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Den Wilden Westen mit der Seele suchen

Tief im Westen der deutschen Seele muss die Sehnsucht nach einem Land wohnen, in dem die Zeit stehen geblieben ist, und zwar irgendwo zwischen 1860 und 1880; nach einem Land, in dem es lichter Tag, finsterste Nacht, idealerweise aber 12 Uhr Mittags ist, High Noon.

Von Hartmut Kasper |
    Der Westen. Der Wilde Westen. Und die Literatur, die uns aus dieser fernen, in die Vergangenheit entrückten, unerreichbar gewordenen und daher utopischen Weltgegend Bericht erstattet, nennt man den "Western".

    Der Western hat als Literatur hierzulande keine Lobby. Im Breitwandkino lassen wir ihn gelten, aber ein Western-Manuskript auf dem Schreibtisch eines Suhrkamp-Lektors – würde da der Lektor nicht nach der "Versteckten Kamera" suchen? Man stelle sich vor, zwischen bewährten Schullektüren à la "Homo Faber", "Stiller" oder "Leben des Galilei" läsen wir Titel wie "River Cat und River Lady", "Devil´s Town" oder "Stadt der toten Hunde" - wäre das nicht ein unglaublicher Spaß?

    Aber solche Romane erscheinen, sie liegen in Zeitschriftenläden und Bahnhofsbuchhandlungen aus, werden dort wöchentlich zu vielen Zehntausenden gekauft - und sie werden gelesen.
    Geschrieben werden sie von dem Mann, der einer ganzen Heftroman-Reihe seit Jahrzehnten den Namen gibt, der mittlerweile der erfolgreichste Western-Autor der Welt, und einer der meist verkauften Autoren der deutschen Literaturgeschichte ist: G.F.Unger.

    Gert Fritz Unger wurde am 23. März 1921 in Breslau geboren.
    Unter dem Markenzeichen G.F.Unger sind mittlerweile über siebenhundert Romane erschienen, die ersten als Leihbuch, seit dem Ende der Leihbuch-Ära zunächst als Taschenbuch. Diese Taschenbücher werden später zum Heftroman gekürzt. Dank der vielen Nach- und Neuauflagen beläuft sich die Gesamtauflage seiner Werke auf über 250 Millionen. Für den Verlag ein mehr als einträgliches Geschäft - und Unger weiß, was er wert ist.

    Unger ist im Krieg in einem U-Boot zur See gefahren. Und diese Erfahrung speist seine frühen Erzählungen. Dann beginnt Unger zu recherchieren. Er beschafft sich Sachbücher, Landkarten, abonniert den "Arizona Highway" - eine Art amerikanischer "Merian" - und lässt sich von den Bildern inspirieren.
    Bilder sind bis heute eine wichtige Inspirationsquelle:

    Auf den Titelbildern der Bücher steht eine knappe Inhaltsvorschau, die sich manchmal wie eine Miniaturerzählung liest:

    Einer Frau zuliebe gibt Noel Keany den Kampf gegen die Gore Ranch auf und verlässt Texas. Dann begegnet er einer anderen Frau und begreift, dass man vor seinem Schicksal nicht davonreiten kann.

    Oder:

    San Angelo war eine Stadt des Teufels, und ihr Herrscher Barton Woodwade war der Teufel selber – so lange, bis ich mich entschloss, ihn zu vernichten.

    Oder:

    Für die schöne Isabella Sullivan soll Jim Coburne die Overland Stage nach Pecos Bend bringen. Es wird eine Fahrt mitten durch die Hölle.

    Überhaupt reiten die Reiter, Rancher und die Verlorenen Haufen Ungers häufiger durch die Hölle, treffen Höllenhunde und andere Vertreter der infernalischen Fauna, ab und an den Teufel selbst, der ja, wie man hört, nicht nur im Wilden Westen gerne Menschengestalt annimmt.

    Hölle und Teufel, Gut und Böse - Ungers Westen ist etwas wie ein moralisch sortierter Subkontinent der Literatur, auf dem archetypische Figuren um ihr Überleben kämpfen.

    Sein eigentlicher Star aber ist, wie Unger in einem Vorwort geschrieben hat, der Cowboy, denn der…

    …verkörpert auch heute noch die Idee der Ehre in ihrer einfachsten Form. Und diese Ehre wäre ohne christliche Liebe unmöglich. Ein Western - nun, dies ist oft auch der einsame Kampf eines einzelnen Mannes gegen ein Schicksal. So ein Mann muss sich entscheiden zwischen Gut und Böse und bewährt sich letztlich. Der Mythos des Western wird ewig bestehen bleiben, weil Ritterlichkeit und Ehre immer mehr verkümmern und die Menschen wenigstens in ihren Wünschen und Träumen noch etwas davon verspüren möchten.

    Der Dreh- und Angelpunkt des Ungerschen Westerns ist also die Bewährung.

    Unger wohnt in Weilburg hoch über der Lahn in einem Haus voller Uhren. In seinem Arbeitszimmer stehen das Modell eines Planwagens und das Modell eines U-Bootes. Ob es ihn nicht einmal gedrängt hat, den Westen, den Ort seines Abenteuers, leibhaftig zu bereisen? Seinen Westen würde er dort in der wirklichen Welt nicht finden. Denn Ungerland, dieser ideale Westen, ist wie die Schillersche Bühne eine moralische Anstalt: Historisch im Detail womöglich korrekt, aber auf dieser Bühne agieren Figuren, die ein ganz zeitloses Spiel spielen, das ewige, ernste Breslauer Kinder-Spiel vom Kampf des Guten gegen das Böse, vom Mut und von Bewährung in der Gefahr.

    Und um sich eine Bühne für dieses Abenteuer seines Lebens vorzustellen, braucht Unger keine Reise nach Amerika, es reicht ihm ein Blick aus dem Fenster und ein Spaziergang an der Lahn.