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Der afghanische Scherbenhaufen

Die bedachtlose Verbrennung von Koranen in Afghanistan haben blutige Proteste ausgelöst. Gläubige Muslime empfinden die Schändung des Koran als Todsünde - und Afghanistan ist ein extrem konservatives Land. Nach 30 Jahren Krieg ist Religion für viele der einzige Kompass.

Von Sandra Petersmann |
    "Tod den USA", "Tod für Obama", "Tod der Nato" - eine Woche lang sind diese wütenden Protestrufe in weiten Teilen Afghanistans zu hören – ausgelöst durch die gedankenlose Koran-Verbrennung auf dem US-Stützpunkt Bagram nördlich von Kabul. Die heiligen Schriften waren Taliban-Häftlingen des dortigen Militärgefängnisses weggenommen worden, um zu verhindern, dass sie über den Koran Nachrichten austauschen. Afghanische Arbeiter stoppen die Verbrennung - und verbreiten die Nachricht außerhalb des Lagers.

    Afghanischer Lagerarbeiter in Bagram: "Wir haben den US-Soldaten gesagt, dass wir bis zu unserem letzten Blutstropfen für den Koran und für Gott kämpfen werden - egal wie mächtig sie sind. Wir haben gesagt, dass wir bereit sind, als Märtyrer zu sterben."

    Die Verantwortlichen der internationalen Schutztruppe erkennen die Sprengkraft des Vorfalls sofort. General John Allen, der Oberbefehlshaber der NATO-Soldaten in Afghanistan, wendet sich nur wenige Stunden später mit einer Videobotschaft an die afghanische Bevölkerung:

    "Ich habe die Untersuchung eines Vorfalls angeordnet, von dem ich letzte Nacht erfahren habe. Danach hat ISAF-Personal auf dem Luftstützpunkt Bagram große Mengen religiösen Materials unangemessen entsorgt, darunter auch Exemplare des Koran. Als wir davon erfahren haben, sind wir sofort eingeschritten. Wir nehmen den Vorfall sehr ernst, und wir werden dafür sorgen, dass das nicht wieder vorkommt. Ich versichere Ihnen und verspreche Ihnen, dass das nicht absichtlich passiert ist - und ich entschuldige mich bei Ihnen."

    Selbst US-Präsident Barack Obama entschuldigt sich für die Koran-Verbrennung, doch die Gewalt ist da schon nicht mehr zu stoppen. Viele tausend Afghanen tragen ihre Wut und ihre verletzten religiösen Gefühle auf die Straße. Radikale Extremisten wie die Taliban können die aufgeheizte Stimmung gnadenlos ausnutzen. Afghanistan ist ein extrem konservatives Land. Nach über 30 Jahren Krieg und Gewalt ist die Religion für viele der einzige Kompass. Gläubige Muslime empfinden die Schändung des Koran als Todsünde. Er gilt als das direkte Wort Gottes.

    In den Tagen des Zorns kommen mehr als 30 Menschen ums Leben. Bomben explodieren. Schüsse peitschen. Brandsätze und Steine fliegen durch die Luft. Militärcamps, die UNO und Regierungsgebäude werden angegriffen. Nicht nur der Westen, auch Präsident Hamid Karsai als dessen Marionette steht am Pranger. Nach sechs blutigen Tagen wendet sich Karzai schließlich mit einer Fernsehansprache an sein Volk. Am Tag zuvor sind im Kommando-Zentrum des Innenministeriums zwei NATO-Militärberater gestorben - vermutlich erschossen von einem afghanischen Geheimdienstoffizier:

    "So berechtigt unsere Gefühle und unsere Trauer auch sind, wir müssen Ruhe bewahren. Wir dürfen den Feinden des Friedens, der Stabilität und der Entwicklung Afghanistans nicht erlauben, das afghanische Volk zu missbrauchen."

    Die getöteten Demonstranten nennt Karsai Märtyrer - und er fordert die Bestrafung der US-Soldaten, die an der Koran-Verbrennung beteiligt waren. Als Reaktion auf die tödlichen Schüsse im Innenministerium ziehen die NATO und westliche Staaten wie Deutschland ihr militärisches und ziviles Personal aus den afghanischen Behörden ab. Doch US-Botschafter Ryan Crocker in Kabul will von einem Scheitern der westlichen Mission nichts wissen:

    "Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zu entscheiden, wann wir in Afghanistan fertig sind. Wir müssen unsere Anstrengungen nochmals verdoppeln. Sollten wir jetzt entscheiden, dass es uns reicht, dann freuen sich Al Kaida und die Taliban."

    Crocker wertet es als Erfolg, dass es in Taliban-Hochburgen wie Kandahar und Helmand im Süden Afghanistans während der Tage des Zorns relativ ruhig bleibt. Tatsächlich: Die größten Ausschreitungen gibt es im sonst so stabilen Herat im Westen - und im Einsatzgebiet der Bundeswehr im Norden. Inzwischen ist der Massenprotest abgeebbt und hat Platz gemacht für die alltägliche Realität des Krieges. Adrienne Woltersdorf, die Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, spricht von getrennten Welten:

    "Die Beziehungen des Westens zu Afghanistan sind sicherlich auf einem neuen Tiefpunkt angekommen. Es ist eben eine Krise des gegenseitigen Vertrauens, aus der es so schnell keinen Ausweg mehr geben wird."

    Die politische Stiftung ist vom Rückzug der staatlichen Berater nicht betroffen, doch auch Adrienne Woltersdorf spürt in ihrer Arbeit, dass sich etwas verändert hat seit der Koran-Verbrennung von Bagram:

    "Es herrschen wie immer in Kabul ganz wilde Gerüchte und Verschwörungstheorien, was da alles dahinter stecken könnte, man glaubt nicht mehr, dass das dumme Zufälle sind von vielleicht ungebildeten Soldaten, sondern man hält es für eine systematische Provokation, gerade jetzt in diesem aufgeheizten politischen Klima der anstehenden Friedensgespräche der USA mit den Taliban. Das alles fällt hier auf einen sehr fruchtbaren Boden der Frustration, der Angst und der großen Verunsicherung."

    Geplatzte Träume, schlechte Lebensumstände, Ärger über die Ausländischen Truppen und die eigene Regierung - da hat sich viel zusammengebraut. Rund 70 Prozent der Afghanen sind Analphabeten. Ihre wichtigste Informationsquelle ist das Hörensagen. Wahid Muzhda hat während des Taliban-Regimes im Außenministerium gearbeitet. Heute ist er Geschäftsmann und politischer Berater:

    "Dem Westen bleibt bis 2014 keine Zeit mehr, seine Fehler wieder gutzumachen. Es gibt einfach rote Linien, die man nicht überschreiten darf. Und wenn man es tut, dann ist es unentschuldbar. Für Muslime hat der Koran eine andere Bedeutung als die Bibel für die Christen. Wenn ihr den Koran schändet, dann ist es egal, ob ein Afghane Soldat, Polizist oder ein Taliban-Kämpfer ist. Dann ist er euer Gegner. Niemand kann die Afghanen zwingen, ihre Religion aufzugeben. Der Westen hätte von Anfang an eine andere Strategie haben müssen, um ein sicheres Afghanistan zu schaffen und das Vertrauen der Afghanen zu gewinnen."

    Der Ex-Talib vergleicht die Fehler der Staatengemeinschaft mit denen der sowjetischen Besatzer in den 80-er Jahren. Wenn der Westen ein sicheres Afghanistan wolle, so Wahid Muhzda, dann müsse er dem Land seine Unabhängigkeit und Neutralität lassen. Heißt im Klartext: Abzug aller Soldaten, Aufgabe aller Militärstützpunkte, Ende der Regierung Karsai. Trotz neuer tödlicher Schüsse auf seine Soldaten durch verbündete afghanische Sicherheitskräfte hält NATO-General John Allen hält dagegen:

    "Wir haben eine starke Beziehung zu den Menschen in Afghanistan. In der Welt, in der ich mich bewege, kämpfen wir Seite an Seite mit unseren afghanischen Kameraden. Wir sind zusammen im Einsatz, auch jetzt, in diesem Moment, in ganz Afghanistan. Wir vertrauen einander und wir glauben aneinander. Wir sind stärker als dieser Rückschlag, den wir erlitten haben."

    Nach mehr als 10 Jahren Krieg wird sich der Westen nicht auf einen Rückzug einlassen, bei dem die NATO-geführte Allianz wie ein Verlierer aussieht. Außerdem wollen die USA in Afghanistan militärisch präsent bleiben. Von ihren Stützpunkten in Bagram und Kandahar können sie die Nachbarländer Pakistan und Iran erreichen. Gleichzeitig ist das ein Signal an China.