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Der abgewendete Mord:

Am Bosporus ist vieles ins Rollen gekommen in den letzten zwei Jahren. Seit 2002 wird das Land von Premier Recep Erdogan und seiner AKP regiert: Ausgerechnet eine islamische Partei hat die politische Öffnung zum Westen eingeleitet. Und trotzdem bleiben Widersprüche und Ambivalenzen allerorten. Einerseits eine hoch gelobte Strafrechts-Reform als weiterer Etappensieg auf dem Weg in die EU. Andererseits ein umstrittener Paragraph, der den Ehebruch zum Strafdelikt erklärt und mit einem Mal das ganze Projekt Europa gefährdet. Erst in letzter Sekunde lenkte Ankara doch noch ein, ein Punktsieg für Brüssel. Anderswo sind die Fortschritte langwieriger und mühseliger. Vor allem auf dem Lande, vor allem im Osten und Südosten der Türkei. Die Rückständigkeit sitzt tief: Was Politiker und Gerichte in Ankara verbieten oder abschaffen, muss deswegen in der Provinz noch lange nicht als unrechtmäßig gelten. Auf dem Lande sind die Traditionen allemal mächtiger als der Reformeifer in der Hauptstadt.

Von Gunnar Köhne |
    Gerüchte reichen manchmal aus: Eine Ehefrau soll angeblich fremdgegangen sein, ein junges Mädchen soll seine Unschuld verloren haben - oder noch schlimmer - schwanger sein ohne Trauschein. Vielleicht wird auch nur gestreut, sie sei zu spät nach Hause gekommen, und das in Begleitung eines fremden Jungen. Behauptungen reichen aus, um über Leben und Tod einer jungen Frau zu entscheiden. Im grausamsten Fall beschließt dann der nur aus Männern bestehende Familienrat, wer den Mord im Namen der Familienehre ausführt. All das kommt noch immer vor, obwohl niemand genaue Zahlen kennt. Von gut 300 Ehrenmorden pro Jahr ist in manchen Quellen die Rede. Aber das lässt sich nicht überprüfen. Schon allein deshalb, weil viele Frauen noch nicht einmal einen Personalausweis haben. Wenn sie verschwinden, hinterlassen sie keine Spuren. Nur manchmal gibt es doch ein Happy End.

    Sahin Örnek wartet vor dem Eingang des Hotels. Örnek ist ein hagerer Mann, trotz seiner erst 49 Jahren nimmt er eine gebeugte Haltung ein. Über seinem schwarzen Schnauzbart hat er müde Augen.

    Ja, die Sache mit seiner Tochter stecke ihm noch in den Knochen, gibt er zu als er sich wenig später in der Hotellobby auf einen Stuhl niederlässt. Örnek zieht diesen Treffpunkt vor – die Nachbarschaft hat genug zu reden über seine Familie. Vor einem halben Jahr brannte seine 18-jährige Tochter Dilek mit ihrem Freund nach Istanbul durch:

    Wir haben von ihrer Flucht erst drei Tage später erfahren. Das war ein Schock für unsere Familie. Ich habe versucht meine Tochter freier zu erziehen als andere, sie sollte auch eine gute Ausbildung bekommen, ich habe sie auf eine Berufsschule geschickt. Und ich habe immer gesagt: Du brauchst nur jemanden zu heiraten, den du auch liebst. Aber es gibt in dieser Region bei uns Kurden einfach Werte und Regeln, die eingehalten werden müssen. Bei schweren Verstößen dagegen fordern sogar viele den Tod als Strafe. Das sagt niemand offen, aber man spürt, wie sie einen anschauen. Ich war sehr verzweifelt, eine Zeitlang wollte ich Selbstmord begehen.

    Örnek ist Angestellter bei den Stadtwerken von Diyarbakir. Es gab, sagt er, nur wenige, die ihm seinen Rücken gestärkt hätten für eine Versöhnung mit seiner Tochter Dilek. Seine Frau habe ihm, wie in solchen Fällen üblich, die Entscheidung in dieser Familienangelegenheit allein überlassen. Wochenlang habe er mit sich gerungen. Örnek rutscht in seinem Stuhl nach vorn und knetet die Knöchel seiner rechten Hand.

    Ich habe schließlich gesagt, lasst meine Tochter zu mir kommen, lasst uns mit ihr reden, wer weiß, vielleicht ist sie ja gar nicht freiwillig mit dem Jungen mitgegangen. Die Familie des Jungen war zunächst misstrauisch, und dachte ich wollte sie in einen Hinterhalt locken. Aber dann kamen sie doch alle. Meine Tochter hat gesagt, sie wolle ihren Freund heiraten, und damit waren wir dann alle einverstanden. Ich habe mich mit meiner Tochter versöhnt, meine Tochter ist glücklich und darüber bin ich auch glücklich.

    Ein sonniger Nachmittag in einer ruhigen Seitenstrasse unweit der Stadtmauern von Diyarbakir. Ein Kaffeehaus. Sahin Örnek hat versprochen, seine Tochter Dilek hierher zu schicken. Er werde besser nicht kommen, sonst fühle sich das Mädchen eingeschüchtert.

    Als Dilek den Hof betritt, drehen sich die Männer nach der attraktiven jungen Frau um. Auf ihrem schwarzen Haar liegt ein locker umgebundener Schleier. Unter ihrer weiten Bluse ist die heute 19jährige unübersehbar schwanger. Dilek setzt sich auf einen der bunten Diwane - aufrecht und in sich ruhend.

    Wir hatten natürlich große Angst. Wir rechneten damit, dass sie versuchen würden, mich zu töten. Darum sind wir in Istanbul kaum aus dem Haus gegangen. Unsere Mobiltelefone ließen wir die meiste Zeit ausgeschaltet. Ich hatte Alpträume. Ein paar Mal haben wir unsere Eltern am Telefon gesprochen: Sie haben gesagt: Komm zurück, wir werden deinen Mann und seine Familie nie akzeptieren. Aber ich wollte nicht zurück, ich hatte Angst. Und ich liebte meinen Mann.

    Dilek zieht ihre nackten Füße heran und nippt an einem schlanken Teeglas. Einmal in der Woche besucht sie ihre Eltern, oder sie kommen die junge Familie besuchen. Sie kämmen heute gut miteinander aus, sagt sie, aber ein so enges Verhältnis wie früher sei unmöglich:

    Ich habe die Sache manchmal bereut - nicht dass ich zu meinem Mann gestanden habe, sondern dass ich über meine Familie Leid gebracht habe. Meine Mutter steht heute zu mir, und sie sagt jedem, dass sich niemand in die Angelegenheiten ihrer Tochter einmischen soll. Aber das Ganze hat sie psychisch sehr stark mitgenommen. Und bei mir sind natürlich auch Spuren geblieben. Wenn ich mir meine Eltern anschaue und daran denke, was sie mir hätten antun können ... Und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie immer noch sehr böse auf mich sind.

    In wenigen Wochen wird Dileks erstes Kind geboren werden, ein Mädchen. Sie wolle ihrer Tochter später eine Freundin sein, die ihr auch in schwierigen Zeiten zur Seite steht und sie nicht verdammt oder bedroht. Aber wenn ihre Tochter erwachsen ist, wird die Türkei ein anderes Land sein, hofft Dilek, und ihre Augen und Hände werden lebhaft:

    Inschallah, wenn wir in der Europäischen Union sind, werden die Morde ganz aufhören. Denn das Wichtigste ist doch, dass die Menschen glücklich sind und denken dürfen, was sie wollen. Noch sieht es danach nicht aus, aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben.