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Der Aktivist Marko - eine Zugfahrt - Der Neonazi-Aufmarsch in Kiew

Die wechselhafte Geschichte und die unterschiedlichen Herrscher der Ukraine spalteten das Land derart, dass es schwer fiel in diesem politisch und kulturell geteilten Land einen einheitlichen Staat zu gründen. Die Herrschaft der beiden Großmächte war äußerst unterschiedlich, der Westen der Ukraine genoss unter der Monarchie des Donaureiches alle Rechte des Vielvölkerstaates.

Von Andrea Rehmsmeier |
    Der Osten litt zunächst unter dem absolutistischen Russland, später unter Stalin. Er ließ die ukrainische Intelligenz ermorden und die Landbevölkerung verhungern. Mit Beginn des zweiten Weltkrieges fiel im Zuge des Hitler-Stalin Paktes auch die Westukraine an die Sowjetmacht. Als 1941 deutsche Truppen in die Westukraine einmarschierten wurden sie dort von verschiedener Partisanenverbänden massiv unterstützt. Viele hofften mit Hilfe der deutschen Wehrmacht die russischen Großmacht zu vertreiben. Das brachte den West-Ukrainern den üblen Ruf von Nazis Sympathisanten. Mit diesem Missverständnis wird auch heute noch Politik gemacht. Es gehört sozusagen zur politischen Kultur im Land, dass die Regierung der Opposition (und ihrem europäisch orientierten Kandidaten) eine rechtextreme wenn nicht gar nationalsozialistische Gesinnung unterstellt.

    Es ist kurz vor Mitternacht. Im Nachtzug Lvov – Kiev sind die alle Abteile dunkel und aus den Kojen dringt das tiefe Atmen der Fahrgäste. Nur im Speisewagen brennt das spärliche Licht einer Glühlampe. In ihrem Kegel treffen sich diejenigen, die noch keinen Schlaf finden. Plaudernd stehen sie um die Stehtische herum, während das Geruckel des Zuges den Cognac in den Plastikbechern hin- und herschwappen lässt. Etwas abseits stecken zwei junge Männer ihre Köpfe zusammen.

    Ich bin damals in eine radikale Partei eingetreten, weil ich dachte, dass man radikale Methoden braucht, um das politische System der Ukraine zu verändern.

    Marko-Valera und sein Freund Ostab reden über Wahlmanipulation, Neonazis und polizeiliche Schlägertrupps: Sie sind politische Aktivisten. Sie haben eine Gruppe gegründet, die sich "Dritte Republik" nennt: Sie will der Opposition an die Macht helfen und das korrumpierte Staatssystem stürzen. In dieser Mission sind auch Marko und Ostab unterwegs. Ihr Einsatzgebiet für den morgigen Tag ist Kiew, wo Neonazis einen Fackelaufmarsch planen. Eine höchst verdächtige Veranstaltung, findet Marko, denn angeblich wollen die Neonazis Wahlwerbung für den Oppositionskandidaten Viktor Júschtschenko machen. Marko vermutet eher das Gegenteil.

    Die ganze Aktion wird sehr faschistoid aussehen. Angeblich ist es eine Wahlkampfkampagne zugunsten von Júschtschenko, zumindest werden sie das hinterher im Fernsehen erzählen. Die Menschen in der Ostukraine sollen glauben, dass Júschtschenko ein Faschist ist. Das Ganze ist eine miese Täuschungsaktion, die von höchsten Regierungskreisen finanziert wird, um die Opposition in Misskredit zu bringen. Meine Aufgabe morgen ist, das zu verhindern – mit meiner Überzeugungskraft, meinen Methoden und meinem Einfluss.

    Die Rechtsextremisten im Präsidentschaftswahlkampf – keine eigenständige politische Kraft, sondern käufliche Marionetten von Präsident Kutschma und seinem Kronprinzen Janukóvitsch. So sieht es Marko. Heute trägt der 28-Jährige seine Haare lang, und niemand würde vermuten, dass er seine Jugend in den straffen Kadern der extrem nationalistischen Partei Una-Unso verbrachte. In den 90-er Jahren hat sie viele Westukrainer in ihren Bann geschlagen – mit militärischem Outfit und radikalen Parolen. Marko ist aus der Una-Unso bald wieder ausgetreten. Seine politischen Ansichten aber sind radikal geblieben.

    Wenn ein Mensch Krebs hat, dann hilft keine sanfte Medizin, dann muss man ihn rausschneiden. Sonst wird es hier bald zugehen wie in Lateinamerika: Jeder, der genug Schmiergeld nach rechts und links verteilt, darf schwer bewaffnet durch die Straßen laufen und damit angeben, was für ein schlimmer Verbrecher er ist. Unser korruptes System hat die Ukrainer zu willenlosen Arbeitssklaven gemacht. Die machen ihren Job sogar noch, auch wenn sie keinen Lohn dafür ausbezahlt bekommen. Wenn man Ukrainer schlägt, dann sagen sie: Danke dafür, dass der Schlag nicht hart war. Wenn man sie hart schlägt, sagen sie: Danke, dass du mir nicht den Schädel eingeschlagen hast. Wenn man ihnen den Schädel einschlägt, sagen sie: Danke, dass es nicht tödlich war. Wenn sie daran sterben, sind ihre letzten Worte: Danke, dass ich nicht leiden musste. Das habe ich selbst erlebt. Und verstanden, dass man das ändern muss.

    Extreme Ansichten von einem, der extreme Erfahrungen gemacht hat. Im Tschernobyl-Jahr 1986 war Marko zehn. Seine Mutter war immer eine überzeugte Sowjetbürgerin gewesen. Nun ging sie im radioaktiven Regen demonstrieren und schrie ihren Hass auf die verlogene Staatspolitik heraus. Als die Ukraine unabhängig wurde, war Marko 15. Er begeisterte sich für die Wiedergeburt der ukrainischen Sprache und Kultur und hing an den Lippen der Politiker, die von "Demokratie", "Bürgerrechten", "freien Spiel der Marktkräfte" redeten. Gleichzeitig leiteten sie das Volksvermögen auf ihre privaten Bankkonten um. Mit 17 sah Marko Rentner auf offener Straße verhungern, während er selbst Putzstellen annahm, um das nötige Schmiergeld für einen Ausbildungsplatz zusammenzukratzen. Mit 19 wurde nachts beim Plakate-Kleben erwischt, mit Knüppeln schlugen die Polizisten ihm auf die Handgelenke. In dieser Nacht lernte er, dass die Staatsmacht sein Feind ist. Und er begann, die Methoden seines Feindes zu studieren.

    Es geht nur darum, den Leuten, die anders denken, Angst einzujagen. Vor ein paar Jahren ist mir Folgendes passiert: Ein Milizionär kommt, nimmt meinen Pass und schmeißt ihn in die Mülltonne. Dann nimmt er mich fest, weil ich mich ja nicht ausweisen kann. Auf der Polizeistation wollte ich telefonieren. Da sagen sie zu mir: Warte nur, wir schicken dir schon jemanden, der dir deine Rechte erklärt. Dann haben sie mich verprügelt – ohne einen einzigen blauen Fleck auf meinem Körper zu hinterlassen. Das sind systematische Einschüchterungsversuche. Damit man sich fragt: Lohnt es sich, trotz allem weiter in der Opposition zu bleiben?

    Marko IST in der Opposition geblieben. Nur Anfängerfehler, wie: sich verprügeln zu lassen, begeht er heute nicht mehr. Heute steckt er den Beamten ein Scheinchen zu, bevor es brenzlig wird, das klappt gut. Heute gilt sein politischer Kampf den Rechtsextremisten. Nicht etwa, weil er besonders viel von Demokratie hält – dieser Begriff klingt ihm zu sehr nach der Verlogenheit des Kutschma-Regierung. Sondern weil die rechtsextremen Parteien selbst zu einem Teil dieses korrupten Staatssystems geworden sind.

    Kiev am nächsten Tag

    Kiev, am nächsten Tag. Es ist 19 Uhr – und alles läuft anders als geplant. Mit der Abenddämmerung sind schwere Regenwolken aufgezogen - damit ist die Hoffnung der Rechtsextremisten auf einen medienwirksamen Fackelmarsch dahin. Ratlos stehen die Kamerateams unter dem schützenden Laubdach der Bäume. Die Aktion wird wohl keine guten Nachrichtenbilder hergeben: Nur eine Handvoll Funktionäre der rechtsextremen Splitterpartei UNA drängelt sich unter Regenschirmen. Der Parteivorsitzende, Eduard Kovalenko, hat stahlblaue Augen, gegeltes blondes Haar und einen Seitenscheitel, der wie mit einem Lineal gezogen ist. Auch Marko ist zur Stelle. Sein verächtlicher Blick ruht auf den schwarzen Partei-Luxuskarossen.

    Jetzt schau sich einer diese Wagen an! Da muss sich doch jeder Idiot fragen, womit diese Typen soviel Geld verdienen! Niemand, der heute auf ehrliche Weise arbeitet, kann sich ein Auto leisten, das 50 000 oder 60 000 Dollar kostet!

    Plötzlich kommen drei Kleinbusse auf den Platz gefahren, mit dem Parteiemblem "Unsere Ukraine" an den Seitentüren. Marko atmet erleichtert auf: Oppositionskandidat Júschtschenko schickt seine Abgeordneten. Die werden jetzt gegen ihre unerwünschten Anhänger aus dem rechtsextremen Lager Stellung beziehen. Marko fühlt sich wie der Held des Tages: Unter einem Vorwand hatte er sich nachmittags in die Parteizentrale der Neo-Nazis eingeschlichen. Diese hatten gerade gehört, dass die Júschtschenko-Partei eine Gegendemonstration plant: So disponierten sie Zeit und Ort des Aufmarschs kurzfristig um. Marko aber leitete die aktuellen Veranstaltungsdaten per Handy an die Opposition weiter – und nun sind die Júschtschenko-Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Einer von ihnen: der Abgeordnete Taras Tetskij.

    Diese Leute sind direkt von der Präsidialverwaltung bestochen. Das wissen wir von unseren Informanten. Alles deutet darauf hin, dass Präsident Kutschma selbst sich diese Aktion ausgedacht hat, zusammen mit seinem Verwaltungschef Medvetschuk. Kutschma profitiert davon, wenn er den Oppositionskandidaten Júschtschenko als Anführer der Nationalisten und Faschisten darstellt. Das ganze faschistoide Tam-Tam brauchen sie nur, um die Aufmerksamkeit des Fernsehens zu erregen - sehen Sie, die Kanäle der Oligarchen sind vollzählig versammelt! Die sollen den Naziaufmarsch filmen und die Bilder in der Ostukraine zeigen. Damit die Leute dort glauben, dass Júschtschenko mit den Faschisten zusammenarbeitet!

    Die Parteien haben auf entgegengesetzten Seiten des Platzes Stellung bezogen: Aus den Lautsprechern des Júschtschenko-Kleinbusses dringen antifaschistische Parolen, gegenüber redet Nationalisten-Führer Kovalenko von Vaterlandsliebe und nationaler Idee. Auch die Statisten des Wahlkampf-Spektakels haben sich inzwischen auf dem Platz versammelt. Es sind ein paar Dutzend Studenten. Marko hat gehört, dass man ihnen zwei Euro dafür versprochen hat, wenn sie Kovalenko medienwirksam zujubeln und hin und wieder: "Heil Júschtschenko!" skandieren. Doch nichts dergleichen: Die Studenten ziehen ihre Regenkapuzen tief ins Gesicht und ducken sich unter dem Megafon-Gewitter. Und ausländischen Journalisten Interviews zu geben, darauf haben sie erst recht keine Lust.

    Bitte fragen Sie uns nicht! Wir schämen uns!

    Was fragen Sie uns, warum wir hier sind? Schauen Sie sich doch um, urteilen Sie selbst! Nein im Ernst, gehen Sie weg, fragen Sie jemand anderen! Sie sind wohl aus dem Ausland und wissen nicht, wie man hier Politik macht? Dann will ich Ihnen eines sagen: Heute habe ich meine Gasmaske dabei, für Notfälle. Meine Ukraine-Flagge habe ich zuhause gelassen. Es gibt verschiedene Parteien, die ihre Interessen mit Geld durchzusetzen versuchen. Und heute zahlen sie nicht besonders gut. Ich bin für den Frieden!

    Liebe Studenten! Lasst euch nicht für Provokationen benutzen! Das Geld, mit dem man euch bezahlt, ist aus dem ukrainischen Haushalt gestohlen! Und jetzt wird es verwendet, das Regime, das es geklaut hat, an die Macht zu bringen! Studenten! Sie bezahlen euch mit gestohlenem Geld! Es sind die Kopeken, die als Gehalt für eure Eltern gedacht sind! Und für eure Stipendien! Lasst nicht zu, dass sie euch für so etwas benutzen! Nehmt nicht teil an diesen Provokationen! (TUSCH)

    Allgemeines Gemurmel (Weiß ich auch nicht - ausprobieren!)

    Für die Neo-Nazis läuft die Veranstaltung gar nicht gut. Die durchweichten Fackeln wollen nicht brennen, und die Flaggen mit dem Runenschrift-Logo "SSS" kleben triefend an den Fahnenstangen. Nun stehen alle zusammen in den peitschenden Böen: Studenten, Reporter, Rechtsextreme und Parlamentsabgeordnete. Selbst Kovalenko scheint nicht wirklich bemüht, den Anwesenden seine politischen Visionen nahezubringen. Er schaut auf das traurige Häufchen, dass da am Fuße seiner Rednertribüne bibbert, und lässt schulterzuckend das Mikro sinken. Dennoch sind am Ende dieses Tages fast alle zufrieden: Die Opposition, weil es heute keine Nachrichtenbilder von marschierenden Kolonnen geben wird. Marko, weil er glaubt, dass er allein das Täuschungsmanöver vereitelt hat. Kovalenko, weil er sein Geld wohl trotzdem bekommen wird. Nur die Studenten, so hört man später, sollen an diesem Abend noch vergeblich Schlange gestanden haben. Nachdem die ersten ihre 15 Grivna erhalten hatten, war die Kasse leer.