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Der Abschied vom Sozialstaat Bismarckscher Prägung

Links ist da, wo der Daumen rechts ist. Das schien für annähernd zwei Dekaden, angesichts des Orientierungsverlustes der Linken seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, die beste Ortsangabe zu sein. Das hat sich jüngst geändert. Gysi, Lafontaine und Schreiner wissen wieder, wo und was links ist. Christian Rickens, Redakteur beim "Manager Magazin", kommt zu dem Ergebnis: Links - das sei das Comeback eines Lebensgefühls.

Von Oliver Tolmein |
    "What's left", "was ist übriggeblieben?", aber auch "was ist links" fragten sich und ihre Leser Ende der Neunziger Jahre einige Zeitungen und Zeitschriften. Die Verknüpfung von rückwärtsgewandter Bilanz und politischer Standortbestimmung war charakteristisch für die Stimmung, die nach dem Ende des real existierenden Sozialismus die Befindlichkeiten prägte. "Links" hatte damals keine Zukunft mehr und auch, was es in der Vergangenheit ausgemacht hatte, erschien ungewisser denn je.

    Heute ist davon kaum mehr die Rede. Eine Partei, die sich selbstbewusst "Die Linke" nennt, sitzt im Bundestag und vielen Landtagen. Die Aktienkurse befinden sich im freien Fall, die Gehälter der Bankmanager sind allgemein in der Kritik und die einstigen Verfechter eines umfassenden Rückzugs des Staates engagieren sich mittlerweile für stärkere Kontrolle der Finanzmärkte. Da kommt ein Buch wie das von Christian Rickens gerade recht: "Links! Comeback eines Lebensgefühls" prognostiziert nicht weniger als den "Beginn einer linken Zeitenwende", die nicht mehr durch den links/rechts-Konflikt geprägt sein soll und schon gar nicht durch den in die Jahre geratenen Streit zwischen Querdenkern und Anhängern des Mainstreams:

    Die grundlegende Konfliktlinie der kommenden Jahre wird zwischen zwei verschiedenen Ausprägungen linker Ideologe verlaufen: linksorthodox versus linksliberal. Mehr soziale Gerechtigkeit durch mehr Staat, dafür weniger Freiheit und Offenheit. Oder die Utopie: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Freiheit und mehr Offenheit durch ein grundlegend neues Aufgabenverständnis des Staates.

    Die linke Orthodoxie sieht Rickens durch Lafontaines Linke, das erste sozialistische Projekt, das ohne Fortschrittsglaube auskommt, verkörpert. Für die linksliberale Utopie, der seine Sympathien gehören, steht dagegen eine Art digitaler Boheme, der Rickens unter anderem mit seinem Buch eine Art ökonomischen Unterbau verpassen will. Der gelernte Wirtschaftswissenschaftler arbeitet aber nicht im Wirtschaftsteil einer Zeitung, sondern schreibt als Redakteur im Ressort "Trend" des "Manager Magazin" - und so liest sich auch seine den ersten Teil des Buches bestimmende Beschreibung der sich nach Links wenden Verhältnisse meistens eingängig und flott, aber selten analytisch.

    Rickens reiht Anekdoten, Beobachtungen und Zahlenwerte aneinander um seine These von der Linkswerdung der Deutschen zu belegen: Wollen nicht immer mehr Menschen stärkere Gewerkschaften? Steigt nicht die Skepsis gegen Privatisierungen? Und, last but not least, lehnen nicht immer mehr Deutche die Globalisierung vehement ab? Über andere Entwicklungen und Interpretationsmöglichkeiten verliert er aber leider kein Wort: Nichts über den Terraingewinn rechter Jugendkultur, nichts über die enorme Verbreitung eines autoritären Weltbildes oder über die heimatsinnigen Hintergründe, die die Globalisierungskritik auch auszeichnen. Ganz kurz flackert dieser Zusammenhang in einem Satz auf, als Rickens feststellt, dass auch der letzte Parteitag der NPD unter dem Motto stand "sozial geht nur national" - aber gerade an diese Beobachtung knüpft der Autor keine weitere Überlegung an. Stattdessen wendet er sich dann in der zweiten Hälfte des Buches Lösungen zu, die seiner Meinung nach dringend geboten sind: Im Mittelpunkt steht dabei der Abschied vom Sozialstaat Bismarckscher Prägung:

    "Die Sozialversicherungen unterhalten riesige bürokratische Apparate. Doch effizient sind sie nicht. Mit enormem Aufwand erzielen sie ein verhältnismäßig bescheidenes Maß an Verteilungsgerechtigkeit - und mindern zugleich für Millionen Deutsche den Anreiz zu arbeiten und zu sparen."

    Rickens beschreibt nicht nur ein linkes Lebensgefühl, er versucht es auch zu formen und voranzubringen. Er will nicht nur Trends aufzeigen, sondern Lösungen für Probleme anbieten. Deswegen liefert er ein Gegenmodell zum Sozialstaat alter Prägung. Er plädiert für das steuerfinanzierte Grundeinkommen, das in Höhe von 600 EUR plus 200 EUR für die Krankenversicherung an alle Bürgerinnen und Bürger gezahlt werden soll: unabhängig von deren Alter und Einkommen. Mit vielen ökonomischen Einwänden gegen dieses Modell setzt er sich im zweiten, stärkeren Teil des Buches kenntnisreich und engagiert auseinander. Er verwendet sogar einige Mühe darauf, dessen Finanzierbarkeit nachzuweisen und in diesem Zusammenhang auch das Steuersystem auf den Prüfstand zu stellen. Dass er rechtliche Probleme konsequent ausblendet und nicht reflektiert, dass ein rein steuerfinanziertes Sozialsystem erhebliche Gefahren in sich birgt, weil Legislative und Exekutive viel freier über diese Leistungen verfügen können, als über Leistungen, die von Trägern erbracht werden, die die Sozialversicherten selbst finanziert haben, wäre nicht weiter schlimm, erweckte Rickens nicht den Eindruck, er habe die Lösung auf die meisten bewegenden Fragen gefunden. Es ist daher leider keine selbstironische Note, sondern von echtem Pathos getragen, wenn er als Epilog eine Regierungserklärung für das Jahr 2013 formuliert:

    "Unser Ziel ist ehrgeizig. Wir wollen diesem Land einen neuen Gesellschaftsvertrag anbieten, einen Pakt zwischen den Bürgern sowie zwischen Bürgern und Staat ... Im Kern geht es um eine klare, glaubwürdige Aussage darüber, was der Staat künftig zu leisten vermag und was nicht. Es geht um Fairness und Transparenz: Fairness heißt: Der Starke kann und muss mehr leisten für die Gemeinschaft als der Schwache. Transparenz heißt, es muss erkennbar sein: Wo leiste ich einen Beitrag zur Gemeinschaft, wo erhalte ich etwas zurück. Dank der unzähligen Instrumente unseres Sozialsystems landete beim Bürger häufig in der linken Tasche an Transferleistungen, was er gerade aus der rechten Tasche an Steuern gezahlt hatte."

    Das ist nicht schlecht beobachtet und ehrenwert gedacht, es mag auch links sein, mit einem Lebensgefühl hat es wenig zu tun. Dort, wo es um anderes geht als um den materiellen Unterbau, hält sich der Autor sehr bedeckt: Bioethik und Familienpolitik, Antidiskriminierungsrecht und soziale Folgen des demografischen Wandels kommen bei ihm nicht vor. Rickens will in seinem Buch vieles bieten: Analyse und Kritik, Essay und Programm, er will realistisch sein und eine Utopie formulieren, er will Ideologie und Ökonomie einer Überprüfung unterziehen. Am Ende bezieht er auch die Politik der Inneren Sicherheit noch in seine Überlegungen mit ein. Damit überfordert er sich und unterfordert mit dem Ergebnis gelegentlich seine Leser, die angesichts der blinden Flecken und an den heiklen Stellen vielleicht doch gerne etwas mehr erfahren würden, als die Erkenntnis:

    "Linke Politik, die nicht mehr an Utopien glaubt, ist in Wahrheit keine."

    Christian Rickens, Links! - Comeback eines Lebensgefühls, Ullstein, 254 Seiten