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Demütigung und Ohnmacht
Tradierte Schattenseiten von Politik, Justiz und Öffentlichkeit

Die Neuzeit-Historikerin Ute Frevert hat sich mit der Erforschung von Gefühlen einen Namen gemacht. In ihrem neuen Buch geht es um "Die Politik der Demütigung – Schauplätze von Macht und Ohnmacht". Sie zeichnet eine Kontinuität von Schandstrafen im Mittelalter zu Hatespeech im globalisierten Internet nach.

Von Sandra Pfister | 20.11.2017
    Gravur von William Hogarth (1697 - 1764). Man sieht einen Pranger.
    Der Pranger, ein Schauplatz von Macht und Ohnmacht.Gravur von William Hogarth (1697 - 1764) (imago stock&people / Gravur von William Hogarth (1697)
    Ehre - der Begriff ist in unserer Gesellschaft fast aus der Mode gekommen - außer, wenn wir auf ewig-gestrige Brachialphänomene wie "Ehren-Morde" abheben. Eine klare Distanzierung von unserer Vergangenheit, wie Ute Frevert klar macht:
    "Alle Mitglieder der vormodernen Gesellschaften hielten auf ihre Ehre große Stücke. Nur deshalb konnten Beleidigungen und Schandstrafen so empfindlich wirken."
    Das machte man sich bis weit ins 20. Jahrhundert auch noch diplomatisch zunutze. Politische Demütigungen wurden gezielt eingesetzt und zu politischen Affären hochgespielt, wie die Autorin ausgiebig am Beispiel der chinesisch-europäischen Beziehungen 1901, nach dem Boxeraufstand, beschreibt; damals versuchten die Europäer um jeden Preis, einen formalen "Kotau" vor dem chinesischen Kaiser zu vermeiden.
    Frevert stützt sich weitgehend auf deutsche, aber auch auf englische und französische Quellen. Alle sind sich darin einig, dass sich geschlechtsspezifische Demütigungsgesten in allen drei Gesellschaften nachweisen lassen.
    "Das Haarescheren, seit der Antike bekannt, traf [...] vornehmlich Frauen und wurde offenbar als in hohem Maße beschämend empfunden."
    Der Pranger kennt kein Geschlecht
    Angeprangert hingegen wurden im 18. und 19. Jahrhundert Männer und Frauen gleichermaßen, wie die Historikerin in vielen Anekdoten schildert.
    "1815 brachte der Abgeordnete Michael Taylor einen Gesetzentwurf im britischen Unterhaus ein, der die Abschaffung des Prangers vorsah. Während das Unterhaus zustimmte, zeigten sich die Mitglieder des Oberhauses gespalten. Obwohl es heftige Kritik an einer Strafe hagelte, deren Wirkung von den Launen des 'Mobs' abhänge, schloss sich die Mehrheit der Meinung des Lordkanzlers an, der den Pranger zumindest für Meineid und Betrug beibehalten wollte. Zwar kam er kaum noch zum Einsatz, doch schlug des Schandpfahls letzte Stunde erst 1837."
    Auf den ersten Blick liest sich die Geschichte der Neuzeit wie ein allmähliches, aber konsequentes Abrücken von Ehren- oder Schandstrafen. Frevert aber räumt mit diesem Eindruck gleich wieder auf und verweist darauf, dass mit Napoleon demütigende Strafen wie das öffentliche Ausstellen Verurteilter sogar wieder verschärft wurden, um effizienter abzuschrecken.
    In Preußen waren Schandstrafen im 18. und 19. Jahrhundert offenkundig weniger verbreitet; stattdessen setzte dieser Staat auf körperliche Züchtigung für alle möglichen Vergehen. Besonders eindrücklich nachzeichnen lässt sich dies am Bereich der öffentlichen Beschämung in Schulen, wo Schüler systematisch mit dem Rohrstock verprügelt oder - dann doch wieder zur Beschämung - mit oder ohne Eselskappe in die Ecke gestellt wurden, Blick zur Wand.
    Die Begrifflichkeiten sind nicht präzise genug
    Im Bereich dieser recht eindeutigen "anprangernden" Strafen bewegt sich Frevert auf sicherem Terrain. Historisch weniger leicht fassbar und etwas verschwommener fällt ihr Begriff des "Zeitungsprangers" aus, unter den die Autorin öffentliche Beschimpfungen subsumiert, besonders effizient in der Weimarer Republik.
    "Besonders der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert sah sich einem wahren Trommelfeuer öffentlicher Beleidigungen und Demütigungen ausgesetzt. Er erhielt Unmengen persönlicher Schmähbriefe, die ihn als 'Ochsen', 'Lumpenplunder' und 'alte versoffene Sau' beschimpften und ihm prophezeiten, er würde demnächst 'zerhackt', 'übern Haufen geschossen' und seine Leiche 'mit Scheiße beschmiert'."
    Hier zeigt sich eine Stärke und Schwäche des Frevert’schen Umgangs mit den Begrifflichkeiten: Scham und Beschämen, Pranger und Anprangern werden mal eng und mal weit definiert, mal als Institutionen oder institutionelle Handlungen begriffen, mal als gesellschaftliche Phänomene. Dadurch erfährt der Leser viel über den Zeitgeist, zugleich aber wird die historische Analyse latent unscharf.
    Das ist umso riskanter, als die Historikerin Frevert sich weit in die Gegenwart bewegt; nicht selten im Stile einer zuspitzenden Kommentatorin:
    "Heutige Eltern bringen ihre hyperaktiven, unaufmerksamen, widerborstigen Sprösslinge zu Psychiatern und Psychotherapeuten. Anstelle öffentlicher Beschämung winken Medikamente und Therapiesitzungen."
    Das liest sich gut und geistreich. Überhaupt gewinnt das Buch für alle Nicht-Historiker an Relevanz und Verkäuflichkeit, je mehr es den Bogen in die Gegenwart spannt. Aber hier scheint auch die Problematik des Buches auf: Gerade die Deutungen der aktuellen Entwicklungen von "Shaming" im Internet und via WhatsApp gehen kaum über das hinaus, was man in anspruchsvollen Medien lesen oder in populärsoziologischen Untersuchungen finden kann.
    "Im Prinzip kann sich heute jeder und jede jederzeit mit Bild und Namen auf einer entsprechenden Plattform wiederfinden, als zu dick oder zu promiskuitiv, zu links oder zu rechts, als lesbisch oder schwul, als Steuersünder, Wasserverschwender oder Autobahnraser. Jeder Nutzer darf seine eigene Prangerliste anlegen und ins Netz stellen."
    Schon dieser Blick auf gezielte Demütigungen im Netz und auf Online-Mobbing unter Gleichaltrigen illustriert: Die sukzessive Abkehr von Demütigungsgesten seit der frühen Neuzeit ist bei weitem keine so konzise Erzählung, wie es scheint.
    Voyeuristische Fernsehformate sind "Entwürdigung im Konsens"
    Frevert illustriert das mit allerhand anekdotischen Hinweisen auf weitere Rückschläge, zum Beispiel auf die seit Jahren etablierten Fernsehformate wie "Dschungelcamp", "Big Brother" oder "Germany’s next Top Model". Die Autorin bezeichnet sie als "Entwürdigung im Konsens". Und selbst im amerikanischen Strafrecht soll Beschämen noch vor Missetaten abschrecken:
    "Nicht so sehr um Demütigung als um Beschämung geht es im November 2012 in Cleveland, Ohio. Dort steht Shena Hardin an einer belebten Kreuzung, vor sich ein Schild mit der Aufschrift: 'Nur eine Idiotin fährt auf dem Bürgersteig, um einen Schulbus zu überholen.' [...] wofür eine Richterin sie zu einer Geldstrafe und zum zeitweiligen Entzug des Führerscheins verurteilt [hat]. Damit nicht genug, verhängt sie das, was Amerikaner shame sanction nennen: eine Ehrenstrafe, die Hardin öffentlich als Idiotin brandmarkt [...]. Die Journalistin, die über den Fall berichtet, fühlt sich an das dunkle Mittelalter erinnert."
    Ute Frevert erzählt elegant, pointiert und packend. Sie nutzt auch eine breite Quellenbasis: neben Rechtsdokumenten und öffentlichen Publikationen auch Ratgeber und Selbstzeugnisse wie Briefe und Tagebücher. Vielen Historikern dürften dennoch ihre eklektische Methodik und ihre unklaren Begriffsdefinitionen aufstoßen.
    Für ein breiteres Publikum allerdings ist das Buch eine anregende und nachdenklich stimmende Lektüre.
    Ute Frevert: "Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht."
    S. Fischer Verlag, 326 Seiten, 25 Euro.