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Der alte Herr und das schöne Mädchen

Es ist die alte Geschichte: Ein älterer Herr fühlt noch einmal Neigung für ein schönes Töchterchen, ein süßes Kind, ein holdes Mägdlein. Und wenn der alte Herr nicht immer schon so gut war wie das Mädchen schön, so wird er es eben jetzt. Goethe zählte vierundsiebzig, als er unverhofft noch einmal in einem "leidenschaftlichen Zustand" für ein "Töchterchen" und schönes "Kind" entbrannte, das vier mal jünger war als er, aber reif genug, den Antrag freundlich abzulehnen. Andernfalls müßte das Goethe-Jahr wohl ohne Marienbader Elegien auskommen, was dem Dichter sicher auch nicht recht wär. "Allein der große Begriff der Pflichten" versüßte ihm daher den Schmerz :"Ich habe keine Sorge, als mich physisch im Gleichgewicht zu bewegen, alles andere gibt sich von selbst. Der Körper muß, der Geist will, und wer seinem Wollen die notwendige Bahn vorgeschrieben sieht, der braucht sich nicht zu besinnen", schrieb der Dichter. Und dann schrieb er den Faust II.

Gabriele Killert | 01.07.1999
    Um zu Italo Svevos Geschichte und seinem Helden und dessen Marienbader Erlebnis zu kommen: der gute alte Herr ist hier erst sechzig, das schöne Mädchen zwanzig und Trambahnfahrerin der Triestiner Straßenbahnbetriebe um die Jahrhundertwende. Sie hat eine Art, dem alten Kasten mit ihrem nervösen Füßchen die Sporen zu geben, daß er fast aus den Schienen springt und wenigstens beim alten Herrn, der neben ihr an der Halteschlinge hängt, die heftige Spontanremission eines alten Lasters bewirkt, das er schon für ausgestanden hielt.

    Dann geht alles ganz schnell. Einladung, Champagner, Geldgeschenke, Komplimente, Lügen. "Unser alter Herr sagte sich: >Das ist also das erste echte Abenteuer seit dem Tod meiner Frau. < In der Sprache der alten Herren ist ein Abenteuer echt, wenn auch das Herz dabei ist." Für solche Herzlichkeit revanchieren sich die jungen Mädchen bei den alten Herren gern mit dem Hinweis, daß sie "ihr erster Liebhaber" seien. Die Paartherapeuten nennen so etwas Kollusion -von colludere, zusammenspielen- und sie meinen damit, daß das Spiel nicht lange gut geht, weil jeder von seinem Prae, hier: Alter & Geld versus Jugend & Schönheit irgendwann anfängt, unlauteren Gebrauch zu machen. Ein Spiel mit gewöhnlich zwei Verlierern. Bei guten alten Herren und schönen jungen Mädchen kann es nur einen Verlierer geben.

    Und hier bereichert Svevo den alten Komödienstoff von Plautus bis Molière, Cervantes bis Heinrich Mann tatsächlich noch um eine neue Variante. Was Cervantes‘ Eifersüchtiger Extremadurer als Gehörnter, sehr spät also erst erkennt, daß "das Weib.. zum Verderben meiner Ruhe und zur Verkürzung meines Lebens in die Welt geboren wurde" - darauf stößt Svevos Held die alte Pumpe, sein Herz, das tatsächlich mit von der Partie ist, insofern es rast und hämmert und in Albträumen von Nagetieren penetriert wird. Das kommt von der Eifersucht, der beißenden. Es entbrennt ein heftiger Kampf zwischen Gesundheit und Libido, den das Gewissen salomonisch entscheidet: "Sünde war, was der Gesundheit schadete".

    Die Libido macht nun einen brüsken Gestaltwandel durch. Der alte Herr fängt an, sein Töchterchen zu erziehen, will, daß sie tugendhaft wird, vor allem die Finger von alten Männern läßt (was ihr vielleicht gar nicht so schwerfallen wird, weil er sie zu seiner Generalerbin einsetzt.) Er gibt ihr Geld, ohne daß sie etwas anderes dafür tun muß, als seinen Predigten zu lauschen. Er glaubt plötzlich, "etwas zu sagen zu haben", und fängt an, gründlich nachzudenken Über die Beziehungen zwischen Alter und Jugend und "eines Tages ..entstand im Kopf des alten Herrn die Theorie, die reine Theorie, aus der er und das junge Mädchen getilgt waren." Der alte Herr steht sozusagen vor seinem Faust II.

    Was wir im folgenden erleben, ist die Konversion der ersterbenden Begierde in Moral. Es ist die Geburt der Wissenschaft, der Philosophie, der Moraltheologie aus dem Geiste geschrumpfter Manneskraft. Tollkühne Ansätze finden sich da, wie die nachrückende Welt durch die Tugendherrschaft der Alten beglückt werden kann, die ja nichts anderes seien, als schwach gewordene junge Menschen. Der "Falke", die überraschende Wendung am Schluß der Novelle kann natürlich nicht der Tod des guten alten Herrn sein. Der ist unausweichlich. Die Überraschung ist vielmehr die brüske Art, mit der der alte Herr der Theorie, in deren Gesellschaft er in seinem keuschen Bett einen so ruhigen Schlaf gefunden hatte, am Ende den Garaus macht.

    Die Freud‘schen Theorien hatten es von Wien nach Triest nicht weit, um in Svevos Literatur wohl erstmals eine so sublime Anwendung und gleichzeitig spöttische Falsifizierung zu erfahren. 1918, bevor er sein Hauptwerk, den Roman "Zeno Cosini" schrieb, hatte Svevo zusammen mit seinem Neffen die Traumdeutung ins Italienische übersetzt. Freuds Thesen interessierten ihn aber nur insoweit, als sie den Ansatz der Komödie vertraten, das heißt die Lüge dechiffrieren halfen, nicht, wo er fand, daß sich neue Irrtümer und Lügen anschickten, sich gar wissenschaftlich zu etablieren.

    Die kleine Novelle steckt voller freudianischer Bosheiten gegen die Psychoanalyse. Spitzen gegen Totem und Tabu: erst das "Inzestverlangen" des alten Herrn nach seinem "Töchterchen" und dann die schreckliche Ahnung, daß er der Horde so nur schneller geopfert werden soll. Spitzen vor allem auch gegen das Sublimationskonzept der Psychoanalyse. Die Libido des guten Alten wird zwar kanonmäßig "neutralisiert", aber eben damit erklärt sich auch der dürftige Wahrheitsgehalt seiner Theorie, so daß die Kulturtechnik des Triebverzichts eigentlich auch eher von der Wahrheit wegführt.

    Svevos Ironie ist bis in die kleinste Metapher auf einer luziden Höhe wie ganze Generationen von Psychopathetikern nach ihm nicht mehr. Es ist daher schade, daß mit der Neuübersetzung von Barbara Kleiner gerade in diesem Punkt Einbußen zu verzeichnen sind. Sie ist im ganzen blasser, schwächlicher als die plastische, vitale, sich dem Rhytmus Svevo‘scher Ironie einhakende alte Rismondi- Übersetzung und wirkt bei aller Modernisierungsanstrengung doch seltsam altmodisch und pathetisch. Man hat behauptet, die alte Übersetzung von Piero Rismondi sei zu konzis, zu elegant, gemessen an der teilweise rumpelnden Syntax Svevos. Offenbar ist es aber zu schwierig, Svevos geniale Unbeholfenheit (die vielleicht doch schon eher moderne Laxheit war) so rüberzubringen, daß seine geniale Ironie, die mit Rhytmus und drive zu tun hat, erhalten bleibt.

    Es ist durchaus wahrscheinlich, daß sich die Novelle keinem Marienbader Erlebnis des Autors verdankt, sondern den einsamen Bedrängnissen eines reifen Hypochonders, der Svevo war, am vollkommensten in seinem Roman "Zeno Cosini" und in dieser kurz vor seinem Tod 1928 geschriebenen letzten Erzählung. Ihm mußte der Tod nicht erst ein schönes Mädchen über den Weg schicken. Schon mit dreißig, im selben Alter wie sein Romanheld Zeno, fühlte er sich alt und war vom Gedanken an den Tod besessen.

    Das sind eigentlich fast alle Protagonisten seiner Erzählungen und Romane, "alte Herren", die das Sterben wirklich von der Pieke auf trainieren. Diesen so auffälligen "Todestrieb" im Werk Svevos, auch in seinen Briefen kann man ganz unpathetisch lesen als Gegenstück zu seinem "Opfer an das praktische Leben". Als Sehnsuchts-Chiffre für den Wunsch nach Beendigung des "grauenvollen wirklichen Lebens", sprich seiner bürgerlichen Existenz zunächst jahrzehntelang als Bankangestellter, dann als Familienvorstand eines in Europa führenden Unternehmens (für Unterwasserschiffslacke), die ihn vom Eigentlichen, vom Schreiben abzog.

    Er schrieb notgedrungen, wie Kafka, wie Pessoa "nebenbei", Romane, die er selber verlegen mußte, Komödien, die -mit einer Ausnahme- nicht aufgeführt wurden. Schrieb unbeirrt und war schon fünfundsechzig und der Welt unbekannt und wärs auch sicher geblieben, hätte nicht ein junger Englischlehrer namens James Joyce seinen Weg gekreuzt und die wache Pariser Literaturszene auf ihn angesetzt..

    Vom "Fall Svevo" aus betrachtet, war seine Todesbesessenheit ein sehr vernünftiger Abwehrzauber. Es galt, den Feind abzulenken, indem man ihn hofierte, ihm das Schreiben schon widmete, sich ihn schon zum Komplizen machte. Man mußte durchhalten und wenn es sein mußte auch, wie Svevos Frau Livia Veneziani des öfteren beobachtet haben will, mit der Faust nach dem Unsichtbaren boxen, wobei man rief: "Ich spüre ihn kommen -den Schlag!" Und insgeheim dachte: "den Ruhm".