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Deniz Ohde: "Streulicht"
Langer Weg ins Licht

Die Ich-Erzählerin von Deniz Ohde hat früh das Gefühl, weniger wert als andere zu sein. Als Tochter eines deutschen Fabrikarbeiters und einer türkischen Mutter scheint ihr ein unterprivilegiertes Leben "ganz unten" vorherbestimmt. Doch gegen alle Widerstände gelingt ihr der soziale Aufstieg

Von Ingo Eisenbeiß | 18.08.2020
Ein Lastwagen passiert des Tor West des Stammwerkes der Farbwerke Hoechst AG in Frankfurt am Main.
Die Protagonistin wächst in einem Industrievorort von Frankfurt auf. Das Gefühl der Fremdheit bestimmt ihr Lebensgefühl. (picture-alliance / dpa / Bildarchiv)
Wenn Licht auf eine raue Oberfläche oder Staubpartikel in der Luft trifft, wird es von seiner ursprünglichen Bahn abgelenkt. Streulicht nennt man dieses Phänomen, das sinn- und titelstiftend ist für Deniz Ohdes Debütroman. Eine junge Ich-Erzählerin kehrt für eine Hochzeit von Freunden zurück in ihre Heimat und taucht ein in ihre Vergangenheit.
"Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde."
Unsichtbare Klassengrenzen, innere Barrieren
Fremdheit ist ein zentrales Motiv des Romans von Deniz Ohde. Obwohl die offenbar autobiografische Erzählerin an diesem Ort geboren wurde und aufwuchs, hatte sie nie wirklich das Gefühl, dazuzugehören. Beim Übertreten der Grenze des Ortes, einem Industrievorort von Frankfurt, wird ihr Blick nun noch einmal wie ein Lichtstrahl zurückgeworfen auf die Schauplätze ihrer Kindheit und Jugend. Sie wuchs auf als Tochter eines deutschen Industriearbeiters und einer türkischen Einwanderin. Nun, nachdem sie ihre Heimat zum Studieren in einer anderen Stadt verlassen hat, beginnt sich die mittlerweile erwachsene Erzählerin mit einem neuen Blick von außen an ihr früheres Ich zu erinnern:
"Ich war jemand, der den Müll rausbrachte und bedacht darauf war, genaue Terminabsprachen einzuhalten, ich war immer zu früh in der Schule. Ich erwartete, dass man mir die zehn Cent von letzter Woche zurückgab, und zahlte bei Verabredungen immer getrennt. Ich las die Ausschilderungen auf der Straße und die Informationstafeln an den Bahnhöfen, damit ich niemanden nach dem Weg fragen musste; vor allem las ich die Verbotsschilder. Ich ging nicht bei Rot über die Straße, ich hatte nur eine Muttersprache, ich hatte nur einen Geburtsort, ich hatte einen deutschen Nachnamen und zwei Vornamen, von denen der eine geheim war, ich rasierte mir die Monobraue, ich sagte : 'Nicht ich bin Türkin, sondern meine Mutter'".
Aus Scham verheimlicht sie ihre türkische Herkunft
Im Alltag benutzte die Erzählerin damals ihren "öffentlichen Namen, der ihr "Türen aufschloss" und es ihr "ersparte als ‚Freundin aus dem Ausland‘ bezeichnet zu werden". Ihr geheimer, türkischer Name hingegen ist einer der vielen Fallstricke, die sich zu einem Netz verdichten, das ihr Leben umschließt. Der 1988 in Frankfurt am Main geborenen Deniz Ohde gelingt es in ihrem Debüt eindrucksvoll, diese und weitere, versteckte Linien zu beleuchten, die schließlich das Raster bildeten, durch das die Erzählerin "in einen Abgrund fiel", wie sie es formuliert.
Dieser Identitäts-Abgrund, von dem Ohdes Roman spricht, das ist der gesellschaftliche Platz, der für Menschen mit einer migrantischen und unterprivilegierten Herkunft vorherbestimmt zu sein scheint. Aufgrund der Bildungsferne ihres Vaters wird ihr in der Schule nichts zugetraut, wegen der türkischen Herkunft ihrer Mutter wird sie von Mitschülern rassistisch beleidigt. Auf dem Gymnasium, auf das sie im Gegensatz zu ihrem Vater geht, war sie für ihren ignoranten Klassenlehrer immer nur eines der "ausländischen Kinder", das bloß zum Negativbeispiel taugte. Sie wurde schließlich nicht in die Oberstufe versetzt, holte aber später die zehnte Klasse an einer Abendschule nach und machte, deutlich später als ihre privilegierteren Jugendfreunde, ein exzellentes Abitur und begann zu studieren.
Doch immer, so konstatiert die Erzählerin in ihrem Bericht, wird der aufstrebenden Tochter aus sogenannten einfachen Verhältnissen selbst die Schuld zugeschrieben für ihren abgebrochenen Ausbildungs-Weg. Nie war sie passend, man sagte ihr, sie sei "noch etwas schwächlich, zu leise, nicht richtig."
Oder man warf ihr vor: "Manche hier wollen wohl nicht selber denken"
Der ganz alltägliche Rassismus
Ohdes Roman führt eine lange Liste solcher Negativ-Zuweisungen von außen auf, denen sich die Erzählerin in ihrer Kindheit und Jugend ausgesetzt sah. Doch sie klagt nicht darüber. Es handelt sich eher um eine Inventur der über Jahre erlittenen Benachteiligungen. In teilweise rührenden Szenen erzählt Ohde davon, wie schmerzhaft und unüberwindbar sich der innere "Abgrund" zwischen ihr als Ich-Erzählerin und ihrer Außenwelt damals oft anfühlte. Als diese einmal ein altes Deutschheft durchblättert, erinnert sie sich zum Beispiel:
"Ich betrachtete die Tintenschrift, manchmal durch Tränenflüssigkeit verwischt, was ich damals zum Zeichen meiner Überforderung stehen gelassen hatte, in der Hoffnung, jemand würde es verstehen, aber ich hatte nur einen Vermerk wegen nachlässiger Form dafür bekommen."
Solche Momentaufnahmen des Ausgeschlossen-Seins machen Deniz Ohdes Debüt aus, für das sie bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2020 ausgezeichnet wurde. Dessen autobiografische Schilderungen eines schmerzlich erlebten, sozialen Abseits erinnern einen an gerade viel diskutierte Romane aus Frankreich wie Édouard Louis autobiographisches Werk "Das Ende von Eddy" oder Nicolas Mathieus mit dem Prix Goncourt prämierten Gesellschaftsroman "Wie später ihre Kinder". Ebenso wie dort geht es auch bei Ohde letztlich um ein vom Bildungsbürgertum abgehängtes Prekariat, dass fern von Aufstiegsmöglichkeiten in Perspektiv- und Trostlosigkeit zu versinken droht. Allerdings erzählt die deutsche Autorin migrantischer Abstammung in ihrem Debüt von dieser sozialen Schieflage sehr viel weniger klassenkämpferisch und viel weniger wütend als ihre französischen Kollegen.
Deutschland - eine Klassengesellschaft?
Mit ihrem Roman, der von Momenten der Sprachlosigkeit geprägt ist, reiht sich Deniz Ohde ein in eine ganze Riege junger deutscher Autor*innen und Journalist*innen mit Migrationshintergrund, die neuerdings lautstark auf sich und ihr Schicksal aufmerksam machen.
"Streulicht" ist unter diesen vielen Wortmeldungen Benachteiligter ein wirklich überzeugendes Debüt. Auf einfühlsame Weise, ohne jemals kitschig oder rührig zu wirken, zeichnet Deniz Ohde darin den schwierigen Weg vom migrantischen Arbeiterkind zur Akademikerin nach. Das Arrangement des Romans, der fast ausschließlich aus Rückblenden besteht, wirkt nur manchmal etwas sprunghaft und repetitiv. Das sind allerdings Makel, die kaum ins Gewicht fallen. Denn insgesamt schafft es die Autorin meisterhaft, die dunklen Flecken einer oft kaum versteckten Fremdenscheu und eines immer noch bestehenden Klassendenkens innerhalb der deutschen Gesellschaft sanft aber gründlich auszuleuchten, sodass einem dieser Bericht noch lange in Erinnerung bleibt.
Deniz Ohde: "Streulicht"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 284 Seiten, 22 Euro.