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Der andere Islam

Der US-Wissenschaftler Reza Aslan hat eine außergewöhnliche Geschichte des Islam geschrieben. Der im Iran geborene Wissenschaftler, der an der University of California in Santa Barbara lehrt, hebt in seiner Darstellung vor allem auf die Frühzeit ab und zeichnet das Bild einer Religion, die in ihren Ursprüngen modern und fortschrittlich war. Marc Thörner führt Sie mit Reza Aslan zunächst zurück ins Mekka des sechsten Jahrhunderts.

    "Das alte Mekka breitet sich in konzentrischen Kreisen um das Heiligtum im Herzen der Stadt aus. Durch die engen, schmutzigen Straßen ziehen die Pilger zur Ka’aba wie ein zäh fließender Strom. (...) Im Innern des Heiligtums macht sich (...) ein alter Mann in einem makellos weißen Obergewand zwischen den Holz- und den Steinbildnissen zu schaffen, zündet Kerzen an und richtet die Altäre her. Es ist kein Priester (...) Er ist etwas Wichtigeres, ein Qura’isch, Angehöriger des mächtigen, sagenhaft reichen Stammes, der sich vor Jahrhunderten in Mekka angesiedelt hat und (...) als 'Stamm Gottes' und Hüter des Heiligtums bekannt ist."

    Um den Ursprung des Islam ranken sich zahlreiche Legenden. Islamische Traditionalisten erklären sie gemeinhin so: Die Menschen hätten in Unwissenheit und Barbarei gelebt, kriegerische Anarchie habe geherrscht. Dann sei der Koran vom Himmel herabgesandt worden, omit die Zeit des Wissens und des Heils begonnen habe und eigentlich auch schon wieder beendet sei. Denn noch besseres Wissen könne es ja gar nicht geben.

    Demgegenüber zeichnet Reza Aslan in seinem Kapitel über die Entstehungszeit des Islam das Bild einer vorislamischen Gesellschaft, die durchaus nicht unterbelichtet war. Ungeschriebene Gesetze regelten seit Jahrhunderten das Zusammenleben aufs Genaueste. Anders als heute in der arabischen Welt waren auf der vorislamischen arabischen Halbinsel politische Führer nicht mehr und nicht weniger als Erste unter Gleichen, denn, so Aslan:

    "Die Araber hegten nur Verachtung für die Erbkönigreiche der der Byzantiner und Sassaniden. Einzige Vorbedingung, um Schaich werden zu können, waren neben dem reifen Alter Tugenden wie Tapferkeit, Ehre, Gastfreundschaft, Kampfesstärke und vor allem der beharrliche Einsatz für das Gemeinwohl."

    Anders als heute beruht die Macht im fünften, sechsten Jahrhundert auf einer freiwilligen widerrufbaren Unterordnung unter eine Autorität. Die Zugehörigkeit zu einem Stamm schützte auch die Ärmsten und die Schwächsten. Doch schon Mitte des siebten Jahrhunderts steuert diese sensibel austarierte Gesellschaft auf die Katastrophe zu. Und das hat mit dem eingangs geschilderten alten Mann im vorislamischen Göttertempel der Ka’aba zu tun, besser gesagt: mit den Pilgereinnahmen, die sich bei den Ka’aba-Verwaltern, den Quraisch, zu immer höheren Bergen anhäufen.

    "In Mekka hatte die Konzentration des Reichtums in den Händen einiger weniger dominierender Familien nicht nur das soziale und wirtschaftliche Gefüge der Stadt verändert, sondern die Stammesethik zerstört. Die plötzliche Flut persönlichen Reichtums hatte das Stammesideal der sozialen Gleichheit hinweggespült. Es gab kein Verantwortungsgefühl mehr für die Armen und Schwachen; (...) Das Anliegen der Schaichs der Quraisch war jetzt in erster Linie, den Handel aufrechtzuerhalten, nicht mehr die Fürsorge für die Besitzlosen. (...) Mit dem Verfall der Stammesethik vollzog sich die allmähliche Hierarchisierung der mekkanischen Gesellschaft."

    Bei seiner Darstellung stützt sich der Autor im Wesentlichen auf die Erkenntnisse des ägyptischen Linguisten Nasr Hamid Abu Zaid, den Aslan als den Hoffnungsträger der modernen Koranforschung zitiert und der die Frage nach der Modernität des Islam so stellt:

    "Was ist Modernisierung? Eine Bewegung, die eine neue Ordnung errichten will, in sozialer, politischer, wirtschaftlicher Hinsicht. Jede Religion ist nichts anderes als ein Modernisierungsprozess. Sehen Sie sich das Christentum an: Als die jüdische Gesellschaft stagnierte, erschien das Christentum mit seinem Projekt, eine neue Ordnung aufzubauen, die religiöse und gesellschaftliche Stagnation zu überwinden. Das gilt auch für den Islam. Die Stammesgesellschaft hatte ihr Endstadium erreicht. Vor diesem Hintergrund kam der Islam mit seiner Botschaft, um eine neue Ordnung zu errichten. Das können Sie mit Fug und Recht als einen Schritt in die Moderne bezeichnen."

    Für Thesen wie diese ist Nasr Hamid Abu Zaid von ägyptischen Traditionalisten beinahe massakriert worden, deshalb ist er Mitte der 90er Jahre ins holländische Exil gegangen. Dass heute ein junger US-amerikanischer Islamwissenschaftler iranischer Abstammung von diesen Thesen wie selbstverständlich ausgeht, ist ermutigend. Um seine These zu belegen, dass einer modernen Interpretation des Islam grundsätzlich nichts entgegensteht, zieht Aslan den streitbaren ägyptischen Koranforscher noch einmal im Kapitel über Religion und Wissenschaft als Kronzeugen heran.

    "Jede Modernität gerät irgendwann auch wieder in die Krise. Denken Sie an die heutige 'Krise der Moderne'. Dann treten Leute in Erscheinung, die in der Ex-Moderne eine neue Moderne schaffen wollen, während die Ex-Moderne zur Tradition mutiert. Im Islam vollzog sich dieser Prozess durch die Philosophie. Die Mutaziliten, die Rationalisten kamen und versuchten, ein neues Verständnis von der Religion zu konzipieren, sie interpretierten die heiligen Texte metaphorisch und entmystifizierten sie. So brachten sie einen neuen Modernismus in die Ideenwelt des Islam, und die islamische Philosophie begann."

    Etwa die Hälfte seiner Islamgeschichte widmet Reza Aslan der vorislamischen Periode und der Entstehungszeit des Islam. Das mag angesichts von 1400 Jahren Islam zwar überraschen, hat aber seinen Sinn: Nur dadurch, dass Aslan erklärt, mit welch moderner Botschaft der Islam begonnen hat und welches Potenzial in dieser Religion liegt, nur dadurch werden dem Leser die machtpolitisch motivierten Verbalhornungen klar, unter denen der Islam heute zu leiden hat. Um dessen ursprüngliche Modernität zu erklären und zu zeigen, wie sie verloren ging, wählt Aslan bestimmte historische Schnittstellen aus, leitet sie erzählerisch ein und schlägt dadurch den Leser in seinen Bann.

    In dem Bemühen, den Islam gegen Vorurteile in Schutz zu nehmen, wird er manchmal apologetisch. Wenn des Propheten Mohammeds Mekkaner in vermeintlicher Verteidigung des Glaubens ganze jüdische Stämme niedermetzeln, dann tun sie aus Aslans Sicht damit etwas völlig Normales, denn damals sei das sozusagen akzeptiert gewesen. So etwas ist nicht historisch kritisch, sondern historisch-beschönigend, es wird dem sonstigen Niveau des Buches nicht gerecht. Zuweilen gerät die Darstellung auch etwas holzschnittartig. Letztlich erreicht Aslan aber den gewünschten Zweck: Ein Leser, der kein Fachmann ist, findet sich in überschaubarer Zeit gut informiert, begreift die Zusammenhänge, die wesentlichen Schnittstellen, die Dreh- und Angelpunkte des Islam. Und das ist eine Menge wert.

    Reza Aslan: Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart.
    Verlag C.H. Beck.
    335 Seiten. 24,90 Euro.