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Der alte Herr und die Revolution

Er war Lenins zweite Hand und Stalins Hauptfeind: Leo Trotzki. Im parteiinternen Kampf um die Nachfolge Lenins unterlag Trotzki seinem Erzrivalen und wurde 1940 im mexikanischen Exil ermordert. Der Historiker Bertrand M. Patenaude erzählt von Trotzkis Exil in Mexiko.

Von Niels Beintker | 01.11.2010
    "Stalin ist unser Banner! Stalin ist unser Wille, Stalin ist unser Sieg!"

    Die blutigen politischen Säuberungen der Jahre 1936 bis 1938 waren der traurige End- und Höhepunkt des erbitterten Machtkampfes zwischen Stalin und Trotzki, die letzte und definitive Entscheidung im Streit um das Erbe Lenins. Als die Moskauer Richter die Urteile im zweiten Prozess fällten, war der vermeintliche Vaterlandsverräter Trotzki gerade in Mexiko angekommen, der letzten Station seines Exils. Die insgesamt dreieinhalb Jahre, die er dort verbrachte, markieren den äußeren Rahmen in Bertrand M. Patenaudes biografischer Studie über den verratenen Revolutionär.

    Das Buch des amerikanischen Historikers beginnt beim fröhlichen Empfang durch die Malerin Frida Kahlo und endet mit der Ermordung des "alten Herrn" durch den Agenten Ramón Mercader. Eine kurze, aber intensive Zeitspanne, bestimmt in erster Linie durch die verzweifelten Versuche Trotzkis, wenigstens bei der historischen Deutung der sozialistischen Revolution die Oberhand gegenüber Stalin zu gewinnen. So wollte Trotzki etwa am 9. Februar 1937 auf einer Veranstaltung seiner amerikanischen Anhänger im New Yorker Hippodrome die Moskauer Prozesse kommentieren – aus Mexiko zugeschaltet per Telefon. Er hatte sich intensiv auf seine Rede vorbereitet, dann aber brach die Leitung aufgrund eines mutmaßlichen Sabotage-Anschlags zusammen. Nach einer guten Stunde wurde Trotzkis Text von den New Yorker Aktivisten verlesen: die detaillierte Widerlegung aller Anklagepunkte aus Moskau, die Kritik an den Stalin-Bewunderern in Amerika, schließlich die Bekräftigung, vor einer neutralen Untersuchungskommission Rede und Antwort stehen zu wollen. Mit einer dramatischen Erklärung, so Bertrand M. Patenaude:

    "Sollte diese Kommission zu dem Schluss gelangen, dass auch nur einer der von Stalin gegen mich erhobenen Vorwürfe der Wahrheit entspricht, so schwöre ich, mich freiwillig in die Hände der Scharfrichter der [Geheimpolizei] GPU zu geben."

    Das unabhängige Untersuchungsgremium kam dann tatsächlich zustande, unter Leitung des liberalen amerikanischen Philosophen John Dewey. Die Kommission, so zeigt Bertrand M. Patenaude, sprach Trotzki wie auch seinen Sohn Sergej Sedow am Ende der Anhörungen von allen Anschuldigungen Stalins frei und bewertete die Moskauer Verhandlungen gegen die angeblichen trotzkistischen Verschwörer eindeutig als Schauprozesse.

    Die chronologische Dokumentation der letzten und spannenden Exilzeit Trotzkis durchbricht sein amerikanischer Biograf immer wieder mit Exkursen in die Vergangenheit des Politikers. Kindheit und Jugend von Lew Dawidowitsch Bronstein, so sein eigentlicher Name, werden kurz gestreift, ebenso das erste politische Engagement, die Bekanntschaft mit Lenin, dem, er jahrelang in einer herzlichen Abneigung verbunden war, die Trotzki erst in den Wirren des Revolutionsjahres 1917 überwand. Schließlich die wachsende Rivalität mit Stalin, in deren Folge der zweite Mann hinter Lenin in die sogenannte linke Opposition des sozialistischen Parteiapparates gedrängt wurde.

    Am 25. Oktober 1926 kam es zu jener bekannten Schlüsselszene in der Geschichte der KPDSU: Stalin und Trotzki stritten sich erbittert über das politische Testament Lenins, Stalin verlangte von Trotzki völlige Unterwerfung, Trotzki wiederum zeigte mit dem Finger auf den Generalsekretär und nannte ihn einen Totengräber der Revolution. Der Bruch zwischen beiden Kontrahenten war endgültig und definitiv besiegelt, urteilt Bertrand M. Patenaude. Trotzki wurde verbannt und auch im Exil verfolgt. Nach der Gefangennahme seines Sohnes Sergej im Zuge der Säuberungen notierte der Vertriebene trotzig über Stalin in seinem Tagebuch:

    "Seine Rachegefühle mir gegenüber sind ganz und gar unbefriedigt: Schläge wurden mir sozusagen körperlich versetzt, moralisch aber ist nichts erreicht worden. Zugleich ist er aber auch klug genug, um zu verstehen, dass ich auch heute noch mit ihm nicht tauschen würde: Das ist die Quelle der psychologischen Vergiftung, in der er lebt."

    Über die tieferen Ursachen dieses zentralen politischen wie menschlichen Konflikts hätte man dann doch gerne noch mehr erfahren, zumal unter Berücksichtigung von Archivmaterialien aus Russland. Da sich Betrand M. Patenaude weitgehend auf amerikanische Quellensammlungen beschränkt, bleiben in diesem Fall leider mehr Fragen als Antworten zurück - mit Blick auf den erbitterten Kampf der beiden großen Kinder der bolschewistischen Revolution ein deutliches Manko. Bei der Lektüre dieser Biografie stellt sich zudem auch das Gefühl eines sonderbaren und gefährlichen Dualismus ein: da der böse, verbrecherische Stalin, hier der gute, arme Trotzki. So scheint es immer wieder, als wiege Trotzkis Opferrolle am Ende schwerer als das Leid, das auch in seinem Namen verübt wurde, etwa bei der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands im Frühjahr 1921.

    Vor einer deutlich kritischeren Beurteilung des am Ende gescheiterten sowjetischen Revolutionärs verweigert sich diese Biografie auf eigenartige Weise. Und die sonst so lobenswerte erzählerische Tradition in der englischen und amerikanischen Geschichtswissenschaft verstärkt dieses Gefühl noch: Immer wieder verliert sich die Darstellung in zu vielen nebensächlichen Details: Trotzkis Affäre mit der Malerin Frida Kahlo wird seitenlang ausgewälzt, der Tod des Revolutionärs, die Ermordung mit dem Eispickel, wird wie der Showdown in einem Western geschildert.

    Ramón Mercader erscheint als hässliches Männlein mit grüner Haut. Bei so viel narrativer Dichte wird das eigentliche Thema beim Blick auf diese Biografie unauffindbar überlagert: Welchen Anteil trägt Trotzki am Aufbau einer der großen Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts? Antworten muss man sich anderswo suchen.

    Bertrand Patenaude: "Trotzki - Der verratene Revolutionär"
    Übersetzung von Stephan Gebauer
    Propyläen
    431 Seiten, 24,95 Euro