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Der Ärztestreik

Es ist nicht das erste Mal, dass Deutschlands Kassenärzte gegen die Gesundheitspolitik mobil machen. Zehntausende demonstrierten zuletzt wegen der Gesundheitsreform 2000. Die erwies sich im Nachhinein als wenig wirkungsvoll und tat den Ärzten kaum weh. Denen aber passt die ganze politische Richtung nicht. Schon im Wahlkampf hatte sich die Mehrheit der Kassenarztfunktionäre eindeutig auf die Seite von CDU/CSU und FDP geschlagen. Mit der Nullrunde auch für ihre Honorare und den bereits weitgehend bekannten Reformabsichten eskalierte die Stimmung gegen die rot-grüne Gesundheitspolitik - zumindest bei den Ärztefunktionären.

Axel Brower-Rabinowitsch und Dieter Nürnberger | 06.02.2003
    Die derzeit laufenden Aktionen der Kassenärzte sollen eine neue Qualität haben. So sind sie - etwa in Berlin und Westfalen-Lippe - auf mehrere Wochen oder sogar zeitlich unbegrenzt angelegt. Dabei zielen die protestierenden Kassenärzte und ihre Funktionäre erstmals ganz ungeniert darauf, dass es für Patienten lästig wird, dass sich die Versorgung verschlechtert. Ihre Hoffnung: Die Bürger machen Druck auf die Regierung, damit die eine ärztefreundliche Gesundheitspolitik betreibt - und das heißt auch und vor allem mehr Geld für die Mediziner. Hans-Jürgen Thomas, Chef des Hartmannbundes, nimmt da kein Blatt vor den Mund:

    Eins ist zur Zeit sicherlich nicht möglich: Dass wir mit dieser Nullrunde leben können. Aus diesem Grunde haben wir es darauf angelegt, die Praxen Mittwochs zu schließen, weil wir Leistungen nicht bezahlt kriegen. Wir wollen die Zeit ernsthaft für eine intensive Fortbildung nutzen. Deshalb heißt unser Motto "Mittwoch ist Fortbildungstag, Mittwoch bleiben die Praxen geschlossen" - solange bis eben auch die Politik einsieht, dass hier die Versorgung, wie wir sie in der Vergangenheit hatten, nicht mehr gesichert ist.

    Der Hartmannbund probt das in Westfalen-Lippe und in Brandenburg. Bei Erfolg soll es bundesweit greifen. Und Kassenarztchef Manfred Richter-Reichhelm, zugleich Vorsitzender der Berliner Kassenärzte, organisiert gar eine tägliche Schließung von 20 Prozent der Facharztpraxen in Berlin. Zudem ruft er alle deutschen Kassenärzte zum Dienst nach Vorschrift auf. Was das bedeutet, erläutert Richter-Reichhelm so:

    Bei den Arzneiverordnungen zu 100 Prozent, da wo es möglich ist, Generika einzusetzen, Scheininnovationen zu vermeiden und kontrovers diskutierte Arzneimittel nicht auf Kassenrezept zu verordnen. Bei den Heilmittelverordnungen schon bei der Erstverordnung in der Zahl der Anwendungen sehr kritisch zu sein und schließlich bei den ärztlichen Leistungen in den Praxen empfehlen wir eine Reduktion der ärztlichen Leistungsmenge.

    Im Klartext heißt das: Weil die steigende Zahl der Kassenärzte immer mehr mit ihren Patienten anstellt, sinkt wegen der gedeckelten Gesamthonorare die Bezahlung für die Einzelleistung. Durchschnittlich 15 Prozent ihrer Behandlungen müssten sie quasi umsonst erbringen, klagen die Kassenärzte. Das soll künftig nicht mehr geschehen. Durch Praxisschließungen und Billigmedizin, durch Hinausschieben von Behandlungen soll das Ziel erreicht werden. Für die Patienten heißt das,...

    ... dass eben ganz streng die anderen Praxiszeiten eingehalten werden, dass Wartezeiten entstehen, Wartelisten geführt werden für die Versorgungsbereiche, die keiner dringenden Versorgung bedürfen. Also es wird schon beschwerlich werden...

    ... meint Hartmannbund-Chef Thomas. So und noch schlimmer hatten es sich die Kassenärzte in der Theorie vorgestellt - bis frustrierte Patienten Druck auf die Bundesregierung ausüben, den Ärzteforderungen nachzugeben. Als die Aktion vor gut zwei Wochen startete, gingen noch einige tausend Mediziner auf die Straße, blieben einige tausend Praxen geschlossen. Aber schon heute geht der Aktion offenbar die Luft aus. Berlins Streik von 20 Prozent aller Fachärzte wird mangels Masse kaum noch registriert. Hans-Jürgen Ahrens, Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, spricht aus, was zur größten Pleite der Protestaktionen werden könnte:

    Es wird sich zeigen, ob in einigen Bereichen es überhaupt wahrgenommen wird, dass die Ärzte teilweise ihren Aufgaben nicht nachkommen. Wenn es nämlich nicht wahrgenommen wird, dann muss man sich fragen: Warum nicht - vielleicht weil es dort zu viele Ärzte gibt?

    Dann nämlich hätten die Kassenärzte unfreiwillig die teure Überversorgung mit Ärzten vor allem in Ballungszentren eindrucksvoll nachgewiesen. Schon lange behaupten Kritiker und Kassen, dass es mindestens 1.000 Ärzte in Berlin zu viel gäbe - ziemlich genau die Zahl, die täglich ihre Praxen schließen soll. Finden die Patienten einen Konkurrenten um die Ecke, ist ihre Versorgung auch gesichert. Das scheint so zu sein. Bei den Hotlines der Krankenkassen wenigstens laufen so gut wie keine Beschwerden ein. Und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt droht indirekt auch schon mit Abbau der Arztpraxen:

    Wenn man, wie die Ärztefunktionäre in Berlin, sagen kann, wir können jeden Tag 20 Prozent der Praxen schließen und es wird überhaupt keine Einschränkungen der medizinischen Versorgung geben, dann sind 20 Prozent zu viel.

    Aber es sind weit weniger als 20 Prozent, die täglich schließen. Das liegt an Medizinern wie der Berliner Hautärztin Elisabeth Rowe, die bewusst ihre Praxis nicht zumacht.

    Die Praxis von Hautärztin Elisabeth Rowe ist geöffnet wie sonst auch, und die 47-jährige denkt gar nicht daran, sie irgendwann in dieser Berliner Protestzeit zu schließen. Als sich die Journalisten der Hauptstadt in den ersten Streiktagen auf die Suche nach Verweigerern gemacht haben, rannten sie bei der Dermatologin offene Türen ein. Seitdem ist sie für einige Kollegen so etwas wie eine Nestbeschmutzerin. Dabei hat sie nie einen Hehl daraus gemacht, dass vieles im Gesundheitswesen, so sagt sie, derzeit zum Himmel stinke.

    Proteste sind sicherlich angesagt, nur die Art und Weise! Da bin ich einfach der Meinung, dass es für Ärzte einfach nicht angeht zu streiken. Es ist ja auch so, dass die Patienten das nicht durchschauen. Das System ist so perfide, dass selbst wir Ärzte es nicht durchschauen. Meines Erachtens ist der Streik ein Flop! Er findet nicht die Resonanz, die sich die Vertreter der Ärzteschaft erhofft haben.

    Frau Rowe war eine der ersten, die das Wort von einem Flop des Ärztestreiks nach außen trugen. Vor ein paar Jahren stand die Hautärztin mit ihrer Praxis im durchaus wohlsituierten Bezirk Zehlendorf vor dem Ruin. Ein paar Semester Betriebswirtschaft und ein Wirtschaftsberater öffneten ihr jedoch die Augen für einen schlichten Grundsatz: Auch ein Arztbetrieb muss sich wirtschaftlich tragen - besonders, wenn die Rahmenbedingungen entsprechend sind. -- Wir rechnen ja nach Punkten ab. Der Punktwert der vergangenen Jahre hat sich im Prinzip halbiert. Das wirkt sich natürlich auf die Einkommen der Ärzte aus. Der Bedarf in der Bevölkerung nach medizinischen Leistungen jedoch ist einfach da. Die Praxen sind voll. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, dass uns Ärzten ein angemessenes Honorar zusteht. Und dass, was derzeit von den Kassen geliefert wird, ist einfach zu wenig, um vernünftig eine Praxis zu führen.

    Die Hautärztin fand ihre Nische. Ein durchaus lukratives Geschäftsfeld, welches aber nicht in jeder fachlichen Ausrichtung der Medizin möglich ist. Hautkrankheiten, so sagt sie, sind sichtbar und deswegen seien Patienten auch bereit zusätzlich zu zahlen.

    Ich kann eine Neurodermitis mit Cortison behandeln, auch mit Teer. Wenn aber Patient eine schonende Lichttherapie haben möchte, dann kann ich diese nicht zu Lasten der Krankenkasse anbieten. Ich habe hier eine große UV A1 Kaltlichtanlage, die hat damals zirka 200.000 Mark gekostet. Es gibt einen Beschluss der Bundesärztekammer. Eine Bestrahlung kostet 52 Euro. Um die Haut zu bessern, braucht ein Patient so um die 20 Bestrahlungen und das kann ich eben nicht über die Krankenkasse abrechnen. Aber derjenige, der diese Therapie gerne haben möchte - und ich kläre die Patienten vorher darüber auf - der kann das kaufen.

    Viele der hier angebotenen Leistungen fasst die Ärztin unter dem Begriff "Komfortmedizin" zusammen. Sie entfernt beispielsweise Altersflecken, oder auch Knitterfalten. Ein Drittel ihrer Einnahmen komme so zu Stande. Vielleicht war auch deshalb ihre Streikbereitschaft von vorn herein gleich Null. Ihre Patienten hören es gern.

    Ich bin auch gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie mitmacht. Ich finde das gut, dass sie nicht streikt. Wenn jetzt wirklich jemand krank ist, wo soll er so schnell hin." - "Vernünftig so, denn ich als Patient bin ja davon betroffen, wenn sie jetzt streiken würde. Und das sehe ich nicht ein. Dafür bezahl ich ja schließlich auch meine Steuern.

    Die Praxis der Hautärztin wirkt nicht so steril wie viele andere. An den Wänden hängt durchaus auch Werbung. Vorher-Nachher-Plakate mit und ohne Falten beispielsweise machen auf die Zusatzleistungen der selbstbewussten Dermatologin aufmerksam.

    Ich kann eigentlich meinen Patienten immer nur raten, sich die preiswerteste Kasse auszusuchen. Um das Geld, welches sie dann übrig haben, in zusätzliche Leistungen zu stecken. Ob dies nun beim Dermatologen ist, oder auch beim Internisten, oder sonst wo...

    Im Vorfeld der immer flauer werdenden Proteste waren die Wogen hoch gegangen. Krankenkassen und Gesundheitsministerin drohten mit Sanktionen, falls Patienten nicht ausreichend versorgt würden. Vorsorglich wollten die Betriebskrankenkassen die Honorarüberweisungen an die zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen kürzen, ließen es aber, nachdem bis heute kein gravierender Fall von Nicht-Versorgung Akut-Kranker bekannt wurde. Und bislang warten die Krankenkassen vergeblich darauf, dass ihre Hotlines heiß laufen. AOK-Chef Ahrens:

    Wir haben unseren Versicherten gesagt, sie mögen uns Praxen nennen, in denen sie nicht behandelt werden. Wir werden diese den KVen nennen und sie darauf hinweisen, dass diese Ärzte ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, was normalerweise natürlich disziplinarische Folgerungen nach sich zieht - eine weite Spannbreite, die reicht von der Abmahnung bis zum Entzug der Zulassung: Und das obliegt dann der Kassenärztlichen Vereinigung, wie sie damit umgeht.

    Bisher habe es nirgendwo einen Protest gegeben, der den Sicherstellungsauftrag verletzt hätte, stellt Ministerin Schmidt fest. Den gesetzlichen Auftrag, die medizinische Versorgung sicherzustellen, haben die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen, in denen jeder Kassenarzt Zwangsmitglied ist. Das sind just jene rechtlich-öffentlichen Institutionen, die auch die Honorare verteilen und hart am Rande der Legalität die Proteste kanalisieren und mit organisieren. Vor allem aber handeln sie die Kollektivverträge zwischen Kassenärzten und Krankenkassen aus. Damit verfügen die Kassenärztlichen Vereinigungen über ein erhebliches Machtmonopol. Ein Grund der Aktionen ist der Plan der Ministerin, dieses Monopol weitgehend abzuschaffen, indem auch einzelne Ärzte und Arztgruppen künftig unter Umgehung der Kassenärztlichen Vereinigungen Versorgungsverträge mit den Kassen schließen dürfen.

    Solche Töne machen die Ärztefunktionäre und auch manche Kassenärzte natürlich wütend. Denn da geht es an ihren Einfluss und an ihr Portemonnaie. Und das ist ja beileibe nicht der einzige Punkt. So will die Ministerin den Kliniken erlauben, Patienten auch ambulant zu behandeln. Diese Kunden gehen dann den niedergelassenen Fachärzten verloren. Für Richter-Reichhelm, selbst Facharzt, ist die Nullrunde bei den Honoraren zwar Auslöser der Ärzteproteste, Hauptgrund aber ist die - wie er meint - facharzt-feindliche Politik Ulla Schmidts. Und dafür findet der Kassenarzt-Chef ganz schön starke Worte:

    Damit wird die fachärztliche Praxis mittelfristig nicht mehr existenzfähig sein. Die freie Facharztpraxis um die Ecke wird es in Kürze nicht mehr geben. Wir werden angestellte oder scheinselbständige Fachärzte haben - eine Methode, die weiland in der DDR praktiziert wurde.

    Alles Unsinn, kontert die Ministerin. Nur schwerkranke Patienten, die regelmäßig ins Krankenhaus müssen, sollen auf eigenen Wunsch dort auch ambulant behandelt werden. Privatpatienten dürften das heute schon. Allerdings ihr Plan, ähnlich wie in der DDR, Gesundheitszentren einzurichten, die übrigens nach der Einheit systematisch zu Gunsten von Einzelpraxen beseitigt wurden, bestärkt die Kassenärzte in ihrer Ablehnung der rot-grünen Gesundheitspolitik.

    Die meisten Fachärzte sehen das alles mit Grausen. Sie stellen den harten Kern der Protestler. Hausärzte sowie die Kinderärzte machen sowieso nicht mit, denn ihre Stellung soll durch die Reform eher gestärkt werden. Der Gynäkologe Albrecht Scheffler aber ist dabei.

    Die Praxis von Albrecht Scheffler, das machte er vorher am Telefon unmissverständlich klar, bleibt an diesem Tag geschlossen. Besucher sollten lieber laut klopfen, damit sie Einlass bekommen.

    Ich habe an die Praxisschilder Zettel ankleben lassen, wer als Notarzt einzuspringen hat. Da steht auch drauf, warum wir zugemacht haben. Vor der Tür stand eine einzige Patientin, ansonsten ging das Telefon ab und zu, aber kein großer Run, relativ ruhig.

    Der Gynäkologe gehört zu jenen Fachärzten, die schon seit vielen Jahren eine Praxis betreiben. Dr. Scheffler ist engagiert beim Streik, den er nicht so nennen würde, er sagt lieber Protestaktion. Das mag auch mit seiner Doppelrolle zusammenhängen, denn er ist zugleich Sprecher der Gemeinschaft der fachärztlichen Berufsverbände in Berlin. Als Hauptopfer der gegenwärtigen Reformvorhaben hat er vor allem jüngere Kollegen ausgemacht.

    Es geht nicht um die paar Ärzte, die ihr Feld bestellt haben. Es geht um den Nachwuchs. Ich muss auch für die sprechen, die derzeit mit 300 oder 400.000 Euro bei der Bank in der Kreide stehen und abzahlen müssen. Und es gibt ja zudem Zahlen, dass viele Ärzte derzeit mit 2.000 Euro den Monat bestreiten müssen. Diese schöne alte Vorstellung Arzt gleich dicker Porsche und ein Haus in Monaco ist längst vorbei.

    Sollten die Ideen der Reformer wahr werden, dann befürchtet Scheffler das große Sterben seiner Zunft. Die Fachpraxis von nebenan würde dann in die Kliniken verlagert. Und überhaupt, wer wolle denn in Zukunft noch Gynäkologe sein? Schon heute würden mehr als 30 Prozent der studierten Mediziner hierzulande nicht Arzt mehr werden wollen.

    Wenn wir keinen Nachwuchs kriegen, dann werden wir Gastarbeiter aus Polen oder etwa aus Indien haben. Und die haben möglicherweise ein anderes Verständnis von der Medizin und den psychosomatischen Verhältnissen, die wir hier entwickelt haben. Ich kann nur warnen: Diese Menschen sind viel sparsamer, viel zurückhaltender und sind nicht so verwöhnt wie wir. Das wird ein böses Erwachen geben.

    Dass die Ärzte die Hauptverursacher der Kostenlawine im Gesundheitswesen sein sollen, erzürnt Albrecht Scheffler regelrecht.

    Die niedergelassenen Ärzte verantworten maximal 16 Prozent des Gesamtkuchens. Und wir werden ständig hingestellt als Preistreiber und Miesmacher des Systems.

    Von einem Misserfolg der Berliner Streikaktionen will der Gynäkologe erst mal nichts wissen. Und selbst, wenn dem so sei - ein Ziel sei sehr wohl erreicht worden. In Gesprächen mit den durchaus interessierten Patienten und mit den Medien, die darüber berichtet haben.

    Das Entscheidende ist erst mal, dass die Bevölkerung erlebt hat, verstanden hat, dass sich eine Reform anbahnt. Und wenn allein die Tatsache entsteht, dass der potentielle Patient, der jetzt noch gesunde, merkt, hier läuft etwas. Es wird sich etwas ändern, dann ist eigentlich schon erreicht worden, was wir wollten.

    Ulla Schmidt lässt sich vom Ärzteprotest nicht von ihren Plänen abbringen. Aber ein bisschen dünnhäutiger ist die stets freundlich lächelnde Ministerin schon geworden. Zum Neujahrsempfang der Ärzte, auf dem sie sonst traditionell redet, erschien sie gar nicht erst. Ganz offensichtlich ist das Verhältnis gründlich gestört, wie folgende Äußerung belegt:

    Wenn in der KBV-Versammlung und auch in so Diskussionen un-widersprochen stehen bleiben kann, dass jemand sagt, der billigste Patient ist der, der auf der Warteliste stirbt - oder: Wir organisieren einen Prozess, der für die Patienten das Probesitzen in der Hölle bedeutet, da muss ich sagen, da habe ich wenig Lust, dass ich dann auch noch zu Feierlichkeiten da gehen muss.

    Besonders freundlich wäre sie dort wohl sowieso nicht empfangen worden. Die Ministerin tröstet sich damit, dass sie diejenigen, für die sie die Reform in erster Linie macht, auf ihrer Seite wähnt:

    Wir haben eine breite Unterstützung bei den Sozialverbänden, bei Patientenverbänden, bei Verbraucherschutzverbänden, bei den Gewerkschaften, weil sie sagen, wir brauchen wieder eine Politik und eine Reform, die den Patienten in den Mittelpunkt stellt und die versucht, die Strukturen so zu organisieren, dass wir das, was zuviel, zu wenig oder was falsch gemacht wird in unserem System nach Möglichkeit minimieren.

    Auch solche Töne hören Ärzte ungern. Die meisten ihrer Funktionäre bestreiten, das es gravierende Mängel im System und bei der medizinischen Versorgung gibt - sieht man einmal davon ab, dass angeblich Geld für bessere Behandlung und Diagnose fehlt. Apropos Geld. Selbst Richter-Reichhelm schwant, dass es schwer wird, der Öffentlichkeit und der Politik glaubhaft zu machen, dass die Ärzte eine Staats- und Zuteilungsmedizin fürchten und deshalb protestieren. Er räumt ein...

    ..., dass dieses eine Gratwanderung ist, die hier die Ärzteschaft macht, weil sie vordergründig natürlich in den Verdacht gerät, dass sie es nur des Geldes wegen tut.

    Mammon allein, das beteuern alle Protestler im weißen Kittel, sei es nicht. Und Verantwortungsbewusstsein hätten sie auch. Das wirklich Wichtige werde erledigt, betont Streikarzt Uwe Carsten Lock:

    Ich behandle heute Tumorpatienten, Schmerzpatienten. Ich mache Verbandswechsel - das ist eigentlich alles.

    An einem normalen Arbeitstag hat der Berliner Urologe bis zu 60 Patienten täglich. Doch seine Praxis in Tempelhof gehört schon am ersten Tag zu den bestreikten Bezirken der Hauptstadt. Beim Streik macht er mit, obwohl er auch an diesem Tag Patienten einen Termin gegeben hat - so um die zehn Kranke sollen es sein. Die freundliche Arzthelferin hat somit eine Aufgabe, sie soll Leute abwehren.

    Junge Männer, die irgendwo Schmerzen haben, die vielleicht nicht akut sind - das kann man im Gespräch rausbekommen. Die etwa diese Beschwerden schon ein paar Wochen haben, und glauben, heute sei ein günstiger Tag zur Behandlung. Das wäre das, was mir jetzt spontan einfällt.

    Die Patienten, die da sind, haben vom Streik natürlich gehört. Sie sind aber dennoch froh, heute hier sitzen zu dürfen. Die Beweggründe der Ärzte - sie erzeugen kein eindeutiges Meinungsbild. -- Nun ja, angeblich haben sie zuwenig Geld, nich. Es wird ihnen alles gestrichen." - "Ich kann es nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, wie die realen Einkünfte für die Ärzte sind. Wir sind ja heute alle recht bescheiden geworden, deswegen find ich es nicht gut!" - "Ich kann die Ärzte ja verstehen. Die Ärzte können das nicht verschreiben und das nicht, obwohl sie gerne helfen wollen. Aber mit dem Streiken, das wird ja wohl auch nicht so helfen. Ich weiß es nicht.

    Streikbereitschaft bei Ärzten ist das eine, Streikverständnis bei Patienten das andere. Und eine Erkenntnis aus diesem Berliner Protest, der unter den Erwartungen bleibt, ist die einfache Tatsache, dass beispielsweise Maschinenbauer beim Streik recht einfach die Produktion stoppen können, wenn sie denn wollen. Bei Medizinern ist das etwas anderes, sie haben es mit Menschen zu tun. Und so wird auch in der Praxis des Urologen Uwe Carsten Lock an diesem Streiktag nicht jeder abgewiesen. Eine alte Dame kommt spontan in die Praxis und darf vorbei an der gar nicht so strengen Arzthelferin.

    Das ist eine jahrelange Patientin mit einem Tumor. Die werde ich nicht wegschicken. Wenn die bei Regenwetter hierher kommt, weil sie Beschwerden hat, schicke ich sie nicht nach Hause!

    Und deshalb hat auch die alte Dame so gut wie gar nicht mitbekommen, dass die Ärzte in Berlin eigentlich streiken wollten.

    Gestern stand es in der BZ, aber heute merk ich nichts. Ich war schon beim Hausarzt, der hat mich normal behandelt. gestellt werden.