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Der andere Blick in den Himmel

Als der 1964 in Tours geborene Stéphane Audeguy im vergangenen Jahr sein Buch "Der Herr der Wolken" veröffentlichte, zollte ihm die französische Literaturkritik viel Lob. Wer das Buch gelesen hat, wird den Blick in die Wolken mit anderen Augen erleben.

Von Beate Berger | 29.08.2006
    Le Monde: .... bestätigen wir die Perfektion und die Intelligenz, mit der hier ein neuer Erzähler brilliert.
    Nouvel Observateur: "In einigen Köpfen wird " La Théorie des Nuages " als letztes Meisterwerk des 20. Jahrhunderts bleiben.


    "Gegen fünf Uhr abends sind alle Kinder traurig: Sie beginnen zu begreifen, dass es an der Zeit ist. Die Dämmerung naht. Sie werden wohl oder übel nach Hause müssen, brav sein, und lügen. Eines Sonntags im Juni 2005 gegen fünf Uhr abends spricht ein japanischer Modeschöpfer namens Akiro Kumo mit der Bibliothekarin, die er soeben angestellt hat. Er sitzt in der Rue Lamarck im dritten Stock seines Stadtpalais, in der Privatbibliothek, die dem Himmel zugewandt ist. (S.9)"

    Es ist kein Zufall, dass die Bibliothek des Pariser Modeschöpfers den Blick zum Himmel freigibt. Die umfangreiche Sammlung, die die junge Archivarin Virginie Latour ordnen soll, besteht ausschließlich aus Büchern, die sich mit dem Thema Wolken befassen.

    Die meisten Leute finden Wolken ganz banal; Regen, Schnee und Hagelschlag ist meistens von ihnen zu erwarten und Schönwetterwolken sind in unseren Breitengraden eher eine Ausnahmeerscheinung. Stéphane Audeguy betrachtet Wolken mit einem ganz anderen Blick. Er erinnert in seinem Roman an ihre mythischen Dimensionen und an ihre ambivalente Schönheit.

    "Der Himmel ist kein Gegenstand, er ist ein Milieu, und zwar ein scheues Milieu. Er entwischt einem, wenn man ihm zu nahe tritt, und wenn man versucht, ihn in aller Schnelle einzufangen, ist das Ergebnis brillant wie zum Beispiel ein Sturmbild von Turner; aber wenn man zu lange wartet, ist das Ergebnis kalt, ungetreu: ein akademischer Himmel. (60)"

    Stéphane Audeguy erzählt seine Geschichte der Wolken mit einer traditionellen allwissenden Erzählerstimme, die das Romangeschehen jovial aus dem Off - man könnte auch sagen aus himmlischer Perspektive lenkt.

    Hauptakteur der Romangegenwart ist Akiro Kumo, der japanische Modeschöpfer, der sich gerade aus dem Arbeitsleben zurückgezogen hat. Im Ruhestand will er sich nur noch auf seine wahre Passion konzentrieren: die Geschichte der Wolken. Um seine neue Bibliothekarin Virginie mit ihrer Aufgabe vertraut zu machen, stellt er ihr in historischen Rückblenden wichtige Wolkenforscher vor: Luke Howard zum Beispiel: Der Londoner Apotheker hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit seiner Studie "On the Modification of Clouds" ein Grundlagenwerk zu einer Klassifikation der unterschiedlichen Wolkenformationen verfasst. Seine Einteilung in Cirrus, Stratus-, Cumulus- und Nimbuswolken ist im Großen und Ganzen bis heute gültig. Goethe war von den Theorien des englischen Wolkenforschers so begeistert, dass er ihm eine Hymne mit dem Titel "Howards Ehrengedächtnis" widmete.

    Doch ein so erbauliches Schicksal war nicht vielen Wolkenspezialisten beschieden.

    "Die Times veröffentlicht am 5. September 1860 ihren ersten Wetterbericht. Fünf Jahre später, am 30. April 1865, begeht Admiral Fitzroy, Leiter der meteorologischen Abteilung in der nationalen Handelskammer, Selbstmord, weil sein Amt eine ausgesprochen unzutreffende Prognose ausgegeben hat und die Presse über ihn herfällt. (s. 78)"

    Das Verschmelzen von Fiktion und Faktizität ist das Konstruktionsprinzip dieses Romans, in dem Staunen, Fabulieren und Wissen unmerklich miteinander verwoben sind. Geschickt verknüpft Stéphane Audeguy die Geschichte des Modeschöpfers Akiro Kumo mit zwei Jahrhunderten an meteorologischer Forschungsgeschichte. Offen bleibt dabei meist, wo die exakte Grenze zwischen Poesie und Faktentreue verläuft.

    Die schwarze Wolke, die sich am 6. August des Jahres 1945 am Himmel von Hiroshima ausbreitete, führt zum finsteren Herzstück dieses Romans: Akiro Kumo ist acht Jahre alt, als er seine Schwester bei dem Atombombenangriff verliert. Er selbst überlebt die Katastrophe unbeschadet, aber seine Seele bleibt ein Leben lang von der todbringenden Wolke des Atompilzes überschattet. - Ob es dichterische Freiheit oder nachlässige Recherche ist, dass Stéphane Audeguy den Atombombenabwurf über Hiroshima nicht am historisch exakten Datum, sondern einen Tag früher stattfinden lässt, ist nicht zu klären. Dennoch gehören die Passagen über Hiroshima zu den eindrücklichsten Szenen des Buches. Wer danach zum Himmel schaut, wird Wolkenformationen mit anderen Augen sehen. Nachdenklich stimmt vor allem die Einsicht, dass nahezu alle Wolken, die von Menschenhand geschaffen wurden, auch lebensbedrohlich sind.

    "Die Landschaft hat sich verändert wie in einem Traum. Alles sieht aus, als wäre es plötzlich ein anderer Tag, eine andere Zeit, oder ein anderer Ort, es ist zum Beispiel wärmer als vorher, und es ist nicht dieselbe Wärme: wie der widerliche Gestank eines verdreckten Ofens, der leer erhitzt wird. Der Boden ist grau. Es stinkt so furchtbar, dass man es bald nicht mehr riecht, ein Aasgeruch, sauer und ranzig zugleich. Selbst der Himmel ist fremd. (S.259 f.)"