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"Der Anatom"

"Wo ist denn der Mundboden?", und "wo kommt der Augapfel her?". Der Mann, der sich im Hörsaal vor der grünen Schiebetafel den weißen Kittel anzieht, macht erst einmal Ordnung auf dem mächtigen Katheder hinterm Seziertisch aus Marmor. Allerdings, nur nicht zu schnell soll es gehen, sagt er seiner Studentin, dem Fräulein Johanna Pamperl, "wir sind in Wien". Natürlich sind die gesuchten anatomischen Einzelteile allesamt Wachspräparate, keine Angst, heißt es in Richtung der Zuhörer. Die werden oft angesprochen bei diesem Monolog, werden einbezogen in die Reflexionen des grübelnden und grantelnden Mannes. Das Theaterpublikum ist vom Burgtheater in den historischen Anatomiesaal der Akademie der Bildenden Künste am Schillerplatz gebeten worden. Das "teatrum anatonicum" im Keller des Gebäudes stammt aus dem Jahr 1877, die sechs flach ansteigenden, im Halbkreis angeordneten Sitzbänke sind abgewetzt, die Wachstuchbespannung atmet gummiartigen Mief. Hier im Keller arbeitet er seit dreißig Jahren, Dr. Adler, Anatom, und jetzt das: der 58jährige ist von Entlassung bedroht. Gewarnt hat ihn der Portier, Vater seiner Studentin, und nun bleibt er bis über die normale Arbeitszeit hinaus, um ein kämpferisches Behauptungszeichen zu setzen. Zu tun hat er nichts, er wartet auf eine der Anatomie vermachte Leiche, auf eine Millionärin, eine Frau aus dem Rotlichtmilieu, und philosophiert und räsonniert derweil über sein und das Leben ganz allgemein.

Von Hartmut Krug |
    Er hat stets "in der Liebe und in den aufgebrochenen Brustkörben die Stelle gesucht, wo der Körper mit der Seele kommuniziert." Dr. Adler, der vor und mit Studenten die Leichen aufschneidet, weiß, es sind immer die anderen, die sterben, und eine Leiche ist ein toter Mensch, "da gibt es nichts zu verteidigen". "Der Schrecken ist die einzige Möglichkeit". "Der Mensch, das zusammengesetzte Wesen, caput und truncus, Kopf und Körper bestimmen ihn", weiß er, und die Arbeit bleibt als Verteidigung gegen die Herzensangst.

    Der 53jährige Schauspieler, Regisseur und Autor Klaus Pohl hat seinem Schauspielerkollegen Ignaz Kirchner diesen Monolog wie man so sagt, auf den Leib geschrieben. Er hat ihn mit diesem auch gleich als sein eigener Regisseur einstudiert. Pohl hat mit seinen ersten Stücken, dem Nachkriegs-Breitwandgemälde "Das alte Land" und dem kolportagehaften Stasi-Drama "Karate-Billie kehrt zurück", viel Aufmerksamkeit erregt. Sie kamen so poetisch-realistisch wie kritisch effekthascherisch daher. Von seinen Zeitstücken aus den 90er Jahren konnte allein "Wartesaal Deutschland. Ein Heimatabend", uraufgeführt 1995 am Deutschen Theater, größere Aufmerksamkeit erlangen. "Der Anatom" ist ein sorgfältig gebastelter Reflexions-Monolog, keine große Kunst, aber doch Anlass für einen Schauspieler. Und Ignaz Kirchner nutzt ihn. Der Schauspieler wirft sich nicht in die Rolle, sondern er schlüpft ganz allmählich in die Figur. Er setzt weder auf Wirkung, noch auf Pointen, sondern durchforscht Text und Figur, bis er beide ganz ausfüllt.

    Auf engstem Raum vor dem Publikum, doziert er über Wachspräparate, Formaldehyd-Konservierung und den Mythos vom Leichengift, und in seine praktischen Überlegungen und Erklärungen fließen immer wieder individuelle Nachdenklichkeiten und grundsätzliche Welterklärungsversuche. Der Erinnerungsbogen spannt sich vom rheinischen Tanz bis zum beantragten Hebekran für die schweren Leichen im Tröpfelbad. Ignaz Kirchner lässt sich Zeit, er durchschmeckt den Text, reduziert ihn auch geschickt um viele seine absichtlich redundanten Stellen, setzt das vom Autor epidemisch verwendete, fragend bestätigende "nicht, nicht" merklich weniger ein, und wenn, dann elegant einflechtend, er nimmt dem Pohlschen Text das so überdeutlich Erklärende und macht ihn zu einem wirklichen, individuellen Redefluss. Wunderbar, wie Kirchner die Suche nach seinem Hut, mit dem er seine tiefsten Gedanken urplötzlich unterbrechen kann, als beiläufige Charakterisierung eines pedantischen Anatoms einflicht. Wenn er die Platte des Seziertisches von eingebildeten Flecken befreit, steckt im vorsichtigen Wischen viel von der Zärtlichkeit, mit der er sich, den Kittel als Tanzpartnerin im Arm führend, über seine Tanzbegeisterung auslässt.

    Gegen sein einverständig resigniertes Fazit "die Zeit ist vorbei" flackert immer wieder eine Hoffnung auf, - auch mit dem Fräulein Pamperl würde er gern noch mal tanzen. Der Anatom räsoniert gegen manches, so zum Schluss in einer langen, geschichtspessimistischen Passage mit rückwärtsgewandtem stillen Furor gegen die moderne Technologie, und eine Revolution erscheint ihm als ein "Geschichtsfurz." Denn er brachte sein Leben mit den Individuen zu. Zwar ist der Mensch ein Kind der Eiszeit, doch jede Leiche ist auch ein Individuum. Ob Kirche oder Philosophie, Geschichte und Gegenwart: nichts ist vor den Welt- und Sinn-Erklärungsversuchen eines Mannes sicher, der am Schluss tatsächlich den blauen Brief der Kündigung erhält. Doch den steckt er ungeöffnet in die Tasche: er hat sein Leben im Reden noch einmal durchdacht. Wie der wunderbare Ignaz Kirchner den nicht sonderlich starken Text von Klaus Pohl aus der Stille in die Stärke spricht, wie er nie auf Effekte, sondern immer auf die präzise, beiläufig scheinende Charakterisierung setzt, das macht den Abend nicht gleich zu einem Ereignis, aber doch zu einem schauspielerischen Erfolg.