"Das Entscheidende an der hippokratischen Medizin, an dem Ethos, das da entstanden ist, ist eben, dass der Arzt nicht mehr dem verpflichtet war, was die jeweilige Stadtgemeinde, die Polis oder die jeweiligen Götter befahlen, sondern dass er die Orientierung seines ärztlichen Handelns an der Physis, an der Natur vorgenommen hat."
Auf Hippokrates geht die erste Sammlung medizinischer Texte zurück. Der antike Arzt erklärte Krankheiten naturphilosophisch aus einem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte. Diese Natur wieder ins Gleichgewicht zu bringen, war ärztliche Pflicht. Und zwar bei allen Menschen - Sklaven waren damals natürlich ausgenommen. Wie anders dagegen die Rassetheoretiker des späten 19. Jahrhunderts: Im Namen "lebenswerter" und "lebensunwerter" Natur müssten bestimmte Menschen eben sterilisiert oder gar - so damals der Zoologe und Arzt Ernst Haeckel - "mit einer kleinen Dosis Morphium" getötet werden. Dr. Walter Bruchhausen, Medizinhistoriker an der Universität Bonn:
"Während das bei Hippokrates etwas war, was zur Emanzipation von Menschen beigetragen hat, ist es eindeutig im späten 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen von Sozialdarwinismus und Rassenhygiene etwas, was zur Abwertung verschiedener Menschen aufgrund ihrer biologischen Eigenschaften geführt hat."
Immer lag ärztlichem Handeln ein bestimmtes Bild des Menschen zugrunde. So auch heute: Die Erkenntnisse der Hirnforschung haben eine Diskussion entfacht, ob der Mensch frei oder durch und durch determiniert ist. Und das Menschenbild der modernen Medizin wurzelt in der Analyse des Philosophen Rene Descartes, dass Geist und Körper getrennt, der Körper wiederum nichts weiter als ein mechanisch funktionierender Organismus sei. Krankheit ist dann lediglich eine Störung im Ablauf dieser Funktionen. Seither hat die Medizin große Erfolge erzielt. Und dennoch sieht die emeritierte Philosophin Annemarie Gethmann-Siefert darin ein Problem:
"Das Menschenbild der Medizin, funktionsgestörte Maschine, reicht, um eine funktionierende, zielführende hoch technisierende Wissenschaft zu entwickeln. Und dagegen sollte man auch im Interesse der Patienten keinen Piep sagen. Umgekehrt möchte ich aber, wenn ich mich in die Maschinerie herein begebe, mit überlegen, was will ich denn jetzt davon' …Ich bin nicht in der Weise unmündig, dass ich nur in eine Maschine herein geschoben und hinten geheilt heraus geschoben werde."
Der Blick auf den Menschen als "Körper-Maschine" macht ihn zum Objekt der Medizin. Die Folge, so Professorin Gethmann-Siefert, sei ein "Paternalismus" des Arztes, während der Patient nur eine untergeordnete, passive Rolle einnimmt. Ein Unbehagen an diesem nüchtern-aufgeklärten Blick wurde schon seit der Romantik artikuliert. Und im 20. Jahrhundert versuchte die "anthropologische Schule" der Medizin, den Menschen und seine Krankheiten "ganzheitlich" zu sehen.
"Das war vor allem Viktor von Weizsäcker mit der anthropologischen Schule der Medizin, die hier wieder das Subjekt in die Medizin einführen wollte, also die Reduktion zum Objekt, die einer naturwissenschaftlichen Sichtweise zwangsläufig zu eigen ist, wieder rückgängig machen wollte."
Krankheit also als Ausdruck einer leidenden Seele? Macht Krankheit gar Sinn, ist Symptom einer falschen Lebensform? Bis heute sind solche Vorstellungen populär. Für Gethmann-Siefert führt dies allerdings zur Aufweichung der Wissenschaft.
"Hier wird die Kompetenz des Arztes überzeichnet. Es kann niemand zielführendes Wissen auf dem ganzen Gebiet haben. Und wenn der Arzt, weil er sagt, er müsse das tun, das übernimmt und versucht, den Patienten als ganzen emphatisch in seinem Krankheitsgeschehen zu verstehen, dann frage ich mich, welche Lehr- und Lernbarkeit steckt dahinter? Ist das wissenschaftlich fundiertes Wissen? Ich sage, nein!"
Doch auch Annemarie Gethmann-Siefert möchte das herkömmliche Menschenbild der Medizin ergänzen. Für sie ist der Mensch ein biologisches Mängelwesen, das nur in Gemeinschaft mit anderen existieren kann. Es ist existenziell auf Hilfe angewiesen. Und Medizin ist die professionalisierte Form des solidarischen Handelns gegenüber einem anderen Menschen - und nicht gegenüber einer fehlerhaften Maschine.
"Der Mensch ist endlich, also bedürftig, und er braucht da, weil er nicht allmächtig ist, die Hilfe anderer Menschen. Und die Wissenschaft wird dann in diesem Konzept als eine solche Form gezielter Hilfeleistung aufgezogen."
Zwar hat der Arzt einen Wissensvorsprung gegenüber dem – bedürftigen - Patienten, doch darf diesem deshalb seine Entscheidungsfähigkeit nicht abgesprochen werden. Es geht also darum, die Mündigkeit des Patienten zu respektieren. Das sieht auch der Bonner Bioethiker Professor Dieter Sturma so, ohne allerdings Anleihen bei einem besonderen Menschenbild zu machen. Sondern weil der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, das seine eigenen rationalen Entscheidungen treffen kann, ist er autonom und darf, wie schon Immanuel Kant erkannte, nie von einem anderen bevormundet werden.
"Wir billigen jedem menschlichen Individuum zu, seine eigenen Projekte zu betreiben. Das heißt, es kann keine Stellvertretung für seine ethischen Anliegen geben, es sei denn, es liegen Erkrankungen vor oder im Fall von Kindern. Aber im Prinzip ist diese Form der Selbstbestimmung das, was mein ethisches Konzept bestimmt."
Selbst da, wo der Mensch nicht mehr selbst entscheiden kann, etwa im Falle einer Demenz oder am Ende seines Lebens, müssten Vorkehrungen getroffen werden, dass der Wille des Kranken beachtet wird. Denn nur dann könne das gewahrt bleiben, was Menschenwürde ist: die Freiheit, über sein eigenes Leben zu entscheiden.
"Für ärztliches Handeln bedeutet das, dass der sogenannte informed consens, also die informierte Zustimmungsfähigkeit, in allen Schritten zu berücksichtigen ist. Und das ist ja in Abschnitten des menschlichen Lebens, auch am Ende des Lebens sehr schwierig. Und da müssen wir Vorkehrungen treffen und diese ganze Erarbeitung der Zustimmungsfähigkeit ist noch im Fluss. Und da wird die Zustimmungsfähigkeit aufgewertet, wenn man auch an die Gesetzgebung zur Patientenverfügung denkt, dann ist sehr deutlich, dass der Patientenwille hier eindeutig im Vordergrund steht."
Auf Hippokrates geht die erste Sammlung medizinischer Texte zurück. Der antike Arzt erklärte Krankheiten naturphilosophisch aus einem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte. Diese Natur wieder ins Gleichgewicht zu bringen, war ärztliche Pflicht. Und zwar bei allen Menschen - Sklaven waren damals natürlich ausgenommen. Wie anders dagegen die Rassetheoretiker des späten 19. Jahrhunderts: Im Namen "lebenswerter" und "lebensunwerter" Natur müssten bestimmte Menschen eben sterilisiert oder gar - so damals der Zoologe und Arzt Ernst Haeckel - "mit einer kleinen Dosis Morphium" getötet werden. Dr. Walter Bruchhausen, Medizinhistoriker an der Universität Bonn:
"Während das bei Hippokrates etwas war, was zur Emanzipation von Menschen beigetragen hat, ist es eindeutig im späten 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen von Sozialdarwinismus und Rassenhygiene etwas, was zur Abwertung verschiedener Menschen aufgrund ihrer biologischen Eigenschaften geführt hat."
Immer lag ärztlichem Handeln ein bestimmtes Bild des Menschen zugrunde. So auch heute: Die Erkenntnisse der Hirnforschung haben eine Diskussion entfacht, ob der Mensch frei oder durch und durch determiniert ist. Und das Menschenbild der modernen Medizin wurzelt in der Analyse des Philosophen Rene Descartes, dass Geist und Körper getrennt, der Körper wiederum nichts weiter als ein mechanisch funktionierender Organismus sei. Krankheit ist dann lediglich eine Störung im Ablauf dieser Funktionen. Seither hat die Medizin große Erfolge erzielt. Und dennoch sieht die emeritierte Philosophin Annemarie Gethmann-Siefert darin ein Problem:
"Das Menschenbild der Medizin, funktionsgestörte Maschine, reicht, um eine funktionierende, zielführende hoch technisierende Wissenschaft zu entwickeln. Und dagegen sollte man auch im Interesse der Patienten keinen Piep sagen. Umgekehrt möchte ich aber, wenn ich mich in die Maschinerie herein begebe, mit überlegen, was will ich denn jetzt davon' …Ich bin nicht in der Weise unmündig, dass ich nur in eine Maschine herein geschoben und hinten geheilt heraus geschoben werde."
Der Blick auf den Menschen als "Körper-Maschine" macht ihn zum Objekt der Medizin. Die Folge, so Professorin Gethmann-Siefert, sei ein "Paternalismus" des Arztes, während der Patient nur eine untergeordnete, passive Rolle einnimmt. Ein Unbehagen an diesem nüchtern-aufgeklärten Blick wurde schon seit der Romantik artikuliert. Und im 20. Jahrhundert versuchte die "anthropologische Schule" der Medizin, den Menschen und seine Krankheiten "ganzheitlich" zu sehen.
"Das war vor allem Viktor von Weizsäcker mit der anthropologischen Schule der Medizin, die hier wieder das Subjekt in die Medizin einführen wollte, also die Reduktion zum Objekt, die einer naturwissenschaftlichen Sichtweise zwangsläufig zu eigen ist, wieder rückgängig machen wollte."
Krankheit also als Ausdruck einer leidenden Seele? Macht Krankheit gar Sinn, ist Symptom einer falschen Lebensform? Bis heute sind solche Vorstellungen populär. Für Gethmann-Siefert führt dies allerdings zur Aufweichung der Wissenschaft.
"Hier wird die Kompetenz des Arztes überzeichnet. Es kann niemand zielführendes Wissen auf dem ganzen Gebiet haben. Und wenn der Arzt, weil er sagt, er müsse das tun, das übernimmt und versucht, den Patienten als ganzen emphatisch in seinem Krankheitsgeschehen zu verstehen, dann frage ich mich, welche Lehr- und Lernbarkeit steckt dahinter? Ist das wissenschaftlich fundiertes Wissen? Ich sage, nein!"
Doch auch Annemarie Gethmann-Siefert möchte das herkömmliche Menschenbild der Medizin ergänzen. Für sie ist der Mensch ein biologisches Mängelwesen, das nur in Gemeinschaft mit anderen existieren kann. Es ist existenziell auf Hilfe angewiesen. Und Medizin ist die professionalisierte Form des solidarischen Handelns gegenüber einem anderen Menschen - und nicht gegenüber einer fehlerhaften Maschine.
"Der Mensch ist endlich, also bedürftig, und er braucht da, weil er nicht allmächtig ist, die Hilfe anderer Menschen. Und die Wissenschaft wird dann in diesem Konzept als eine solche Form gezielter Hilfeleistung aufgezogen."
Zwar hat der Arzt einen Wissensvorsprung gegenüber dem – bedürftigen - Patienten, doch darf diesem deshalb seine Entscheidungsfähigkeit nicht abgesprochen werden. Es geht also darum, die Mündigkeit des Patienten zu respektieren. Das sieht auch der Bonner Bioethiker Professor Dieter Sturma so, ohne allerdings Anleihen bei einem besonderen Menschenbild zu machen. Sondern weil der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, das seine eigenen rationalen Entscheidungen treffen kann, ist er autonom und darf, wie schon Immanuel Kant erkannte, nie von einem anderen bevormundet werden.
"Wir billigen jedem menschlichen Individuum zu, seine eigenen Projekte zu betreiben. Das heißt, es kann keine Stellvertretung für seine ethischen Anliegen geben, es sei denn, es liegen Erkrankungen vor oder im Fall von Kindern. Aber im Prinzip ist diese Form der Selbstbestimmung das, was mein ethisches Konzept bestimmt."
Selbst da, wo der Mensch nicht mehr selbst entscheiden kann, etwa im Falle einer Demenz oder am Ende seines Lebens, müssten Vorkehrungen getroffen werden, dass der Wille des Kranken beachtet wird. Denn nur dann könne das gewahrt bleiben, was Menschenwürde ist: die Freiheit, über sein eigenes Leben zu entscheiden.
"Für ärztliches Handeln bedeutet das, dass der sogenannte informed consens, also die informierte Zustimmungsfähigkeit, in allen Schritten zu berücksichtigen ist. Und das ist ja in Abschnitten des menschlichen Lebens, auch am Ende des Lebens sehr schwierig. Und da müssen wir Vorkehrungen treffen und diese ganze Erarbeitung der Zustimmungsfähigkeit ist noch im Fluss. Und da wird die Zustimmungsfähigkeit aufgewertet, wenn man auch an die Gesetzgebung zur Patientenverfügung denkt, dann ist sehr deutlich, dass der Patientenwille hier eindeutig im Vordergrund steht."