Dieter Segert hat ein Buch wider den Zeitgeist geschrieben. Provokativ hält der Professor für Politikwissenschaften an der Universität Wien gleich zu Beginn fest: Interessant seien nicht die Panzer, die das Experiment des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" auf brutale Weise beendeten, sondern die Utopien und "kühnen Programme", die damals die gesamte tschechoslowakische Gesellschaft durchdrangen. Dieter Segert:
"Dieses traumatische Ereignis ist natürlich in den Erinnerungen, übrigens auch westdeutscher Zeitgenossen, enthalten, aber mich interessiert, warum der Prager Frühling überhaupt zustande kam. Das heißt also wie es möglich war, dass eine solche reformorientierte Politik innerhalb dieses doch scheinbar so starren Systems sich hat entwickeln können, und das hat es ja über mehrere Jahre."
Der Autor wurde 1952 in Salzwedel in der DDR geboren, war also 1968 gerade mal 16 Jahre alt. Den Prager Frühling lernte Dieter Segert während seines Philosophiestudiums zunächst in Berlin und dann in Moskau nur in der offiziellen, staatssozialistischen Variante kennen und die hieß: "Keine Fehlerdiskussionen, die nützen nur dem Klassenfeind." Nachdenklich wurde Segert allerdings Ende der achtziger Jahre, als er - noch vor dem Herbst '89 - zusammen mit anderen Reformsozialisten die SED von innen aufmischen wollte.
Aus dieser Perspektive vergleicht er seine reformsozialistischen Hoffnungen des Jahres 1989 mit denen der Generation vor ihm, der Generation des Prager Frühlings. Dazu führte Segert lange Gespräche mit Michal Reiman, einem der Prager Aktivisten. Die versuchten damals eine Quadratur des Kreises: Sie wollten einerseits die Demokratie innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei fördern, gleichzeitig aber die führende Rolle der Partei erhalten wissen. Was aus dieser Idee geworden wäre, wenn die Panzer nicht gekommen wären, wäre äußerst spannend gewesen.
Denn die Initiative zur Demokratisierung ging von oben aus - ebenso wie von unten. Allerdings, so schreibt Dieter Segert, nicht immer in die gleiche Richtung, und "manchmal ein bisschen durcheinander". Der tschechoslowakische 1.Mai 1968 war ein riesiges Happening mit witzigen Parolen und bunten Transparenten. Ein ganzes Volk stand hinter seiner kommunistischen Partei. Eine solche Einheit von Partei und Gesellschaft gab es niemals sonst in der kommunistischen Geschichte, nicht vorher und nicht hinterher. Heute dagegen sehen viele Tschechen und Slowaken den Prager Frühling mit gemischten Gefühlen. Dieter Segert:
"Das halte ich für ein großes Problem für die politische Kultur dieser Gesellschaft. Denn dahinter, mit den gemischten Gefühlen, steht ja konkret, dass der Prager Frühling betrachtet wird nicht als etwas Eigenes, was durch die eigene Gesellschaft ermöglicht wurde, sondern als irgendein für die Gesellschaft eigentlich uninteressanter Kampf zwischen zwei Gruppen von Kommunisten um die Macht. Und die Kommunisten hätten, so ist diese Vorstellung heute, mit der tschechoslowakischen Nation eigentlich nichts zu tun. Das finde ich das Bedauerliche. Eine Art von Geschichtsamnesie, ein Vergessen der eigenen Geschichte, von einer ausgelassenen Möglichkeit, auf die eigenen Leistungen stolz zu sein."
Für Segert markiert das Jahr '68 die Geburt der Zivilgesellschaft - im Westen wie im Osten Europas. Insofern sieht er durchaus Kontinuitäten zum Jahr '89:
"Das würde aber voraussetzen, und das ist offensichtlich für einige, die heute in der Öffentlichkeit tonangebend sind, schwer zu akzeptieren, dass man sagt, die Zivilgesellschaft ist auch unter Mitwirkung von Tausenden von Mitgliedern der kommunistischen Partei damals entstanden und von Reformsozialisten. Das ist die Hürde, über die man springen muss, wenn man den Prager Frühling als Tradition der heutigen Entwicklung akzeptieren wollte."
Segerts Buch ist äußerst materialreich und vielfältig strukturiert: Das Herzstück bilden die Gespräche mit Michal Reiman, die der Autor nach thematischen Schwerpunkten geordnet sowie mit einleitenden Kommentierungen versehen hat. Zum besseren Verständnis hat Segert wichtige Dokumente, Aktionsprogramme und Reden des Prager Frühlings sowie die Lebensläufe der wichtigsten Reformer beigefügt. Auf diese Weise ist ein Buch entstanden, das sich nicht nur an Experten richtet, sondern den Charakter eines Lesebuches hat.
Auch auf die Frage, wann der Prager Frühling begonnen habe, gibt Segert eine überraschende Antwort: Nicht 1967, auch nicht während der "kleinen Liberalisierung" des Jahres '63, sondern in der Zeit der Stalinismus: denn gerade "geläuterte Stalin-Anhänger" seien aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen zu den entschiedensten Reformern geworden.
Dem Politikwissenschaftler geht es darum, am Beispiel des Prager Frühlings den Wandel innerhalb des Staatssozialismus darzustellen: vom Stalinismus der frühen fünfziger Jahre über die Reformhoffnungen 1968 bis hin zum Jahr '89, als der Kommunismus zu einem - wie Segert schreibt - "ganz und gar verbrauchten ideologischen Begriff" geworden war.
Segert fordert dazu auf, die Wandlungsprozesse innerhalb Osteuropas zur Kenntnis zu nehmen: Der Staatssozialismus sei sowohl Ausdruck einer politischen Diktatur als auch einer nachholenden Modernisierung gewesen. Aus diesem Grund lehnt der Politologe auch die Totalitarismus-Theorie ab: Denn wer von einer "omnipotenten Macht" ausgehe, könne weder das Ende noch den Wandel Osteuropas beschreiben.
Dieter Segert: Prager Frühling
Gespräche über eine europäische Erfahrung
Braumüller Verlag
"Dieses traumatische Ereignis ist natürlich in den Erinnerungen, übrigens auch westdeutscher Zeitgenossen, enthalten, aber mich interessiert, warum der Prager Frühling überhaupt zustande kam. Das heißt also wie es möglich war, dass eine solche reformorientierte Politik innerhalb dieses doch scheinbar so starren Systems sich hat entwickeln können, und das hat es ja über mehrere Jahre."
Der Autor wurde 1952 in Salzwedel in der DDR geboren, war also 1968 gerade mal 16 Jahre alt. Den Prager Frühling lernte Dieter Segert während seines Philosophiestudiums zunächst in Berlin und dann in Moskau nur in der offiziellen, staatssozialistischen Variante kennen und die hieß: "Keine Fehlerdiskussionen, die nützen nur dem Klassenfeind." Nachdenklich wurde Segert allerdings Ende der achtziger Jahre, als er - noch vor dem Herbst '89 - zusammen mit anderen Reformsozialisten die SED von innen aufmischen wollte.
Aus dieser Perspektive vergleicht er seine reformsozialistischen Hoffnungen des Jahres 1989 mit denen der Generation vor ihm, der Generation des Prager Frühlings. Dazu führte Segert lange Gespräche mit Michal Reiman, einem der Prager Aktivisten. Die versuchten damals eine Quadratur des Kreises: Sie wollten einerseits die Demokratie innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei fördern, gleichzeitig aber die führende Rolle der Partei erhalten wissen. Was aus dieser Idee geworden wäre, wenn die Panzer nicht gekommen wären, wäre äußerst spannend gewesen.
Denn die Initiative zur Demokratisierung ging von oben aus - ebenso wie von unten. Allerdings, so schreibt Dieter Segert, nicht immer in die gleiche Richtung, und "manchmal ein bisschen durcheinander". Der tschechoslowakische 1.Mai 1968 war ein riesiges Happening mit witzigen Parolen und bunten Transparenten. Ein ganzes Volk stand hinter seiner kommunistischen Partei. Eine solche Einheit von Partei und Gesellschaft gab es niemals sonst in der kommunistischen Geschichte, nicht vorher und nicht hinterher. Heute dagegen sehen viele Tschechen und Slowaken den Prager Frühling mit gemischten Gefühlen. Dieter Segert:
"Das halte ich für ein großes Problem für die politische Kultur dieser Gesellschaft. Denn dahinter, mit den gemischten Gefühlen, steht ja konkret, dass der Prager Frühling betrachtet wird nicht als etwas Eigenes, was durch die eigene Gesellschaft ermöglicht wurde, sondern als irgendein für die Gesellschaft eigentlich uninteressanter Kampf zwischen zwei Gruppen von Kommunisten um die Macht. Und die Kommunisten hätten, so ist diese Vorstellung heute, mit der tschechoslowakischen Nation eigentlich nichts zu tun. Das finde ich das Bedauerliche. Eine Art von Geschichtsamnesie, ein Vergessen der eigenen Geschichte, von einer ausgelassenen Möglichkeit, auf die eigenen Leistungen stolz zu sein."
Für Segert markiert das Jahr '68 die Geburt der Zivilgesellschaft - im Westen wie im Osten Europas. Insofern sieht er durchaus Kontinuitäten zum Jahr '89:
"Das würde aber voraussetzen, und das ist offensichtlich für einige, die heute in der Öffentlichkeit tonangebend sind, schwer zu akzeptieren, dass man sagt, die Zivilgesellschaft ist auch unter Mitwirkung von Tausenden von Mitgliedern der kommunistischen Partei damals entstanden und von Reformsozialisten. Das ist die Hürde, über die man springen muss, wenn man den Prager Frühling als Tradition der heutigen Entwicklung akzeptieren wollte."
Segerts Buch ist äußerst materialreich und vielfältig strukturiert: Das Herzstück bilden die Gespräche mit Michal Reiman, die der Autor nach thematischen Schwerpunkten geordnet sowie mit einleitenden Kommentierungen versehen hat. Zum besseren Verständnis hat Segert wichtige Dokumente, Aktionsprogramme und Reden des Prager Frühlings sowie die Lebensläufe der wichtigsten Reformer beigefügt. Auf diese Weise ist ein Buch entstanden, das sich nicht nur an Experten richtet, sondern den Charakter eines Lesebuches hat.
Auch auf die Frage, wann der Prager Frühling begonnen habe, gibt Segert eine überraschende Antwort: Nicht 1967, auch nicht während der "kleinen Liberalisierung" des Jahres '63, sondern in der Zeit der Stalinismus: denn gerade "geläuterte Stalin-Anhänger" seien aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen zu den entschiedensten Reformern geworden.
Dem Politikwissenschaftler geht es darum, am Beispiel des Prager Frühlings den Wandel innerhalb des Staatssozialismus darzustellen: vom Stalinismus der frühen fünfziger Jahre über die Reformhoffnungen 1968 bis hin zum Jahr '89, als der Kommunismus zu einem - wie Segert schreibt - "ganz und gar verbrauchten ideologischen Begriff" geworden war.
Segert fordert dazu auf, die Wandlungsprozesse innerhalb Osteuropas zur Kenntnis zu nehmen: Der Staatssozialismus sei sowohl Ausdruck einer politischen Diktatur als auch einer nachholenden Modernisierung gewesen. Aus diesem Grund lehnt der Politologe auch die Totalitarismus-Theorie ab: Denn wer von einer "omnipotenten Macht" ausgehe, könne weder das Ende noch den Wandel Osteuropas beschreiben.
Dieter Segert: Prager Frühling
Gespräche über eine europäische Erfahrung
Braumüller Verlag