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Den Finger in der Wunde

"Beneš als Österreicher" - so heißt Jiri Grušas frecher Essay über den ehemaligen tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš. Und in Tschechien wird der Aufsatz gar nicht gern gelesen. Denn dort wird Beneš bis heute als Nationalheld verehrt.

Von Silja Schultheis | 04.07.2011
    "Wir sind die einzige Nation, die sich einen Sozialismus mit dem Stimmzettel in der Hand sozusagen besorgt hatte. Und das verheimlichen wir bis heute. Wir sind natürlich das Opfer des Historischen, der Umstände, der Deutschen, der Russen und so weiter. Aber dass wir daran selber beteiligt waren – das ist das Thema dieses Buches. Und in welcher Art und Weise."

    Jiri Gruša legt - in gewohnter Direktheit und erfrischend undiplomatisch - den Finger mitten in die Wunde: Mit seinem Buch "Beneš jako Rakušan" (Benes als Österreicher) rüttelt er derzeit gründlich am nationalen Selbstverständnis vieler Tschechen, für die der frühere Präsident, Edvard Beneš – und mit ihm die Beneš-Dekrete – bei aller Umstrittenheit nach wie vor unantastbar sind. Paradoxerweise, so Gruša, denn durch seine rückgratlose Haltung habe Beneš in den entscheidenden Momenten immer kapituliert – 1938, nach dem Münchener Abkommen auf Druck Hitlers und im Februar 1948, als er den Kommunisten die Machtübernahme in der Nachkriegstschechoslowakei ermöglichte:

    "Wie kann man es schaffen, einen zu einem verdienstvollen Mann zu deklarieren, wenn er zweimal kapituliert hat? Das war für mich das Enigma: Wie es uns Tschechen passiert ist, dieses salto historicale zu machen."

    Gruša geht es nicht darum, die Debatte um die Beneš-Dekrete neu aufzurollen. Die Dekrete sind bis heute für die meisten Tschechen eine wichtige nationale Bezugsgröße - auch und gerade als Selbstbehauptung gegen die scheinbar überdimensionale EU. Generell, so Gruša, war der Wunsch nach Vertreibung der Deutschen 1945 weit verbreitet und verständlich. Das kollektivistische Vorgehen von Beneš allerdings verurteilt er. Vor allem aber geht es dem tschechischen Dichter und ehemaligen Diplomaten in seinem Psychogramm, wie er das Buch nennt, darum, den ideologischen Ursprung der Dekrete zu analysieren.

    So beschreibt Gruša die frappierend ähnliche Herkunft und Sozialisierung von Edvard Beneš und Adolf Hitler – auch für deutsche Leser eine sehr aufschlussreiche Lektüre: Beide kamen aus kleinbäuerlichen Verhältnissen, und wuchsen – im heutigen Grenzgebiet zwischen Böhmen, Bayern und Österreich - nur 80 Kilometer voneinander entfernt auf, im ethnisch gemischten Habsburger Vielvölkerstaat. Beneš, geboren 1884, wurde ursprünglich auf den deutschen Namen Eduard getauft, Hitler wiederum hatte etliche tschechische Verwandte. Gruša nennt Hitler in seinem Buch daher auch konsequent Hydla oder Hudla.

    Als jungen Mann faszinierte Beneš die Idee des Vielvölkerstaats, dann aber setzte er kompromisslos auf die nationale Karte. Beneš' Ideologie des Nationalsozialismus – allerdings ohne die rassistische Komponente – war eine original böhmische: Die erste nationalsozialistische Partei der Welt wurde 1898 in Böhmen gegründet. Gruša schreibt:

    "Wenn Hudla das Fremdwort Copyright akzeptiert hätte, hätte er den Tschechen Tantiemen zahlen müssen. Und er hätte Beneš akzeptieren müssen. Dem gefiel die Wortverbindung 'Nationalsozialismus' nämlich seit seiner Jugend. Und auch später blieben Volk' und 'Nation' seine intimsten Begriffe."

    Jiri Gruša will mit seinem Buch in Tschechien eine neue Debatte über die jüngste Vergangenheit auslösen. Das ist ihm gelungen. Wie sensibel die Tschechen bis heute auf das Thema Beneš reagieren, zeigte jüngst der Kommentar von Staatspräsident Vaclav Klaus, der mit seiner nationalen Rhetorik die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung hinter sich hat. Als Gruša in einem Zeitungsinterview über sein neues Buch Beneš einen "Gartenzwerg der europäischen Geschichte" nannte, reagierte Klaus empört: Der in der Emigration lebende Gruša spiele sich als Weltbürger auf und habe nur Spott für seine Heimat übrig. Mit Reaktionen wie dieser hatte Gruša gerechnet:

    "Was mich überrascht hat, war, dass ich eher eine positive oder nachdenkliche Reaktion bekommen habe. Es wird gelesen, es wird geschrieben, also ich bekomme viel Post zu diesem Thema. Ich bin fast unfähig, das zu beantworten."

    Diese positive Kritik spiegelt einen Trend wieder, der seit einigen Jahren in Tschechien zu beobachten ist: Eine neue Generation von Schriftstellern, Filmemachern, Theaterregisseuren und Historikern setzt sich verstärkt mit der jüngeren Geschichte auseinander – verurteilt offen die Vertreibung der Sudetendeutschen und das Mitläufertum vieler Tschechen während des Kommunismus. Jiri Gruša hat mit seinem äußerst lesenswerten Essay einen wertvollen Impuls für diesen Vergangenheitsdiskurs geliefert. Besonders hilfreich ist Grušas Band dadurch, dass der Autor seine provokativen Thesen detailliert belegt, in einem umfangreichen Anmerkungsapparat. Damit hebt Gruša die Debatte auf eine sachliche Ebene - jenseits emotionaler Polemik, die in Tschechien leider allzu häufig den Diskurs bestimmt.

    Jiři Gruša: Beneš jako Rakušan ("Beneš als Österreicher") Barrister &Principal 2011, 152 Seiten, 10 Euro. ISBN: 978-8-087-47412-9