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Der andere Kästner

"Erich Kästner. So noch nicht gesehen": Das war der Anspruch einer Universitätstagung in Leipzig, die auf Grundlage einer umfassenden Bibliografie auch den "anderen" Kästner jenseits seiner Kinderbücher beleuchten hilft. Das glatte Bild bekommt Risse, die Forschung über ihn ist in Bewegung geraten.

Von Isabel Fannrich | 08.12.2011
    Erich Kästner – Das doppelte Lottchen: "Die mit dem Papa lebt in Wien, die mit der Mutter in München. Die beiden Kinder im Kinderheim kommen dahinter, dass das ihre beiden Eltern sind. Und nach dem Schluss der Ferien vertauschen sie einander, und die, die eigentlich bei der Mutter war, fährt zum Vater. Und die andere zur Mutter."

    Erich Kästner bei einer Lesung vor Kindern. Wer kennt nicht "Das doppelte Lottchen", "Pünktchen und Anton" oder "Emil und die Detektive"?

    Doch es gibt auch den anderen Kästner, betont der Literaturwissenschaftler und Biograf Sven Hanuschek:

    "”Es ist einfach nicht nur der Mensch, der nett ist zu Kindern und Katzen und der freundliche Kinderonkel, sondern es gibt einen Kästner für Erwachsene. Es gibt einfach den Sittenroman Fabian, es gibt die Gedichte, die zum Teil, naja, als wirken wie hin gespuckt – ist ja immer die Formulierung von Kästner. Es soll so ganz leicht wirken, ist aber natürlich also auch das Einfache, das schwer zu machen ist, um das auch mal zu sagen. Und es gibt auch biografische, ganz interessante Bereiche. Dazu gehört sicherlich diese Pseudonymfrage. Also, dazu gehört das Überleben im Dritten Reich, dazu gehört auch sein Leben nach 45, wo er sich politisch in einer Weise radikalisiert hat, die für seine Alterskohorte ganz ungewöhnlich war.""

    Die unbekannten Seiten des Schriftstellers rückte die Tagung "Erich Kästner – so noch nicht gesehen" in der vergangenen Woche in den Mittelpunkt. Die Kästner-Experten benannten dort verschiedenste Forschungslücken wie den Humor und die Komik des Schriftstellers. Seine Verwendung von Metaphern, die häufig überlesen würden. Oder die Anspielungen auf Goethe und Schiller selbst in den Werken für Kinder und Jugendliche, sagt Sebastian Schmideler, Kästner-Forscher und Organisator der Tagung:

    "Und das, obwohl man eigentlich bei einem Autor wie Kästner von der Form und vom Stil her nicht darauf kommen könnte sofort, dass es also ein Autor ist, der sich sehr stark mit dem Idealismus beschäftigt hat. Aber er hat mehrfach gesagt – auch wenn er gesagt hat, dass man es vom Stil nicht merkt – dass Goethe sein Leben lang sein Vorbild gewesen ist."

    Ein mehrbändiges Werk lieferte den Anlass, noch einmal neu über den bekannten Kinderbuchautor nachzudenken, der auch Gedichte und Drehbücher schrieb sowie Texte für Zeitung und Kabarett verfasste. Der Niederländer Johan Zonneveld hat in diesem Jahr eine Bibliografie über Erich Kästner herausgegeben.

    Sie umfasst sämtliche Werke mitsamt Hörfunk- und Fernsehsendungen, Vertonungen und Verfilmungen. Darüber hinaus integriert sie die gesamte Sekundärliteratur zum Ouevre des gebürtigen Dresdeners. Mit Hilfe einer CD-ROM können Wissenschaftler dieses auf ganz neue Weise nach bestimmten Stichworten durchsuchen und Themen herausfiltern.

    So hat Hanuschek, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, bereits nach Hinweisen gesucht, mit welchen Autoren sich Kästner beschäftigt, wen und was er gelesen hat. War er mehr der Journalist oder hat er sich auch theoretisch weiter gebildet?

    "”Also, zum Beispiel habe ich mich ja jetzt hier auf dieser Tagung mit Kästner und dem Politikbegriff beschäftigt. Und man kann bis jetzt nicht so richtig nachvollziehen: Hat er nun Max Weber gelesen oder nicht? Er erwähnt ihn und das kann man jetzt systematischer nachvollziehen.""

    Zonneveld ist seit seiner ersten Begegnung mit "Emil und die Detektive" dem Thema Kästner verhaftet geblieben. Mehr als drei Jahrzehnte lang hat der Germanist alles, was er über ihn bekommen konnte, gesammelt und über ihn geforscht.

    Weil Kästner von 1919 bis 1927 in Leipzig studierte und vor seinem Umzug nach Berlin hier publizistisch tätig war, durchkämmte Zonneveld dort bereits in den 70er-Jahren die Zeitungs- und Zeitschriftenarchive.

    "Und insgesamt, als dann wirklich ich vorhatte, eine ausführliche Bibliografie zusammenzustellen, habe ich insgesamt über 800 Jahrgänge von Zeitungen und Zeitschriften durchgeblättert. Und das ist eigentlich Basis. Ich habe 84 Reisen nur für Kästner gemacht, durchschnittlich zwei Wochen. Dann habe ich ein halbes Jahr in Marbach verbracht, nur um den Nachlass zu sichten. Also ich bin fast dreieinhalb Jahre nur für Kästner unterwegs gewesen."

    Nun sind auch jene Texte für die Öffentlichkeit und Forschung zugänglich, die bislang nur in den Archiven oder in Kästners Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lagerten.

    Das bislang wenig beachtete und in großen Teilen unbekannte publizistische Werk der 20er und frühen 30er-Jahre könne jetzt unter die Lupe genommen werden, sagt Sven Hanuschek. Auch welche Rolle Kästner während der NS-Zeit bedarf noch der Untersuchung:

    "Also, das ist alles viel vielstimmiger, viel komplexer, als man das lange propagiert hat, dargestellt hat. Und Kästner ist einfach ein singulärer Fall, finde ich, wie sich jemand da durchgefunden hat, ohne allzu große Kompromisse zu machen, wie er darauf bestanden hat, weiterhin von seinem Schreiben zu leben und wie er, naja, diesen Betrieb eigentlich auch durchschaut hat, den auch benutzt hat. Und dazu gehört einiges. Also ich kenne niemanden, der wirklich in dieser Weise die Frechheit besessen und erfolgreich eingesetzt hat wie Kästner. Kästner ist auch der einzige, der bei der Bücherverbrennung daneben stand und zugeguckt hat, was da passiert."

    Zwar konzentrierte Kästner sich in dieser Zeit auf Unterhaltungsliteratur und ihm gelang es sogar, Teile davon unter seinem richtigen Namen im Ausland zu publizieren. Zugleich führte er privat ein politisches Tagebuch – ein riskantes Unterfangen.

    Nach 1945 habe lange ein sehr geglättetes Bild über Kästner in der Öffentlichkeit vorgeherrscht, erzählt der Professor - woran der Autor nicht unbeteiligt war. Erst durch den Tod von Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle und die Öffnung seines Nachlasses sei die Forschung in Bewegung geraten und das glatte Bild rissig geworden.

    Dass Kästner – abgesehen von seinem Erfolg mit Kinder- und Jugendbüchern - ein in der Literaturwissenschaft unterschätzter Autor ist, erklärt Johan Zonneveld mit dessen mehrdeutiger Sprache.

    "”Verkannt in der Literaturwissenschaft kommt meines Erachtens daher, weil er ziemlich klar formuliert und auch deutlich formuliert. Und wenn man das dann liest, hat man die Idee: Gut, alles ist schon gesagt. Man liest auch sehr oft in Sekundärliteratur, wenn man Kästner forscht, kommt man aus dem Zitieren von Kästner nicht mehr raus, weil man es eigentlich nicht klarer formulieren kann, als er das schon gemacht hat. Aber da steckt sehr viel dahinter, da steckt auch subversiv viel dahinter.""

    Nun soll Kästner in der Öffentlichkeit und Forschung aufgewertet werden – darin waren sich die Experten einig. Diese Aufgabe gilt nicht nur für die Literaturwissenschaftler, sondern:

    Schmideler: "Für alle, die praktisch mit den multimedialen Kontexten des 20. Jahrhunderts zu tun haben, diesen Autor zu erforschen. Er wird uns nämlich einen schweren Brocken zu beißen geben, insofern, dass Kästner eigentlich der modernere Autor des 20. Jahrhunderts ist, wenn Sie daran denken, dass er bestimmte Medien wie das Radio, den Film usw. von Anfang an genutzt hat und bestimmte Mechanismen entwickelt hat, wie man Literatur vermarkten kann, die bis heute brandaktuell geblieben sind."