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Denkende Brille

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, diese Erfahrung hat wohl jeder schon einmal gemacht. Ob beim Suchen im Kühlschrank oder im Straßenverkehr: Je nachdem wie beschäftigt das Auge mit optischen Reizen oder ob der Kopf ganz einfach nicht bei der Sache ist, es entgehen uns täglich ganz offensichtliche Wahrnehmungen. Lübecker Bioinformatiker arbeiten an einem System, das uns zielgerichtet, aber dennoch unbewusst wichtige Dinge sehen lässt. Sie wollen so den Straßenverkehr sicherer machen.

    von Detlev Karg

    Auge und Hirn wollen die Lübecker Neuroinformatiker beim Sehen unterstützen. Dazu ist zunächst einmal Grundlagenforschung vonnöten. Itap (Information technology for active perception) heißt der sperrige Name der weltweit einmaligen Technologie, gefördert vom Forschungsministerium. 'Denkende Brille' oder 'Intelligentes Display' könnte man vereinfacht sagen. Am Ende soll ein System stehen, das die Aufmerksamkeit des Betrachters gezielt lenkt, seinen Blick erweitert. Denn nicht alles was wir sehen können, registrieren wir auch wirklich. Das Gehirn spielt den Augen einen Streich, weil es eigene Vorgaben macht. Warum aber sieht ein Mensch in welcher Situation wohin? Das ist die entscheidende Frage. Daten müssen also erst einmal her, die zeigen, wie Menschen typischerweise blicken und sehen. Jan Drewes, Diplomand am Lehrstuhl für Bioinformatik der Universität Lübeck, sammelt sie, indem er den Testkandidaten Filme vorführt:

    Was wir hier sammeln, sind die Blickpositionen. Ein Proband legt seinen Kopf auf eine Vorrichtung, damit er fixiert ist. Anschließend wird die Kamera auf das Auge des Probanden gerichtet. Die Kamera arbeitet im Infrarotmodus, zusätzlich haben wir noch zwei Infrarotscheinwerfer Und aus der Position der Pupille im Kamerbaild und aus der Position der beiden Infrarotreflexe auf der Hornhaut des Auges kann dann die Software berechnen, wohin das Auge guckt.

    Die so gewonnenen Blickdaten fließen ein in einen selbstlernenden Algorithmus. Schrittweise entsteht zunächst eine mathematische Annäherung an die Art und Weise unseres Sehens. Wie die Augen der Probanden einem bestimmten Muster, etwa einem Testvideo folgen, wird mit der Software festgehalten. Ein Beispiel: Der Film zeigt die rasante Abfahrt durch Tiefschnee, aus der Perspektive des Skifahrers. Während der eine Beobachter ganz gebannt ist vom pulverstiebenden Schnee vor den Skispitzen, so sieht der andere vielleicht das wilde Panorama der Berge. Stets ist eine Information ausgeblendet.

    Jan Drewes: Das Gehirn kann eben nicht immer entscheiden, welche Reize es denn am besten ausblendet. Ein 'ausgeblendeter' Fußgänger ist nicht gerade förderlich für die Sicherheit im Verkehr. Das passiert zwar nicht häufig, denn ein aufmerksamer Autofahrer sieht normalerweise alles, aber es gibt Situationen wo es leider nicht geklappt hat und da wollen wir helfen.

    Die Lübecker Wissenschaftler arbeiten mit einem Berliner Unternehmen zusammen, das auf dem Gebiet der Blickverfolgung, dem so genannten Eye-Tracking, bereits Erfahrung hat und auch Systeme gegen den gefürchteten Sekundenschlaf am Steuer entwickelt. Das Sehen soll erweitert werden, wie Erhard Barth, Leiter des Forschungsprojekts in Lübeck, erklärt:

    Die Grundidee ist einfach. Und zwar geht es darum, die visuelle Kommunikation um ein weiteres Merkmal zu ergänzen, weil bisher alles über Helligkeit und Farbe übermittelt wird, aber die Nachricht die übermittelt wird, hängt eben auch davon ab, wo die Leute hinschauen. Ausschlaggebend war die Einsicht, dass das Sehen eine Täuschung ist, und das vieles was wir als bewussten visuellen Eindruck haben, im Gehirn generiert wird und nicht unmittelbar mit den visuellen Stimuli übereinstimmt.

    Mit einem denkenden Display in der Windschutzscheibe, etwa in einem Auto, kann der Fahrer dann sozusagen mit den Augen eines anderen, eines Spezialisten sehen und, so hoffen die Wissenschaftler, besser reagieren. Wichtig dabei: Nicht ein Zusatzreiz, etwa ein optischer oder akustischer Alarm soll das Hirn belasten. Ganz von allein soll der Blick alles Wichtige wahrnehmen, unbewusst soll die Information den Menschen erreichen.

    Erhard Barth: Die einfache Vorstellung ist die, dass wir auf die Windschutzscheibe Signale projizieren werden, die dazu führen, dass die Aufmerksamkeit dahin gelenkt wird, aber die Signale werden so sein, dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden.

    Im Auto könnten einmal, ähnlich wie heute in Flugzeugcockpits, dem Fahrer zusätzliche Informationen auf die Frontscheibe projiziert werden. Augensensoren beobachten den Fahrer, weitere Sensoren die Umgebung. Im Fall des Falles macht das denkende Display den Fahrer auf Unerwartetes aufmerksam. Innerhalb der nächsten drei Jahre wollen die Lübecker Forscher die Erkenntnisse aus Informatik, Psychologie und Neurobiologie in einem ersten Prototypen verschmelzen.