" an die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Die Bürger sollten ihre Forderungen mäßigen und darüber hinaus den Konsum nicht vergessen. Die freie Konsumwahl gehörte für Erhard zu den unantastbaren Freiheiten der Menschen.

Von Bodo Gemper | 07.09.2005
    "Jeder denkt nur an sich und keiner an das Ganze! Wenn aber eine Wirtschaftsordnung - und diese Frage steht zur Entscheidung - nicht mehr um das Ganze weiß, wenn sie das Gefühl der Verantwortung verkümmern lässt und nichts mehr von Nächstenliebe atmet, kann und darf sie nicht auf Resonanz und Anerkennung hoffen."

    Der "Vater des deutschen Wirtschaftswunders" Ludwig Erhard, zeigte sich zunehmend darüber besorgt, dass einzelne Interessengruppen sich vom gemeinsam erwirtschafteten Kuchen, dem Sozialprodukt, ein größeres Stück als verdient abzuschneiden versuchten.

    Nachdem der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik bereits Ende 1954 die Vollbeschäftigung wieder herbeigeführt hatte, äußerte er schon im Jahr 1955 seine Besorgnis über eine sich abzeichnende "Übersteigerung der Forderungen" an die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Aber er hoffte darauf:

    "Dass Einsicht und Erkenntnis, guter Wille, gesunder Menschenverstand und wirtschaftliche Vernunft zuletzt doch obsiegen werden."

    Als eine sich "überhitzende Hochkonjunktur" politisch nicht abzukühlen war, wandte Erhard sich besorgt direkt an die Bürger, doch Vernunft walten zu lassen, und bei ihren Forderungen Maß zu halten. Es war ihm "ein Bedürfnis",

    "Sie meine verehrten Hörerinnen und Hörer aus allen Schichten unseres Volkes, persönlich - d.h. den Menschen - anzusprechen, um Ihnen zugleich bewusst zu machen, was auf dem Spiele steht, wenn Sie in dieser Stunde der Bewährung und Entscheidung blindlings jenen folgen, die - subjektiv vielleicht sogar ehrlich - Ihre Interessen zu vertreten vorgeben, aber in der Übersteigerung ihrer Wünsche die Volkswirtschaft im ganzen überfordern und damit alles gefährden."

    Denn, so beklagte Erhard:

    "Das ist vielmehr das Übel, dass wir alle die Maße für die eigene Leistung - und das heißt zugleich auch für das Mögliche - verloren haben und darum jenen Einflüsterungen Raum zu geben geneigt sind, die uns in jenen Dämmerzustand versetzen, in dem sich unser Volk der Hybris der Maßlosigkeit des Wünschens und des Forderns nicht mehr erwehren kann."

    Seine programmatische Ansprache vom 7. September 1955 entsprang Erhards Erkenntnissen, die er als Konjunkturforscher zu Beginn der vierziger Jahre gewonnenen hatte, wonach

    "Die Wirtschaftsgemeinschaft aber, die das "Maß" verliert, dann nur allzu leicht auch der Zucht entbehrt, denn Maßlosigkeit und Zuchtlosigkeit wurzeln zuletzt immer in einem Grunde."

    Später wurde Erhard noch deutlicher:

    "Ginge es nur darum, alle Schichten unseres Volkes an einem sich ausweitenden Sozialprodukt, d.h. an dem wachsenden Wohlstand, teilhaben zu lassen, dann wäre die Aufgabe immerhin lösbar. Aber unlösbar, ja geradezu unsinnig ist das Verlangen, allen Gruppen von Einkommensbeziehern gleichzeitig einen höheren Anteil am Volkseinkommen zuzubilligen."

    Das sind die mahnenden Worte des Mannes, der "Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt" bereits fünf Jahre nach der Währungsreform beispielhaft bewirkt hat und besorgt Politikern ins Gewissen redet, doch nicht allen alles zu versprechen, ohne vorher an die unvermeidlichen Konsequenzen zu denken, nämlich an Staatsverschuldung und die gefährlichen "Wirkungen einer unterlassenen Schuldenkonsolidierung".

    Statt Forderungen an die Gesellschaft zu stellen, solle man sich doch lieber nach Maßen selbst anstrengen, dabei aber nicht vergessen, "nach so viel ehrlicher Leistung" von dem selbst Verdienten auch sich selbst etwas zu gönnen, und zu konsumieren,-auch, damit der Schornstein rauchen kann. Mehr noch, Erhard erklärte

    "Zu den unantastbaren Freiheiten des Menschen gehört nun einmal die freie Konsumwahl."

    Erstaunlich ist, dass Erhard diesen "Mut zum Konsum", als "demokratisches Grundrecht", empfand, und er die Ausübung der "Konsumfreiheit" bereits 1950 empfahl, in einer Zeit also, in der die "Menschen nicht entfernt zu hoffen gewagt hätten überhaupt jemals wieder" "auf den Trümmern einer teils vernichteten Wirtschaft die reale Aufgabe des Wiederaufbaus" schaffen könnten. Wenn Ludwig Erhard uns bloß als "Maßhalteminister" erinnernd wach gehalten wird, ist das nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit wollte Erhard gerade, dass die Bürger sich an dem mit ihrer Hände Arbeit aufgebauten Wohlstand, als Grundlage des sozialen Friedens so viel wie möglich erfreuen können.

    "Maßhalten als wirtschaftliches Gebot" war für den "gutmütigen Dicken mit der Zigarre" mithin kein Selbstzweck, sondern die zweite Bedingung für den Erfolg seiner Politik der Sozialen Marktwirtschaft, deren erste die Inanspruchnahme des "demokratischen Grundrechts der Konsumfreiheit" war.

    Weil seine "Maßhalteappelle" aber bald verhallten, verblasste das Leitbild selbstverantwortlicher Teilhabe der Bürger.