Scherbakowa: Ja, was vergisst man denn am liebsten? Ich glaube, man vergisst das, wenn irgendwelche verdrängten Schuldgefühle entstehen oder diese verdrängte Verantwortung. Und ich glaube, darin liegt der Grund dessen, warum es so schwierig ist, unsere Vergangenheit sozusagen aufzuarbeiten. Man verdrängt alles, was in dieses Bild Russlands, was man jetzt eigentlich – also von beiden Seiten leider, also sowohl von den Menschen selbst als auch von unseren Mächten – hier gerne produzieren möchte. Und es ist wie ein Wunder, dass diese Jugendlichen, die an unserem Wettbewerb so massiv teilnehmen – und in diesen vier Jahren haben wir über 12.000 Arbeiten bekommen aus allen Ecken Russlands. Fast jede Familie in Russland hatte etwas zu verbergen und zu verdrängen und in jeder Familie gab es sowohl Täter als auch Opfer natürlich.
Adler: Welche Kapitel sind das ganz besonders – die ganz besonders schmerzlich gewesen sind oder die ja schon doch fast in der Versenkung verschwunden sind, vor allem im öffentlichen offiziellen Bewusstsein?
Scherbakowa: Die meisten Geschichten, die wir bekommen haben, das waren die Geschichten von der Zwangskollektivierung und von Enteignungen der Bauern.
Adler: 'Memorial', die Menschenrechtsorganisation, in der Sie selbst ja mitarbeiten, beschäftigt sich maßgeblich auch mit der Wiederaufarbeitung oder überhaupt der Aufarbeitung vor allem der dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte, des Stalin'schen Terrors. Wenn wir dieses Kapitel anschauen, wie weit haben sich Schüler für die Täter interessiert?
Scherbakowa: Eigentlich sehr. Natürlich, die Frage, die sie immer wieder – indem sie ziemlich so naiv das beschrieben haben, also was in den Familien, was die Mitglieder der Familien, die unter Repressalien gestanden sind, besonders diese absolut unwissenden Bauern, die keine Parteimitglieder waren oder so – also dann entstand natürlich die Frage: Wer ist schuld, und warum wurde das gemacht? Diese Generation, die sehr pragmatisch ist, wusste, dass das Gut meines Großvaters zerstört worden war, dass die Fabrik niedergebrannt wurde, dass die Kirche geschlossen und die Ikone verbrannt wurde – wem nützte das alles, wer hat das alles organisiert, wo waren diejenigen? Das waren keine Fremden, was bei uns oft der Mythos ist, sondern das waren wir selbst.
Adler: Der Geschichtswettbewerb ist ein Teil, ist eine Möglichkeit a) gegen das Vergessen anzugehen, b) auch natürlich das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Mechanismen beziehungsweise Strukturen erkannt werden, die zum totalitären System führen. Wie weit haben Sie für Russland insgesamt das Gefühl, dass diese Aufarbeitung der Geschichte, diese Erkenntnis, wie solche Strukturen funktionieren, wie man auch den Anfängen wehren muss – wie weit haben Sie das Gefühl, dass diese Aufarbeitung tatsächlich erfolgt ist?
Scherbakowa: Einerseits kann man ja gar nicht sagen, dass alles verdrängt ist. Schon mit unserem Schülerwettbewerb, schon dass so viele Lehrer in unserem Land mitmachen und so viele Familienmitglieder – es werden Bücher veröffentlicht, es werden Archivrecherchen fortgesetzt, einerseits. Andererseits hat man doch ein Gefühl, dass diese Aufarbeitung der Geschichte ein bisschen – wie soll man sagen – getrennt existiert von dem, was jetzt die russische Realität ist.
Adler: Die Menschen in Russland erleben jetzt überhaupt zum ersten mal Demokratie. Wenn Sie jetzt zurückblicken auf diese zehn Jahre Demokratie in Russland: Was haben Sie für ein Gefühl? Kann Russland von sich behaupten, dass es tatsächlich ein demokratisches Land ist?
Scherbakowa: Ja, man kann erstens sagen, es waren keine zehn Jahre Demokratie. Also, das waren zehn Jahre des Aufbruchs, vielleicht teilweise der Zerstörung des alten Systems, wo – das muss ich sofort in Klammern sagen – viele Blöcke dieses Systems nicht nur erhalten geblieben sind, sondern sie regenerieren sich ganz stark . . .
Adler: . . . welche meinen Sie?
Scherbakowa: Ich meine zum Beispiel den ganzen – wie man in Russland so gerne sagt – bürokratischen Apparat. Teilweise natürlich können wir sagen, dass vieles in diesen zehn Jahren passiert ist. Und an vieles haben sich die Menschen gewöhnt, ohne sogar anzuerkennen, dass das irgendwie Demokratie ist, zum Beispiel doch eine gewisse Pressefreiheit, doch eine gewisse Meinungsäußerungsfreiheit, doch eine gewisse Ausreisefreiheit, doch eine gewisse Freiheit, vor Gericht zu gehen, was immer leider noch sehr wenig von unseren Menschen in Anspruch genommen wird. Aber die Möglichkeit besteht. Leider kann man ja sagen, dass die wichtigsten Instrumente der Demokratie sehr schwach oder kaum entwickelt sind. Opposition ist kaum bemerkbar, und das sind für mich Sachen, die ziemlich gefährlich, was die demokratische Russlands anbetrifft, aussehen.
Adler: Irina Scherbakowa, wenn wir uns zurückerinnern an die Zeit von Boris Jelzins Präsidentschaft, dann wissen wir auch, dass es eine Zeit war, die sich maßgeblich von Putins Präsidentschaft insofern unterscheidet, als dass das Parlament – die Duma – ein wirklich massives Gegengewicht zum Präsidenten war, dass sie eigentlich ständig einen Dauerkrieg geführt hat gegen den Präsidenten. Jetzt in den letzten vier Jahren haben wir erlebt: Die Duma steht jetzt vor ihren nächsten Wahlen, am 7. Dezember wird gewählt, und wir haben, wenn wir die letzten vier Jahre zurückblicken, eine Duma erlebt, die nur 'abgenickt' hat, was der Präsident vorgeschlagen hat, was aus dem Kreml an Gesetzesinitiativen kam, die überhaupt keine Opposition innerhalb ihrer eigenen Reihen hatte. Wie erklären Sie sich das? Was ist eigentlich passiert in den letzten vier Jahren, dass Russland die Opposition so vollständig abhanden gekommen ist?
Scherbakowa: Ich glaube, das sind ganz unterschiedliche Sachen: Keine Erfahrung wirklich, was den politischen Kampf anbetrifft, keine demokratischen Mechanismen. Parteibau ist, wie wir wissen, ein langwieriger Prozess. Und bei uns in Russland ist es eigentlich immer so: Entweder dauert alles zu lang oder man will, dass alles zu schnell passiert.
Adler: Und was wir jetzt aber erleben, ist zugleich ja auch eine unglaubliche Angepasstheit – Angepasstheit, die wir in den Medien sehen, die wir in der Duma selber sehen. Es gibt kaum ernst zu nehmende, kaum wirklich große Autoritäten, die sich ganz offen gegen den Präsidenten stellen. Kann man beobachten, dass die Menschen möglicherweise sogar schon wieder eingeschüchtert sind, ihre Meinung zu sagen, weil sie zum Beispiel nicht mehr Karriere machen würden?
Scherbakowa: Ich glaube – ehrlich gesagt –, es ist noch nicht so weit. Vielleicht ganz oben irgendwo in der Administration, beim Präsidenten oder in der Regierung – das kann der Fall sein, wenn man sich gegen den Präsidenten wendet, aber nicht allgemein. Das ist der Ausdruck der Volksstimmung, denn sie ist ja wirklich so. Das Volk steht hinter Putin, das muss man ja so annehmen. Ich glaube, das waren grobe Fehler der Opposition, das waren auch – man kann ja von politischem Egoismus sprechen, auch von Selbstbereicherung oft zum Beispiel.
Adler: Wir haben jetzt gerade die Wahlen in Tschetschenien erlebt, die, wie ja schon das Referendum, nicht als ehrliche, als freie Wahlen zu bezeichnen waren. Die Menschenrechtsorganisation, der Sie, Irina Scherbakowa angehören, nämlich 'Memorial', hat sich strikt geweigert, als Beobachter an diesen Wahlen teilzunehmen, mit der Begründung, dass man etwas Schmutziges nicht sauberer machen möchte, dass man diese Wahlen eben nicht legitimieren möchte. Warum konnten diese Wahlen in Tschetschenien schon von vornherein niemals freie Wahlen sein?
Scherbakowa: Weil in Tschetschenien ständig unser Militär präsent ist, weil die Menschen dort in der Angst leben. Und man muss ja sagen: Es ist ja jetzt in diesem Land so weit, dass man Angst nicht nur vor den Föderalen unseres Militärs hat, sondern auch von den tschetschenischen Mitbürgern, die sich auf die Seite der Föderalen stellen, weil es eigentlich tatsächlich schon Bürgerkrieg in Tschetschenien ist. Man hat diesen Teufel 1994 aus der Flasche geholt, und ich sehe die Situation so, dass noch wahrscheinlich Jahrzehnte vergehen müssen, bis sich dort die Situation beruhigt.
Adler: Präsident Putin hat massiv in diesen Wahlkampf eingegriffen in Tschetschenien. Er hat Achmad Kadyrow, den zunächst noch amtieren Präsidenten – jetzt gewählten Präsidenten – mitgenommen nach New York in seine Präsidenten-Delegation zu den Vereinten Nationen, hat ihn dort auch auftreten lassen. Warum ist der Kreml so wenig interessiert gewesen an freien Wahlen?
Scherbakowa: Ich glaube, man hat einfach Angst davor. Erstens könnte es passieren, dass kein Kandidat irgendwelche Stimmen bekommt und das ewig dauern könnte, bis irgendjemand da quasi siegen könnte. Und zweitens: Angeblich hat der Kreml zu Kadyrow Vertrauen. Und ich kenne selbst sehr viele Menschen in Tschetschenien und überall, die überhaupt kein Vertrauen zu Kadyrow haben, sondern sogar Angst vor ihm haben.
Adler: Irina Scherbakowa, Sie sind Historikerin, versuchen aufzuspüren, was das Volksgedächtnis in seinen Erinnerungen bewahrt, was es andererseits ja aber auch verschweigt oder vergisst. Warum ist nach 150 Jahren Krieg zwischen Russen und Tschetschenen im Kaukasus es immer noch nicht möglich, dass man mal zurückschaut in die Vergangenheit und Lehren daraus zieht und vielleicht sogar erkennt: Mit Krieg ist im Kaukasus, ist in Tschetschenien nichts zu holen?
Scherbakowa: Erstens ist es eine Illusion, zu denken, dass die Menschen, die politische Entscheidungen in Russland treffen und getroffen haben, irgendeine Vorstellung von der Geschichte haben und von dem, was Tschetschenen sind und was es eigentlich bedeutet, so einen Krieg anzufangen. Das war schon mit Afghanistan so, das haben wir Anfang der 80er Jahre massiv erlebt. Und das haben wir also noch in einem viel schlimmeren Ausmaß im Jahre 1994 so erlebt, als der erste tschetschenische Krieg angefangen hat, und dann nach vier Jahren noch schlimmer, als der zweite Krieg ausbrach. Ich glaube also, es ist eine völlige Illusion und es ist leider eine Tradition des russischen Volkes doch an die Kompetenz – einerseits beschimpft man die Macht, andererseits delegiert man die Kompetenz an diese Macht, und die Menschen sind unkompetent.
Adler: Gewählt wird im März nächsten Jahres auch der neue russische Präsident, der aller Voraussicht nach der alte sein wird. Wie ist es zu verstehen, dass neben Putin es im Grunde genommen keinen wirklich ernstzunehmenden Anwärter für dieses Amt gibt? Ist es so, dass Putin einfach die Idealbesetzung ist für das Amt als russischer Präsident, oder woran liegt's? Ist die russische Demokratie möglicherweise zu schwach, dass sie noch keinen wirklich ernstzunehmenden Herausforderer hervorgebracht hat?
Scherbakowa: Ich glaube, angefangen hat das noch zu Jelzins Zeiten. Es war ja ein Rivalenkampf um ihn herum, und das war wahrscheinlich das Schlimmste, was damals sich abgespielt hat – diese ganz schmutzigen Machtkämpfe und Clankämpfe um den alten Präsidenten herum. Und in diesen Kämpfen wurden ganz viele fähige und viele zukünftig fähige Politiker einfach ausgeschaltet aus der Politik, oder sie haben vielleicht Fehler am Anfang, wie diese erste Regierung von dem Ökonomen Gaidar und seinem Kommando. Das waren fähige junge Menschen. Sie haben sich entweder ganz verändert, wie Tschubais zum Beispiel, der unser Energiechef – für die russische Energie jetzt zuständig – ist und eine sehr zweideutige Figur geworden ist. Und sobald es um irgendwelche politischen Fragen ging, zum Beispiel um den Krieg in Tschetschenien und so, wurden sie sofort ganz – wie soll man sagen, also als seien diese Fragen mit der Wirtschaft gar nicht verbunden, als sei es etwas wie politische Entscheidungen, und für politische Entscheidungen sind sie nicht zuständig. Und es ist überhaupt jetzt eine Situation auch mit unserer Regierung: Sie sagen ja die ganze Zeit, sie sind ja nur Manager. Sie sind für keine politischen Entscheidungen zuständig. Also das heißt, ohne Opposition in der Duma wählt man den Präsidenten und seine Administration, die für die politischen Entscheidungen zuständig sind. Und das wird uns dazu führen, dass – also wir haben keine richtige Gegenkandidatur, es werden wahrscheinlich nur irgendwelche formellen Gegner sein – diese Wahlen nur den Schein einer Wahl haben. Und ansonsten glaube ich, bis 2008 wird bei uns die Machtfrage nicht wieder auftauchen.
Adler: Wenn wir jetzt die Demokratien unter Jelzin und Putin vergleichen – wir erinnern uns: Putin ist angetreten mit fast schon den drohenden Worten von der 'Diktatur des Gesetzes' –, hat sich die Demokratie in dieser Zeit seit Jelzin weiterentwickelt, oder hat sie gelitten?
Scherbakowa: Mit den Gesetzen sah es in Russland immer sehr kompliziert aus. Viele Gesetze sind einfach schlecht geschriebene Gesetze, und es sind ganz starke Scheren, wie wir in Russland sagen, zwischen dem, was eigentlich in den Gesetzen geschrieben steht und wie sie ausgeführt werden – vor allem von der Macht selbst, die diese Gesetze produziert. Leider hat sich die Situation so entwickelt, dass die Menschen – und gerade in dieser Vergangenheit Russlands sieht man ja, wie wenig Möglichkeiten ein Individuum hatte, wie seine Freiheit begrenzt worden war. Von der Freiheit des Individuums hat man in diesem Land immer noch – glaube ich – sehr wenig Vorstellungen, also sowohl oben als auch unten. Diese Unfreiheit, an die alle eigentlich sich gewöhnt haben, schon seit Jahrzehnten, sie produziert das, dass diese Erwartungen wiederum an eine Person delegiert werden, an diese autoritäre Person.
Adler: Die Akademie der Wissenschaften, insbesondere Olga Kryschtanowskaja, hat in diesem Jahr ja ganz erschreckende Zahlen vorgelegt. Sie hat vorgelegt, dass sich innerhalb der russischen Machtstrukturen, das heißt in den Ministerien, in den Administrationen, auch unter den Generalgouverneuren, eine unerhörte und immer weiter zunehmende Zahl von so genannten 'Schulterklappenträgern', also von ehemaligen oder immer noch aktiven Militärs befindet beziehungsweise eben auch von Geheimdienstmitarbeitern. Da muss man an dieser Stelle ja wirklich fragen, anknüpfend an das, was Sie gerade gesagt haben: Haben die russischen Menschen nicht gelernt aus ihrer Vergangenheit? Ist es jetzt also genau das, was uns wieder droht, dass eben der Geheimdienst sozusagen die Hand auf allem hat, dass es eben doch wieder schleichend zu einer neuen Diktatur kommt?
Scherbakowa: Jetzt wieder zurück an das, wo wir angefangen haben: In jeder russischen Familie gab es die und die, und es gab auch die Figuren, die erst mal auch Täterrolle gespielt haben und dann zu Opfern geworden sind, und dann wiederum zu Tätern. Das war ein militärischer Staat, das war ein totalitärer Staat, wo die Präsenz der Armee, die Präsenz der Staatssicherheit enorm groß war. Diese Menschen sind nicht verschwunden nach diesem Zusammenbruch dieses Systems. Wer waren die Verlierer der ersten Stunde? Das waren die Menschen aus der Staatssicherheit, und zwar Tausende, Tausende und Tausende. Und das sind im allgemeinen Menschen der Ordnung, wie man auch diese Ordnung versteht. Und die Menschen, die irgendwie sozusagen als fähige Bürokraten oft – oder unfähige Bürokraten – irgendwelche Erfahrung gehabt haben. Und das hat nicht erst zu Putins Zeiten angefangen. Das sahen wir schon viel, viel früher zu unserem Erstaunen, wie sie die ganzen demokratischen Mediensysteme aufgebaut haben, ihre eigenen Sicherheitskräfte aus den ehemaligen Staatssicherheitspersonen rekrutiert haben. Und wir dachten, das ist ja doch nicht möglich, wie kann das moralisch sein? Das sind ja eben ganz fähige Menschen. Und diese fähigen Menschen haben wir nun überall.
Adler: Ein möglicher Herausforderer für Putin, nicht bei diesen, bei den Wahlen 2004, sondern möglicherweise im Jahr 2008, ist jetzt in den vergangenen Monaten in Erscheinung getreten: Michail Chodorkowskij, Ölmanager, einer der reichsten Männer Russlands, angeblich überhaupt der reichste Mann, ein moderner, erfolgreicher Manager, der sich um Transparenz in der Unternehmensführung bemüht, der bei den anstehenden Duma-Wahlen, bei den jetzigen Duma-Wahlen die Oppositionsparteien von Geeintes Russland unterstützt, also die Jabloko, die SPS und angeblich wohl auch die Kommunisten. Abgesehen davon, dass Wladimir Putin nur noch eine Amtszeit absolvieren kann: Wäre ein Mann wie Chodorkowskij tatsächlich eine Alternative für Russland, oder würden dann die so genannten Oligarchen das Ruder übernehmen? Würde Russland dadurch Schaden erleiden?
Scherbakowa: Das ist eine komplizierte Frage. Erstens glaube ich, das ist eine Illusion, und in meinen Augen ist das überhaupt eher ein Spiel und ich weiß nichts von diesen ganzen Gerüchten, wo der Ursprung dieser Gerüchte ist, dass Chodorkowskij unbedingt als Präsident gewählt werden soll. Ich befürchte, es riecht sehr nach Provokation und nach den alten Zeiten, also um ein bisschen wiederum vor dieser Wahlkampagne die Menschen gegen die Oligarchen dazu einzustimmen, die sowieso die Oppositionsparteien noch unterstützen. Ich glaube, das war nicht der Ernst dieser Opposition und ich glaube nicht, dass Chodorkowskij in Wirklichkeit, wenigstens jetzt, sich Gedanken darüber machen könnte, zum Präsidenten gewählt zu werden. Für mich wäre das eine Alternative, aber diese Zahl von Menschen, die eigentlich eher für ihn stimmen würde, das ist eine ganz, ganz kleine Minderheit, weil Oligarchen von der Macht zu den Erzfeinden dieses Landes geworden sind. Und egal, wie unsympathisch viele von denen für mich persönlich sind, nicht sie sind sozusagen das Böse in diesem Land, sondern gerade dieser Apparat, diese Bürokratie, die sich immer wieder regeneriert mit neuen und alten Staatssicherheitskräften und Militärpersonen. Ich glaube, mit Michail Chodorkowskij ist folgende Geschichte passiert: Er wollte ja keine Konfrontation mit der Macht. Er war derjenige von den Oligarchen, der sich überhaupt nicht in die Politik eingemischt hat, der immer sehr loyal zur Macht stand, ein Typ, der so ist, wie er sich auch gab und was er alles gesagt hat als absoluter kultivierter Technokrat, also völlig anders als Gussinskij oder Beresowskij, eine andere Generation, eine neue Kreatur, also keine Konfrontation mit der Macht, sondern eine fruchtbare Zusammenarbeit. Aber es ist Russland. Und ich glaube, nicht nur Russland – es ist nicht nur Russland, aber Russland ganz besonders: Wenn der Mensch so reich und einflussreich wird wie Chodorkowskij, dann ist es unvermeidbar, dass das von der Politik nicht abgetrennt werden kann. Er hat das wahrscheinlich anfangs nicht begriffen, aber das Leben war so. Du kannst in Russland leider nichts bewirken, wenn du dich nicht in die Politik einmischst. Aber sobald er das wahrgenommen hat, und sobald er versucht hatte, sich irgendwie in die gesellschaftlichen Strukturen einzubringen, indem er Stiftungen aufgebaut hat – er hat übrigens angefangen, ganz gute Projekte zu unterstützen, 'Offenes Russland' heißt diese Stiftung, indem er begriffen hat, dass das in einer Demokratie nicht geht, es müssen in einer Demokratie die anderen Parteien auch unterstützt werden; das schadet dem Business, das schadet der freien Marktwirtschaft und so –, sofort hat er es von der Macht abbekommen. Natürlich sind alle unsere Neureichen und Superreichen nicht mit irgendwelchen schönen Mitteln an diesen Reichtum gekommen. Aber was man jetzt vielleicht will, also diese neue Enteignung und diese angebliche Verteilung, wird nur wieder zur Bereicherung des Apparates führen und zur Zerstörung der Anfänge von der Marktwirtschaft. Das ist meine Überzeugung.
Adler: Irina Scherbakowa, Historikerin und Autorin ihres neuen Werkes "Russlands Gedächtnis" im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Frau Scherbakowa, Sie sind zur Buchmesse gekommen, auf der es ja in diesem Jahr ein ganz besonders großes Interesse an Russland gibt. Wenn Sie Ihren einheimischen Buchmarkt beurteilen sollten, wo hat er sich zum Guten verändert? Wo gibt es Lücken, die möglicherweise Verlage oder sogar auch Autoren noch nicht nutzen?
Scherbakowa: Erstens glaube ich, dass bei uns der Büchermarkt eine der ersten Errungenschaften der neuen Zeit war, denn ich kann mich noch sehr, sehr gut an die Schlangen vor dem Bücherladen erinnern, wo ein Buch zu bekommen, das man sich wünschte, kaum möglich war. Und das war wirklich die Öffnung dieses Feldes und diese Anfänge, vor denen alle irgendwelche Schrecken bekommen haben und gesagt haben: Ja, unser Russland ist das lesendste Land in der Welt, und viele unserer Leser werden verschwinden, denn die werden ja nur die Trivialliteratur lesen, die werden nur die englischen Krimis lesen, also die werden ja gar nichts Schönes lesen wie die kleine Putzfrau, die mit 'Anna Karenina' sitzt in der Ruhepause, also so was Wunderschönes wird niemals wieder passieren. Ja, vielleicht auf diese Weise nicht, denn das ist eine Marktgesellschaft und vieles verändert sich, also auch der Büchermarkt. Und es reduziert sich auch, und es wird wirklich viel Trivialliteratur verlegt, es wird alles ziemlich schnell verlegt, was auch im Westen verlegt wird, auch die westliche Bestseller. Es gibt Gott sei Dank freie alternative Verlage, die auch gute Literatur bei uns veröffentlichen, Oppositionsliteratur – trotz aller Versuche unserer Ideologen, die nahe an der Macht stehen, diese oder jene als Pornoautoren zu denunzieren, also sprich die ganze Kampagne gegen Sorokin und so. Ich bin kein Fan von ihm, aber wenn so etwas passiert, wird man natürlich automatisch zum Fan. Was während der Moskau-Büchermesse sich abspielt, das ist so ein Gedränge von Menschen. Deshalb glaube ich, dass die Menschen nach wie vor ziemlich viel in diesem Land lesen, und auch gute Bücher lesen.
Adler: Was lesen Sie selbst?
Scherbakowa: Ich habe in der letzten Zeit, gerade gestern abend abgeschlossen, ein sehr schönes kleines Buch von einem Autoren, der leider vor zehn Jahren schon gestorben ist, gelesen. Und das ist eine posthume Entdeckung: Leonid Zypkin, und sein Buch heißt 'Sommer in Baden'. Und er recherchiert ein bisschen diese Zeit im Leben von Dostojewski und seiner Frau, wie sie nach der Heirat nach Deutschland kommen und wo er alles verspielt. Ich nehme an, dass wahrscheinlich irgendein deutscher Verlag schon damit beschäftigt ist, dieses Buch zu übersetzen und zu verlegen. Es ist eine sehr gute Aufarbeitung von Dostojewskis Geschichte. Es ist eine Schlüsselfigur in der russischen Kultur – Dostojewski -, und sehr interessant mit Deutschland verbunden - mit dieser Atmosphäre in Baden, wo er alles, was sie haben, ja verspielt.
Adler: Welche Kapitel sind das ganz besonders – die ganz besonders schmerzlich gewesen sind oder die ja schon doch fast in der Versenkung verschwunden sind, vor allem im öffentlichen offiziellen Bewusstsein?
Scherbakowa: Die meisten Geschichten, die wir bekommen haben, das waren die Geschichten von der Zwangskollektivierung und von Enteignungen der Bauern.
Adler: 'Memorial', die Menschenrechtsorganisation, in der Sie selbst ja mitarbeiten, beschäftigt sich maßgeblich auch mit der Wiederaufarbeitung oder überhaupt der Aufarbeitung vor allem der dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte, des Stalin'schen Terrors. Wenn wir dieses Kapitel anschauen, wie weit haben sich Schüler für die Täter interessiert?
Scherbakowa: Eigentlich sehr. Natürlich, die Frage, die sie immer wieder – indem sie ziemlich so naiv das beschrieben haben, also was in den Familien, was die Mitglieder der Familien, die unter Repressalien gestanden sind, besonders diese absolut unwissenden Bauern, die keine Parteimitglieder waren oder so – also dann entstand natürlich die Frage: Wer ist schuld, und warum wurde das gemacht? Diese Generation, die sehr pragmatisch ist, wusste, dass das Gut meines Großvaters zerstört worden war, dass die Fabrik niedergebrannt wurde, dass die Kirche geschlossen und die Ikone verbrannt wurde – wem nützte das alles, wer hat das alles organisiert, wo waren diejenigen? Das waren keine Fremden, was bei uns oft der Mythos ist, sondern das waren wir selbst.
Adler: Der Geschichtswettbewerb ist ein Teil, ist eine Möglichkeit a) gegen das Vergessen anzugehen, b) auch natürlich das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Mechanismen beziehungsweise Strukturen erkannt werden, die zum totalitären System führen. Wie weit haben Sie für Russland insgesamt das Gefühl, dass diese Aufarbeitung der Geschichte, diese Erkenntnis, wie solche Strukturen funktionieren, wie man auch den Anfängen wehren muss – wie weit haben Sie das Gefühl, dass diese Aufarbeitung tatsächlich erfolgt ist?
Scherbakowa: Einerseits kann man ja gar nicht sagen, dass alles verdrängt ist. Schon mit unserem Schülerwettbewerb, schon dass so viele Lehrer in unserem Land mitmachen und so viele Familienmitglieder – es werden Bücher veröffentlicht, es werden Archivrecherchen fortgesetzt, einerseits. Andererseits hat man doch ein Gefühl, dass diese Aufarbeitung der Geschichte ein bisschen – wie soll man sagen – getrennt existiert von dem, was jetzt die russische Realität ist.
Adler: Die Menschen in Russland erleben jetzt überhaupt zum ersten mal Demokratie. Wenn Sie jetzt zurückblicken auf diese zehn Jahre Demokratie in Russland: Was haben Sie für ein Gefühl? Kann Russland von sich behaupten, dass es tatsächlich ein demokratisches Land ist?
Scherbakowa: Ja, man kann erstens sagen, es waren keine zehn Jahre Demokratie. Also, das waren zehn Jahre des Aufbruchs, vielleicht teilweise der Zerstörung des alten Systems, wo – das muss ich sofort in Klammern sagen – viele Blöcke dieses Systems nicht nur erhalten geblieben sind, sondern sie regenerieren sich ganz stark . . .
Adler: . . . welche meinen Sie?
Scherbakowa: Ich meine zum Beispiel den ganzen – wie man in Russland so gerne sagt – bürokratischen Apparat. Teilweise natürlich können wir sagen, dass vieles in diesen zehn Jahren passiert ist. Und an vieles haben sich die Menschen gewöhnt, ohne sogar anzuerkennen, dass das irgendwie Demokratie ist, zum Beispiel doch eine gewisse Pressefreiheit, doch eine gewisse Meinungsäußerungsfreiheit, doch eine gewisse Ausreisefreiheit, doch eine gewisse Freiheit, vor Gericht zu gehen, was immer leider noch sehr wenig von unseren Menschen in Anspruch genommen wird. Aber die Möglichkeit besteht. Leider kann man ja sagen, dass die wichtigsten Instrumente der Demokratie sehr schwach oder kaum entwickelt sind. Opposition ist kaum bemerkbar, und das sind für mich Sachen, die ziemlich gefährlich, was die demokratische Russlands anbetrifft, aussehen.
Adler: Irina Scherbakowa, wenn wir uns zurückerinnern an die Zeit von Boris Jelzins Präsidentschaft, dann wissen wir auch, dass es eine Zeit war, die sich maßgeblich von Putins Präsidentschaft insofern unterscheidet, als dass das Parlament – die Duma – ein wirklich massives Gegengewicht zum Präsidenten war, dass sie eigentlich ständig einen Dauerkrieg geführt hat gegen den Präsidenten. Jetzt in den letzten vier Jahren haben wir erlebt: Die Duma steht jetzt vor ihren nächsten Wahlen, am 7. Dezember wird gewählt, und wir haben, wenn wir die letzten vier Jahre zurückblicken, eine Duma erlebt, die nur 'abgenickt' hat, was der Präsident vorgeschlagen hat, was aus dem Kreml an Gesetzesinitiativen kam, die überhaupt keine Opposition innerhalb ihrer eigenen Reihen hatte. Wie erklären Sie sich das? Was ist eigentlich passiert in den letzten vier Jahren, dass Russland die Opposition so vollständig abhanden gekommen ist?
Scherbakowa: Ich glaube, das sind ganz unterschiedliche Sachen: Keine Erfahrung wirklich, was den politischen Kampf anbetrifft, keine demokratischen Mechanismen. Parteibau ist, wie wir wissen, ein langwieriger Prozess. Und bei uns in Russland ist es eigentlich immer so: Entweder dauert alles zu lang oder man will, dass alles zu schnell passiert.
Adler: Und was wir jetzt aber erleben, ist zugleich ja auch eine unglaubliche Angepasstheit – Angepasstheit, die wir in den Medien sehen, die wir in der Duma selber sehen. Es gibt kaum ernst zu nehmende, kaum wirklich große Autoritäten, die sich ganz offen gegen den Präsidenten stellen. Kann man beobachten, dass die Menschen möglicherweise sogar schon wieder eingeschüchtert sind, ihre Meinung zu sagen, weil sie zum Beispiel nicht mehr Karriere machen würden?
Scherbakowa: Ich glaube – ehrlich gesagt –, es ist noch nicht so weit. Vielleicht ganz oben irgendwo in der Administration, beim Präsidenten oder in der Regierung – das kann der Fall sein, wenn man sich gegen den Präsidenten wendet, aber nicht allgemein. Das ist der Ausdruck der Volksstimmung, denn sie ist ja wirklich so. Das Volk steht hinter Putin, das muss man ja so annehmen. Ich glaube, das waren grobe Fehler der Opposition, das waren auch – man kann ja von politischem Egoismus sprechen, auch von Selbstbereicherung oft zum Beispiel.
Adler: Wir haben jetzt gerade die Wahlen in Tschetschenien erlebt, die, wie ja schon das Referendum, nicht als ehrliche, als freie Wahlen zu bezeichnen waren. Die Menschenrechtsorganisation, der Sie, Irina Scherbakowa angehören, nämlich 'Memorial', hat sich strikt geweigert, als Beobachter an diesen Wahlen teilzunehmen, mit der Begründung, dass man etwas Schmutziges nicht sauberer machen möchte, dass man diese Wahlen eben nicht legitimieren möchte. Warum konnten diese Wahlen in Tschetschenien schon von vornherein niemals freie Wahlen sein?
Scherbakowa: Weil in Tschetschenien ständig unser Militär präsent ist, weil die Menschen dort in der Angst leben. Und man muss ja sagen: Es ist ja jetzt in diesem Land so weit, dass man Angst nicht nur vor den Föderalen unseres Militärs hat, sondern auch von den tschetschenischen Mitbürgern, die sich auf die Seite der Föderalen stellen, weil es eigentlich tatsächlich schon Bürgerkrieg in Tschetschenien ist. Man hat diesen Teufel 1994 aus der Flasche geholt, und ich sehe die Situation so, dass noch wahrscheinlich Jahrzehnte vergehen müssen, bis sich dort die Situation beruhigt.
Adler: Präsident Putin hat massiv in diesen Wahlkampf eingegriffen in Tschetschenien. Er hat Achmad Kadyrow, den zunächst noch amtieren Präsidenten – jetzt gewählten Präsidenten – mitgenommen nach New York in seine Präsidenten-Delegation zu den Vereinten Nationen, hat ihn dort auch auftreten lassen. Warum ist der Kreml so wenig interessiert gewesen an freien Wahlen?
Scherbakowa: Ich glaube, man hat einfach Angst davor. Erstens könnte es passieren, dass kein Kandidat irgendwelche Stimmen bekommt und das ewig dauern könnte, bis irgendjemand da quasi siegen könnte. Und zweitens: Angeblich hat der Kreml zu Kadyrow Vertrauen. Und ich kenne selbst sehr viele Menschen in Tschetschenien und überall, die überhaupt kein Vertrauen zu Kadyrow haben, sondern sogar Angst vor ihm haben.
Adler: Irina Scherbakowa, Sie sind Historikerin, versuchen aufzuspüren, was das Volksgedächtnis in seinen Erinnerungen bewahrt, was es andererseits ja aber auch verschweigt oder vergisst. Warum ist nach 150 Jahren Krieg zwischen Russen und Tschetschenen im Kaukasus es immer noch nicht möglich, dass man mal zurückschaut in die Vergangenheit und Lehren daraus zieht und vielleicht sogar erkennt: Mit Krieg ist im Kaukasus, ist in Tschetschenien nichts zu holen?
Scherbakowa: Erstens ist es eine Illusion, zu denken, dass die Menschen, die politische Entscheidungen in Russland treffen und getroffen haben, irgendeine Vorstellung von der Geschichte haben und von dem, was Tschetschenen sind und was es eigentlich bedeutet, so einen Krieg anzufangen. Das war schon mit Afghanistan so, das haben wir Anfang der 80er Jahre massiv erlebt. Und das haben wir also noch in einem viel schlimmeren Ausmaß im Jahre 1994 so erlebt, als der erste tschetschenische Krieg angefangen hat, und dann nach vier Jahren noch schlimmer, als der zweite Krieg ausbrach. Ich glaube also, es ist eine völlige Illusion und es ist leider eine Tradition des russischen Volkes doch an die Kompetenz – einerseits beschimpft man die Macht, andererseits delegiert man die Kompetenz an diese Macht, und die Menschen sind unkompetent.
Adler: Gewählt wird im März nächsten Jahres auch der neue russische Präsident, der aller Voraussicht nach der alte sein wird. Wie ist es zu verstehen, dass neben Putin es im Grunde genommen keinen wirklich ernstzunehmenden Anwärter für dieses Amt gibt? Ist es so, dass Putin einfach die Idealbesetzung ist für das Amt als russischer Präsident, oder woran liegt's? Ist die russische Demokratie möglicherweise zu schwach, dass sie noch keinen wirklich ernstzunehmenden Herausforderer hervorgebracht hat?
Scherbakowa: Ich glaube, angefangen hat das noch zu Jelzins Zeiten. Es war ja ein Rivalenkampf um ihn herum, und das war wahrscheinlich das Schlimmste, was damals sich abgespielt hat – diese ganz schmutzigen Machtkämpfe und Clankämpfe um den alten Präsidenten herum. Und in diesen Kämpfen wurden ganz viele fähige und viele zukünftig fähige Politiker einfach ausgeschaltet aus der Politik, oder sie haben vielleicht Fehler am Anfang, wie diese erste Regierung von dem Ökonomen Gaidar und seinem Kommando. Das waren fähige junge Menschen. Sie haben sich entweder ganz verändert, wie Tschubais zum Beispiel, der unser Energiechef – für die russische Energie jetzt zuständig – ist und eine sehr zweideutige Figur geworden ist. Und sobald es um irgendwelche politischen Fragen ging, zum Beispiel um den Krieg in Tschetschenien und so, wurden sie sofort ganz – wie soll man sagen, also als seien diese Fragen mit der Wirtschaft gar nicht verbunden, als sei es etwas wie politische Entscheidungen, und für politische Entscheidungen sind sie nicht zuständig. Und es ist überhaupt jetzt eine Situation auch mit unserer Regierung: Sie sagen ja die ganze Zeit, sie sind ja nur Manager. Sie sind für keine politischen Entscheidungen zuständig. Also das heißt, ohne Opposition in der Duma wählt man den Präsidenten und seine Administration, die für die politischen Entscheidungen zuständig sind. Und das wird uns dazu führen, dass – also wir haben keine richtige Gegenkandidatur, es werden wahrscheinlich nur irgendwelche formellen Gegner sein – diese Wahlen nur den Schein einer Wahl haben. Und ansonsten glaube ich, bis 2008 wird bei uns die Machtfrage nicht wieder auftauchen.
Adler: Wenn wir jetzt die Demokratien unter Jelzin und Putin vergleichen – wir erinnern uns: Putin ist angetreten mit fast schon den drohenden Worten von der 'Diktatur des Gesetzes' –, hat sich die Demokratie in dieser Zeit seit Jelzin weiterentwickelt, oder hat sie gelitten?
Scherbakowa: Mit den Gesetzen sah es in Russland immer sehr kompliziert aus. Viele Gesetze sind einfach schlecht geschriebene Gesetze, und es sind ganz starke Scheren, wie wir in Russland sagen, zwischen dem, was eigentlich in den Gesetzen geschrieben steht und wie sie ausgeführt werden – vor allem von der Macht selbst, die diese Gesetze produziert. Leider hat sich die Situation so entwickelt, dass die Menschen – und gerade in dieser Vergangenheit Russlands sieht man ja, wie wenig Möglichkeiten ein Individuum hatte, wie seine Freiheit begrenzt worden war. Von der Freiheit des Individuums hat man in diesem Land immer noch – glaube ich – sehr wenig Vorstellungen, also sowohl oben als auch unten. Diese Unfreiheit, an die alle eigentlich sich gewöhnt haben, schon seit Jahrzehnten, sie produziert das, dass diese Erwartungen wiederum an eine Person delegiert werden, an diese autoritäre Person.
Adler: Die Akademie der Wissenschaften, insbesondere Olga Kryschtanowskaja, hat in diesem Jahr ja ganz erschreckende Zahlen vorgelegt. Sie hat vorgelegt, dass sich innerhalb der russischen Machtstrukturen, das heißt in den Ministerien, in den Administrationen, auch unter den Generalgouverneuren, eine unerhörte und immer weiter zunehmende Zahl von so genannten 'Schulterklappenträgern', also von ehemaligen oder immer noch aktiven Militärs befindet beziehungsweise eben auch von Geheimdienstmitarbeitern. Da muss man an dieser Stelle ja wirklich fragen, anknüpfend an das, was Sie gerade gesagt haben: Haben die russischen Menschen nicht gelernt aus ihrer Vergangenheit? Ist es jetzt also genau das, was uns wieder droht, dass eben der Geheimdienst sozusagen die Hand auf allem hat, dass es eben doch wieder schleichend zu einer neuen Diktatur kommt?
Scherbakowa: Jetzt wieder zurück an das, wo wir angefangen haben: In jeder russischen Familie gab es die und die, und es gab auch die Figuren, die erst mal auch Täterrolle gespielt haben und dann zu Opfern geworden sind, und dann wiederum zu Tätern. Das war ein militärischer Staat, das war ein totalitärer Staat, wo die Präsenz der Armee, die Präsenz der Staatssicherheit enorm groß war. Diese Menschen sind nicht verschwunden nach diesem Zusammenbruch dieses Systems. Wer waren die Verlierer der ersten Stunde? Das waren die Menschen aus der Staatssicherheit, und zwar Tausende, Tausende und Tausende. Und das sind im allgemeinen Menschen der Ordnung, wie man auch diese Ordnung versteht. Und die Menschen, die irgendwie sozusagen als fähige Bürokraten oft – oder unfähige Bürokraten – irgendwelche Erfahrung gehabt haben. Und das hat nicht erst zu Putins Zeiten angefangen. Das sahen wir schon viel, viel früher zu unserem Erstaunen, wie sie die ganzen demokratischen Mediensysteme aufgebaut haben, ihre eigenen Sicherheitskräfte aus den ehemaligen Staatssicherheitspersonen rekrutiert haben. Und wir dachten, das ist ja doch nicht möglich, wie kann das moralisch sein? Das sind ja eben ganz fähige Menschen. Und diese fähigen Menschen haben wir nun überall.
Adler: Ein möglicher Herausforderer für Putin, nicht bei diesen, bei den Wahlen 2004, sondern möglicherweise im Jahr 2008, ist jetzt in den vergangenen Monaten in Erscheinung getreten: Michail Chodorkowskij, Ölmanager, einer der reichsten Männer Russlands, angeblich überhaupt der reichste Mann, ein moderner, erfolgreicher Manager, der sich um Transparenz in der Unternehmensführung bemüht, der bei den anstehenden Duma-Wahlen, bei den jetzigen Duma-Wahlen die Oppositionsparteien von Geeintes Russland unterstützt, also die Jabloko, die SPS und angeblich wohl auch die Kommunisten. Abgesehen davon, dass Wladimir Putin nur noch eine Amtszeit absolvieren kann: Wäre ein Mann wie Chodorkowskij tatsächlich eine Alternative für Russland, oder würden dann die so genannten Oligarchen das Ruder übernehmen? Würde Russland dadurch Schaden erleiden?
Scherbakowa: Das ist eine komplizierte Frage. Erstens glaube ich, das ist eine Illusion, und in meinen Augen ist das überhaupt eher ein Spiel und ich weiß nichts von diesen ganzen Gerüchten, wo der Ursprung dieser Gerüchte ist, dass Chodorkowskij unbedingt als Präsident gewählt werden soll. Ich befürchte, es riecht sehr nach Provokation und nach den alten Zeiten, also um ein bisschen wiederum vor dieser Wahlkampagne die Menschen gegen die Oligarchen dazu einzustimmen, die sowieso die Oppositionsparteien noch unterstützen. Ich glaube, das war nicht der Ernst dieser Opposition und ich glaube nicht, dass Chodorkowskij in Wirklichkeit, wenigstens jetzt, sich Gedanken darüber machen könnte, zum Präsidenten gewählt zu werden. Für mich wäre das eine Alternative, aber diese Zahl von Menschen, die eigentlich eher für ihn stimmen würde, das ist eine ganz, ganz kleine Minderheit, weil Oligarchen von der Macht zu den Erzfeinden dieses Landes geworden sind. Und egal, wie unsympathisch viele von denen für mich persönlich sind, nicht sie sind sozusagen das Böse in diesem Land, sondern gerade dieser Apparat, diese Bürokratie, die sich immer wieder regeneriert mit neuen und alten Staatssicherheitskräften und Militärpersonen. Ich glaube, mit Michail Chodorkowskij ist folgende Geschichte passiert: Er wollte ja keine Konfrontation mit der Macht. Er war derjenige von den Oligarchen, der sich überhaupt nicht in die Politik eingemischt hat, der immer sehr loyal zur Macht stand, ein Typ, der so ist, wie er sich auch gab und was er alles gesagt hat als absoluter kultivierter Technokrat, also völlig anders als Gussinskij oder Beresowskij, eine andere Generation, eine neue Kreatur, also keine Konfrontation mit der Macht, sondern eine fruchtbare Zusammenarbeit. Aber es ist Russland. Und ich glaube, nicht nur Russland – es ist nicht nur Russland, aber Russland ganz besonders: Wenn der Mensch so reich und einflussreich wird wie Chodorkowskij, dann ist es unvermeidbar, dass das von der Politik nicht abgetrennt werden kann. Er hat das wahrscheinlich anfangs nicht begriffen, aber das Leben war so. Du kannst in Russland leider nichts bewirken, wenn du dich nicht in die Politik einmischst. Aber sobald er das wahrgenommen hat, und sobald er versucht hatte, sich irgendwie in die gesellschaftlichen Strukturen einzubringen, indem er Stiftungen aufgebaut hat – er hat übrigens angefangen, ganz gute Projekte zu unterstützen, 'Offenes Russland' heißt diese Stiftung, indem er begriffen hat, dass das in einer Demokratie nicht geht, es müssen in einer Demokratie die anderen Parteien auch unterstützt werden; das schadet dem Business, das schadet der freien Marktwirtschaft und so –, sofort hat er es von der Macht abbekommen. Natürlich sind alle unsere Neureichen und Superreichen nicht mit irgendwelchen schönen Mitteln an diesen Reichtum gekommen. Aber was man jetzt vielleicht will, also diese neue Enteignung und diese angebliche Verteilung, wird nur wieder zur Bereicherung des Apparates führen und zur Zerstörung der Anfänge von der Marktwirtschaft. Das ist meine Überzeugung.
Adler: Irina Scherbakowa, Historikerin und Autorin ihres neuen Werkes "Russlands Gedächtnis" im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Frau Scherbakowa, Sie sind zur Buchmesse gekommen, auf der es ja in diesem Jahr ein ganz besonders großes Interesse an Russland gibt. Wenn Sie Ihren einheimischen Buchmarkt beurteilen sollten, wo hat er sich zum Guten verändert? Wo gibt es Lücken, die möglicherweise Verlage oder sogar auch Autoren noch nicht nutzen?
Scherbakowa: Erstens glaube ich, dass bei uns der Büchermarkt eine der ersten Errungenschaften der neuen Zeit war, denn ich kann mich noch sehr, sehr gut an die Schlangen vor dem Bücherladen erinnern, wo ein Buch zu bekommen, das man sich wünschte, kaum möglich war. Und das war wirklich die Öffnung dieses Feldes und diese Anfänge, vor denen alle irgendwelche Schrecken bekommen haben und gesagt haben: Ja, unser Russland ist das lesendste Land in der Welt, und viele unserer Leser werden verschwinden, denn die werden ja nur die Trivialliteratur lesen, die werden nur die englischen Krimis lesen, also die werden ja gar nichts Schönes lesen wie die kleine Putzfrau, die mit 'Anna Karenina' sitzt in der Ruhepause, also so was Wunderschönes wird niemals wieder passieren. Ja, vielleicht auf diese Weise nicht, denn das ist eine Marktgesellschaft und vieles verändert sich, also auch der Büchermarkt. Und es reduziert sich auch, und es wird wirklich viel Trivialliteratur verlegt, es wird alles ziemlich schnell verlegt, was auch im Westen verlegt wird, auch die westliche Bestseller. Es gibt Gott sei Dank freie alternative Verlage, die auch gute Literatur bei uns veröffentlichen, Oppositionsliteratur – trotz aller Versuche unserer Ideologen, die nahe an der Macht stehen, diese oder jene als Pornoautoren zu denunzieren, also sprich die ganze Kampagne gegen Sorokin und so. Ich bin kein Fan von ihm, aber wenn so etwas passiert, wird man natürlich automatisch zum Fan. Was während der Moskau-Büchermesse sich abspielt, das ist so ein Gedränge von Menschen. Deshalb glaube ich, dass die Menschen nach wie vor ziemlich viel in diesem Land lesen, und auch gute Bücher lesen.
Adler: Was lesen Sie selbst?
Scherbakowa: Ich habe in der letzten Zeit, gerade gestern abend abgeschlossen, ein sehr schönes kleines Buch von einem Autoren, der leider vor zehn Jahren schon gestorben ist, gelesen. Und das ist eine posthume Entdeckung: Leonid Zypkin, und sein Buch heißt 'Sommer in Baden'. Und er recherchiert ein bisschen diese Zeit im Leben von Dostojewski und seiner Frau, wie sie nach der Heirat nach Deutschland kommen und wo er alles verspielt. Ich nehme an, dass wahrscheinlich irgendein deutscher Verlag schon damit beschäftigt ist, dieses Buch zu übersetzen und zu verlegen. Es ist eine sehr gute Aufarbeitung von Dostojewskis Geschichte. Es ist eine Schlüsselfigur in der russischen Kultur – Dostojewski -, und sehr interessant mit Deutschland verbunden - mit dieser Atmosphäre in Baden, wo er alles, was sie haben, ja verspielt.