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Der andere Tristan

Der Genfer Pastorensohn Frank Martin hat in der Musikgeschichte einen festen Platz: Er verband das Revolutionäre, das mit Schönbergs Zwölftonmusik in die Kompositionswelt einbrach, mit der Musiktradition. Ein perfektes Beispiel dafür ist "Le vin herbé". Im französischen Kulturraum ist das Oratorium ein Klassiker. Jetzt hat es Willy Decker für die inszeniert.

Von Frieder Reininghaus |
    Lange war die wundersame alte Mär von Tristan und Isolde von Kennern und Liebhabern mit dem Romanfragment des mittelhochdeutschen Dichters Gottfried von Straßburg konnotiert: 20.000 Verse zur ungewollt eintretenden unbotmäßigen Liebe des Brautwerber Tristan. Der sollte seinem alternden Onkel, König Marke von Cornwall, die irische Prinzessin zuführen, die ihn nach einer schweren Verwundung gesund gepflegt hatte. Gottfrieds Epos war eine Annäherung ans Äußerste: an die sich zur völligsten Hingabe gesteigerte Empfindung und Zuwendung von zwei Menschen zueinander; übrigens schon Jahrhunderte lang zuvor einer der zentralen Plots von Troubadours und mittelalterlich-höfischen Dichtern unterschiedlicher Couleur.

    Doch seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts drängte sich im öffentlichen Bewusstsein mit diesem Stoffs zunehmend der Name Richard Wagner auf. Dessen musikalische "Handlung" mit dem von Beethoven und Schumann adaptierten, totalitär ausgelegten "Tristan"-Akkord, bedeutete nun einmal eine Grenzüberschreitung der Kompositionsgeschichte: einen der kühnen Schritte hin zur musikalischen Moderne.

    Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts erschien nun freilich Wagners Werk für alle, die nicht mit den Wölfen heulten, in inakzeptabler Weise vereinnahmt - die Nazis hatten in Deutschland triumphiert, die Wehrmacht überzog Europa mit Krieg und der Anführer dieser Politik sonnte sich auch im Glanz von Bayreuth und der Größe Wagners.

    Daher war es alles andere als Zufall, dass Frank Martin, Pfarrerssohn aus Genf und Weltbürger aus der neutralen Schweiz, den Zugriff Wagners mit einem Gegenmodell bedenken wollte: mit einem Stück von der Liebe in Zeiten größter Gefährdung durch die Macht, das musikalisch dezidiert andere Wege einer "neuen Musik" ging als der Mainstream.
    Die kulturpolitische Intention von "Le vin herbé" wird nicht nur durch Frank Martins scharf geschliffene musiktheoretische Texte deutlich, sondern auch durch die unmittelbar nach in Angriff genommenen pazifistischen Arbeiten wie das Friedens-Oratorium "In terra pax". Martin blieb, wie Karl Amadeus Hartmann, überhaupt einer der wenigen nicht nazistisch kontaminierten, aber auch nicht zur Flucht genötigten Komponisten im deutschen Sprachraum.
    Frank Martin stützte sich auf die im Jahr 1900 von Joseph Bédier nach Vorlagen aus dem 12. Jahrhundert nachgelegte Prosa-Fassung - also auf einen Roman. Das bestimmt auch die epische Erzählweise der zwölf Sängerinnen und Sänger. Die agieren als Kammerchor, fassen die Handlung holzschnittartig zusammen. Einzelne schlüpfen immer wieder in eine solistische Rolle - wie die 2. Sopranistin, die als Iseut (Isolde) hervortritt und die dritte, die zeitweise deren Dienerin Branghin (Brangäne) verkörpert; oder der 2. Tenor, dem die wörtliche Rede des Helden Tristan anvertraut wurde. Finnur Bjarnason besticht mit einer jungendlich leichten Tenorstimme, Sinéad Mulhern und Astrid Weber bestreiten die Frauen-Soli überzeugend. Und statt eines großen Orchesters stützt sich der Tonsatz auf sieben Streicher und ein Klavier.
    Willy Decker hat das szenische Oratorium in der ehemaligen Gebläsehalle Duisburg-Nord auf angemessen unaufwendige Weise in Bewegung versetzt: In einer ehemaligen Maschinenhalle im Industriepark Duisburg-Nord ließ er seinen Ausstatter Wolfgang Gussmann einen runden Laufsteg installieren. In der Mitte befindet sich eine Vertiefung, und in der dirigiert gut sichtbar Friedemann Layer; dort sitzen auch die vorzüglichen Instrumentalisten der Jungen Deutschen Philharmonie und können die Vokalisten gegebenenfalls Schutz suchen. Die Kugel Platons, die in zwei Hälften zerfällt und am Ende, nach dem doppelten Liebestod, wieder zusammengesetzt wird, eine zu große Krone, ein noch viel größeres Schwert und das auch als Sarg dienende Boot sind die schlichten und einfachen Requisiten, mit denen der Handlungsrahmen angedeutet wird.

    So, wie Jürgen Flimm die diesjährigen Salzburger Festspiele programmatisch mit Joseph Haydns orientalischem Zauberöperchen "Armida" eröffnen ließ, so setzte er zum Auftakt der ebenfalls von ihm programmierten RuhrTriennale kein rauschend großes und festliches Stück, sondern eine Erinnerungsarbeit an einen zwischenzeitlich völlig in Vergessenheit geratenen Aspekt des musikalischen 20. Jahrhunderts.