Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Denn es gibt kein Vergessen

Der französische Schrifsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt untersucht in "Freud wartet auf das Wort" das, was im Reden und Schreiben nicht gesagt wird, das, was nicht "durchkommt". In seiner poetisch-linguistischen Abhandlung über die Psychoanalyse Sigmund Freuds kommt er zur Überzeugung: Die Sprache und das Unbewusste sind eins.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 23.08.2006
    So poetisch und sprachbewusst wie der 1928 in Hamburg geborene und in Paris lebende Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt schreibt niemand sonst über Sigmund Freud. Man muss schon auf die Glanzstücke in den Schriften des legendären Jacques Lacan oder auf Jacques Derrida zurückgreifen, um solch eine Intensität und einen derart direkten Zugriff auf die Sprache wieder zu finden, in der die Psychoanalyse begründet worden ist.

    Hochgeschätzt für seine kongenialen Übertragungen von Werken Goethes, Kafkas, Nietzsches und Handkes ins Französische und für seine essayistischen Arbeiten zur Poetologie und zum Werk Rousseaus oder Molières ebenso wie für seine literarischen Arbeiten, hat er mit seinen Studien zur Sprache Sigmund Freuds und der Psychoanalyse eine faszinierende poetisch-linguistische recherche geschrieben.

    ""Sprache spricht nachträglich aus, was ich bereits verstanden habe ... ich bin der einzige, der versteht, was sie sagt, und was ich verstehe, kann ich nur zeigen, indem ich es sage ... Ich bin dem, was ich sage, voraus ...”"

    Dabei gibt das Deutsche demjenigen, der diese Sprache spricht und liest (etwa am Beispiel des Werkes von Sigmund Freud), etwas ganz anderes vor als demjenigen, der das gleiche Werk auf Französisch liest.

    Als Freud das Meer sah und Freud wartet auf das Wort handelten von einem ganz ungewöhnlichen Paradoxon: Etwas bleibt seiner Sache nach gleich, obwohl es in den verschiedenen Sprachen zumeist sehr unterschiedlich benannt wird. Die zentralen Begriffe der Psychoanalyse sind nur annäherungsweise vom Deutschen in eine andere Sprache zu übersetzen.

    ""Die Entdeckung der Psychoanalyse und besonders der Arbeit Freuds war, dass jede Sprache nur eine entstellte, das heißt verschobene und ‘abgelenkte’ Grundsprache ist. Die Grundsprache hat kein Vokabular, keine Grammatik, keine Worte und keine Existenz ...”"

    Goldschmidts Augenmerk ist sowohl in diesem Band, Freud wartet auf das Wort, wie auch in dem vorangegangenen auf die Vorgänge der Entstellung und Verschiebung gerichtet, auf das, was im Reden und Schreiben nicht gesagt wird oder, wie er es immer wieder ausdrückt, was nicht "durchkommt”. Die Sprache und das Unbewusste, so seine Überzeugung, seien eins:

    ""Es gibt kein Unbewusstes, das sich außerhalb der Sprache manifestieren könnte ... Es gibt kein metasprachliches Zeug. Das Mangelhafte, also das Unbewusste, manifestiert sich nur, wenn die Sprache da ist. Es gibt kein Es, das irgendwie in der Ferne ist, so ein mysteriöses Etwas. Die Sprache ist selber schon ihr Unbewusstes.”"

    Nimmt man die beiden Bände, die im französischen Original bereits 1988 und 1996 erschienen sind, als Einheit, so ist man als Leser zutiefst beeindruckt von der Beharrlichkeit im Argumentieren und der in immer neuen Anläufen untermauerten und belegten These von der Mangelhaftigkeit, die der Sprache eigen sei, und dass gerade darin ihre Produktivkraft beschlossen liege. Der Schriftsteller, der Psychoanalytiker und der Übersetzer halten sich genau an diesem Ort auf und arbeiten sich am Ungenügen ab. In diesem Sinn ist für Goldschmidt überhaupt jede geistige Arbeit eine Tätigkeit des Übersetzens.

    ""Freuds gesamte Arbeit war darauf ausgerichtet, das zu Wort kommen zu lassen, dem die Worte fehlten, also zu übersetzen. Und vielleicht wird diese Geistesarbeit eines Tages auch das Verbot überwinden, die Glückseligkeit ... an die Stelle des Unheimlichen zu setzen.”"

    Goldschmidt schließt immer wieder die politische Dimension mit in seine Erörterungen ein und benennt die am eigenen Leib erlebte historische Manifestierung des "Unheimlichen” im Nationalsozialismus. Gerade in seinen Ausführungen zum "Unheimlichen” am Schluss des Bandes erweist sich die Produktivkraft seines Zusammendenkens von Literatur und Psychoanalyse. In geradezu erregenden Deutungen, die ihresgleichen suchen, zeigt er, wie in diesem Wort, das fast nicht übersetzbar ist, das Entsetzen ausgedrückt ist.

    ""Es ist, als wäre das Unheimliche der Abgrund im Grund der Wort ... Selbst die heimeligsten und beruhigendsten Orte sind von der Präsenz des Unheimlichen bedroht.”"

    Im Begriff des "Unheimlichen” fällt die individuelle Erfahrung des Kindes und die kollektive Erfahrung eines ganzes Volkes zusammen. Es ist nicht nur die besondere sprachliche Form des Freudschen Werkes, die im Zentrum der beiden Essays steht und die ja auch schon viele Schriftsteller und Theoretiker vor ihm fasziniert hat; die übergeordnete Fragestellung, von der sich der Autor leiten lässt, ist vielmehr eine kulturanthropologische: die Sprache Freuds im Lichte jenes Verdrängten zu analysieren, das im Nationalsozialismus wirksam wurde.

    ""War vielleicht der deutsche Sprachbereich nicht von ungefähr das Terrain für die Entstehung und Ausarbeitung der Psychoanalyse gerade zur Zeit des Sichausbreitens der absoluten Barbarei und der Hinrichtung der Völker? Der Gebrauch der deutschen Sprache hat, aus der Perspektive der historischen Entwicklung, den Zugang zu den überdeckten Bereichen des Seelenlebens vielleicht erleichtert, wenn nicht gefördert.”"

    Goldschmidt traut der Psychoanalyse eine enorme kulturanalytische Bedeutung zu: Wenn man die Psychoanalyse einsetze, um die "Tiefenstruktur des deutschen Imaginären” zu erforschen und zu deuten, dann ließen sich eine Fülle von bisher nicht oder nur vereinzelt betrachteten Aspekten des Nationalsozialismus im Zusammenhang erklären; etwa in Bezug auf die Relationen zwischen Homosexualität, Gewalt und Verdrängung.

    ""Es ist die Zeit der größten Strafzivilisationen, die es je gegeben hat: der Viktorianismus, die Unterdrückung der Sexualität; und zur gleichen Zeit ist der Nazismus und Freud entstanden, aber aus derselben Sache, aus dieser unglaublichen Verdrängung der Körperlichkeit. Das hat Theweleit wunderbar beschrieben, die unheimliche Verdrängung dieser bürgerlichen Gesellschaft. Es hat sich in Deutschland am krassesten manifestiert.”"

    Goldschmidts Interesse an der Psychoanalyse - als Instrument der Aufklärung - wird besonders deutlich in seiner Auffassung vom Unbewussten; es lehre uns, dass es kein Vergessen gibt, dass mittelbar oder unmittelbar alles wiederkomme. In dieser Bestimmung kulminiert sein Interesse an der Verflechtung des Unbewussten und der Wiederkehr des Verdrängten in der Erinnerung mit seiner Leidenschaft für die besondere sprachliche Form des Unbewussten, das den Strömungen und Tiefen des Meeres gleicht.

    Im ersten Band widmete sich Goldschmidt sehr eindringlich dieser Analogie des Unbewussten zur Bewegtheit des Meeres. Und in einer ähnlichen metaphorischen Umschreibung charakterisierte er die deutsche Sprache als eine, die auf dem Wechsel von Hebung und Senkung des Brustkorbs, auf An- und Abstieg aufgebaut sei. Ja, in der deutschen Sprache könne man die Entsprechungen zwischen der Dynamik des Meeres und derjenigen der Seele deutlicher als im Französischen erkennen.

    ""Es ist, als berge die deutsche Sprache die ursprüngliche Brandung der See, bewahre ihr Wiegen, Ebbe und Flut.”"

    Im zweiten Band nun nimmt Goldschmidt diesen Faden wieder auf, geht auf die Transparenz der deutschen Sprache ein, um aber sogleich auch in diesem Punkt seine Hauptthese zu festigen, dass auch die Durchsichtigkeit letztlich eine Täuschung sei, auch das Deutsche bringe nicht mehr als die "unpassende Äußerung eines Sagen-Wollens” zustande.

    ""Das Deutsche hat keinen anderen Status als die anderen Sprachen, es kann nur aufgrund seiner grammatischen Möglichkeiten äußerlich besser darüber hinwegtäuschen.”"

    Die Übersetzung macht aus demselben, so stellt Goldschmidt immer wieder aufs neue verwundert fest, etwas anderes. Aber gerade weil Übersetzung unmöglich sei, sei sie unumgänglich. Ihn interessiert die Frage, wie es nicht geht, wie die Unmöglichkeit beharrt.

    In einer schier unglaublichen Fülle von Beispielen erörtert er die unterschiedlichen Wortbildungen im Deutschen und im Französischen und knüpft auch hierin an die empirische Basis der vorangegangenen Studie an. War es dort in allererster Linie ein derart unscheinbares Präfix wie "ver”, das seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog und ihn zu der These trieb, dass ohne dieses "ver-” z.B. in "Verdrängung” Freud vielleicht niemals die Psychoanalyse hätte begründen können, so widmet er sich jetzt all den Begriffen, die im Deutschen ganz anders gebildet werden und anders klingen als im Französischen. Zum Beispiel: durcharbeiten - man sieht jemanden gleichsam mit den Armen rudern - wird im Französischen zu einem trockenen, artifiziellen perlaborer; ganz ähnlich die behelfsmäßigen Übersetzungen von Abfuhr und Icheinschränkung, von Unbewusstes, Trieb und Triebregung, Verdrängung, Verschiebung usw.

    ""Der französische Text bewegt sich immer auf einer anderen Zugänglichkeitsebene als der deutsche ... Im Französischen gibt es eine Art Abschwächung des Besonderen zugunsten des Allgemeinen ...”"

    Hinter die Sprachlichkeit können wir letztlich nie zurückgehen. Und gerade in diesem Sinne vermag Goldschmidt besonders eindringlich zu zeigen, dass sich alles in der Sprache abspielt, ja, dass vielleicht sogar Freuds vager Biologismus eine Sache der Sprache gewesen sei und dass ein Begriff wie "seelischer Apparat” das Produkt einer Sprachverwirrung sein könnte.

    Die Ausweitung des Wortes "Seele”, die Freud vornimmt (was ihm die deutsche Sprache gestattet, während das Französische solche Ausweitungen zumeist verweigert), als ein Verwirrspiel der Sprache. Das Seelenleben, der seelische Apparat und all die Begriffe in Freuds Triebtheorie: sind es nicht auch Formulierungen, die von dem wegführen, was Seele als eine nicht zergliederbare Einheit meint?

    ""Seele kann kein Adjektiv sein. Das nenne ich die metaphysische Scham, wie das Französische sich weigert, gewisse Dinge zu sagen. Diese Übertünchung mit seelisch ist immer die große Gefahr. Es gibt Wörter, mit denen man nicht spaßen darf. Seelisch ist für mich ein furchtbares Wort, es macht mir immer Angst.

    Was passiert in einer Sprache, wenn sie dem Übersetzer sagt "mein lieber Freund, das machst du alleine, ich mach da nicht mit"? Warum entzieht sich eine Sprache dem Griff der anderen? Das ist für mich das große Problem. Wo eine Sprache von der anderen nichts hören will, da fangen die Probleme an.”"

    Es gibt in Goldschmidts Überlegungen eine Schnittstelle, die von der Schwierigkeit oder gar Unlösbarkeit eines Problems zeugt. Wenn sich alles in der Sprache abspielt oder, wie er einmal sagt, die Sprache "Klartext redet”, können wir gar keine Aussagen über Nichtsprachliches machen. Somit steht auch eine Aussage wie die über die "Unzulänglichkeit der Sprachen angesichts des Gemeinten” in Frage. Das Gesagte ist doch das Gemeinte, wenn auch in verschlüsselter Form.

    Und gerät nicht auch eine Formulierung wie die, dass das Wesen der Sprachen das "Sprachliche an sich” sei, in die Nähe des Jargons der Eigentlichkeit, den Goldschmidt geißelt? Vielleicht verführt uns ein Denken, das sich in diese Gewässer wagt, immer wieder zu unvermeidbaren Unschärfen und Verirrungen.

    Wenn ich meine Empfehlung für die Lektüre von Goldschmidts Büchern mit einer persönlichen Notiz beschließen darf, dann möchte ich eine Erfahrung bei der Lektüre dieses neuesten Bandes erwähnen: Obwohl ich Goldschmidts Werk über die Jahre hinweg geradezu durchforstet habe und das Glück hatte, mit dem Autor mehrere Gespräche zu führen, lese ich jedes seiner Bücher, auch dann, wenn ich es bereits gut kenne, wie ein neues. Es ist, als beschriftete jeder seiner Sätze eine gleichzeitig leere und farbige Leinwand in mir.