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Den Gefühlen auf der Spur

Unsere Emotionen haben eine evolutionäre Verankerung, aber wie sie entstehen, ist umstritten. Die Gefühlsebene und die kognitive Einschätzung müssen nach Auffassung der Forscher um eine weitere ergänzt werden: die Integrationsfähigkeit.

Von Bettina Köster | 04.07.2013
    "Lange Zeit hat man die Opposition aufgemacht, Vernunft hier, Gefühlswelt da und wer vernünftig handeln will, muss seine Gefühlswelt ausschießen und den logischen Vernunftapparat zu Geltung kommen lassen. Und hier hat sich das Bild verändert. Wir wissen heute, dass viele Alltagsentscheidungen wesentlich gefühlsbasiert sind."

    Man spricht auch von Bauchgefühlen, die den Menschen letztendlich die Richtung weisen: zum Beispiel bei der Wahl eines Studienortes. Man kann natürlich alle vernünftigen Kriterien mit einfließen lassen – die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Stadt treffen dann viele doch eher nach ihrem Gefühl. Weil ihnen beispielsweise die Mentalität des Rheinlands näherliegt als die in Norddeutschland.

    Um den Gefühlen auf die Spur zu kommen und sie wissenschaftlich zu definieren, geht Professor Newen in seiner Theoriebildung erst einmal von sogenannten Basisemotionen aus:

    "Basisemotionen sind Grundgefühle wie Angst, Ärger, Traurig sein oder auch freudig erregt sein. Diese Grundemotionen haben so etwas wie eine evolutionäre Verankerung, sie haben eine starke Funktion für unser elementares Überleben, aber auch das Entwickeln unserer menschlichen Handlungsfähigkeiten."

    Der Philosoph erläutert das an zwei Beispielen:

    "Ein Beispiel ist natürlich die Angst, die evolutionäre Funktion ist offensichtlich. Ich erkenne, dass etwas gefährlich ist, die Bewertung einer Situation, die implizit erfolgen kann, führt dazu, dass ich erstarre oder die Fluchtreaktion in Gang setze und das ist ein wichtiger Überlebensmechanismus. Freude setzt natürlich ein, wenn Kleinkinder in der sozialen Interaktion - das kennt man ja, das frühe soziale Lächeln, die soziale Interaktion - bestärkt wird und der andere Aspekt von Freude ist, dass man entdeckt, dass man eine gewisse Selbstwirksamkeit hat. Am Anfang, wenn die Kleinkinder sich bewegen lernen und ihre Arme für das Anstoßen eines Mobiles einsetzen können und merken, dass das gelingt, dann ist das sozusagen Spaß, Freude, weil man merkt, man kann selbst etwas erreichen."

    Mit diesen Basisemotionen arbeiten die Bochumer Philosophen und setzen sich ganz bewusst von zwei großen Kontrasttheorien ab. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert schlugen die Psychologen William James und Karl Lange vor, dass Emotionen nichts anderes seien als das Wahrnehmen von körperlichen Zuständen. Ihre Gefühlstheorie geht davon aus, dass Emotionen reines Fühlen und Erleben sind. Ihr Motto: Ich weine nicht, weil ich traurig bin, sondern ich bin traurig, weil ich weine. In dieser Theorie fehlen völlig die Aspekte, die zur Einschätzung einer Situation notwendig sind und damit auch ein Gefühl entstehen lassen, sagt Professor Newen.

    "Unsere Emotionen haben oft einen kognitiven Gehalt. Sagen wir, in der Philosophie, einen Denkinhalt, der wesentlich zu der Emotion hinzukommt."

    Beispiel Prüfungsangst:

    "Sie können keine Prüfungsangst haben, wenn sie nicht eine Einschätzung haben, dass sie eine Prüfung vor sich haben, dass sie wichtig ist und dass sie Gefahr laufen, diese nicht zu bestehen. Also diese Aspekte der Einschätzung kommen dazu."

    Deshalb wurde die Gefühlstheorie im Laufe der Jahre von der kognitiven Theorie der Emotion abgelöst. Das heißt im Fallbeispiel der Prüfungsangst.

    "Wenn diese Einschätzung für Prüfungsangst konstitutiv ist, dann sagen die kognitiven Theoretiker, dann lässt sich das verallgemeinern. Eigentlich sind Emotionen immer wesentlich bestimmt durch diese Einschätzung. Der Rest ist eine unwesentliche Randbedingung."

    Aber diese kognitive Einschätzung, die die Gefühlsdimension nicht weiter berücksichtigt, ist nach Meinung der Bochumer Forscher ebenfalls unzureichend und überholt. Sie gehen in ihrer integrativen Verkörperungstheorie der Emotionen davon aus, dass die Gefühlsdimension und die kognitive Einschätzung vom Menschen verbunden werden müssen, um überhaupt eine Emotion zu haben.

    "Als Konsequenz heißt das, dass wir für ein tieferes Verstehen unseres Emotionserlebens systematisch auf die Suche gehen können nach solchen neuronalen Prozessen oder auch psychologischen Mechanismen, die für die Integration von Gefühlserleben und kognitiver Einschätzung zuständig sind. Wenn es Defizite im emotionalen Erleben gibt, dann kann es nach unserer Theorie zwei Ursachen geben - oder eigentlich drei. Es kann das Gefühlserleben fehlen, die kognitive Einschätzung fehlen oder aber - und das ist unsere Einschätzung der größte Fehlerherd - ist wahrscheinlich die mangelnde Integrationsfähigkeit."

    Die ist, so Professor Newen, beispielsweise bei antisozialen Persönlichkeiten zu beobachten.

    "Sie empfinden quasi kein Mitleid und haben auch viele andere emotionalen Dimensionen einfach nicht aktiviert im Vergleich zum normalen Menschen. Und wenn wir verstehen wollen, wo das Defizit besteht, dann scheint das nicht so zu sein, dass sie im Gefühlserleben per se weniger entwickelt sind. Und es ist auch nicht so, dass sie eine Einschränkung im kognitiven Bereich haben. Sie können sehr gut denken und Dinge einschätzen. Aber die Verbindung von kognitiver Einschätzung und Gefühlserleben, die genau das emotionale Erleben als Ganzes ausmacht, das scheint defizient zu sein. Das wäre jetzt die Hypothese."

    Da die Bochumer Philosophen in der Grundlagenforschung arbeiten, können sie noch nicht direkt Brücken zu möglichen Verhaltenstherapien bauen. Sie sind aber in einem regen Austausch mit Psychologen und Hirnforschern, um ihre theoretischen Hypothesen von empirischen Untersuchungen überprüfen zu lassen.

    "Also die Theorie ist wesentlich entwickelt worden mit Blick auf neuere Entwicklungen in den Neurowissenschaften, insbesondere mit Fallstudien zu dem Phänomen Ekel. Und wir haben auch den Anspruch, dass die Theorie noch spezifiziert, noch weiterentwickelt werden soll, dass genau diese Integrationsaspekte, die das Zusammen von Gefühlswelt und kognitiver Einschätzung herstellen, dass diese Dimension von Psychologie und Neurowissenschaften weiter untersucht werden sollen. Hier möchten wir gern auch Anregungen geben. Und wenn diese Theorie als Rahmen richtig ist, dann werden die wesentlichen emotionalen Störungen mit als integrative Störungen des Zusammenspiels dieser beiden Aspekte entdeckbar sein. Und wenn nicht, gut, dann sind wir auf der falschen Fährte."
    Noch gehen die Bochumer Philosophen aber davon aus, dass sie in der Theoriebildung einen neuen Meilenstein gesetzt haben.