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Der arme Kerl und seine Marie

1913 wurde Georg Büchners letztes Werk am Münchner Residenztheater uraufgeführt,: der Woyzeck. Jetzt hatte dort wieder ein Woyzeck Premiere. Und diese Premiere war mit besonderer Spannung erwartet worden. Regisseur Martin Kusej wird nämlich 2011 die Intendanz des Residenztheaters übernehmen. Um Büchners "Woyzeck" hat Kusej, wie er selber sagt, lange einen Bogen gemacht. Aber es sei wie bei einer schweren Skiabfahrt: Einmal muss man da runter.

Von Cornelie Ueding |
    Die Bühne: eine Abraumhalde, gepolstert mit gefüllten blauen Müllsäcken. Dahinter nichts als die gekalkte Brandmauer und Neonröhren am Bühnenhimmel. Kein Ort. Kein Lebensraum. Hier legt ein Glatzkopf mit schwarzer Brille und Springerstiefeln, bei Büchner der Tambourmajor, jede Frau um, hier peitscht Woyzeck dem Hauptmann blutige Striemen auf den Rücken statt ihn zu rasieren. Und der schaut anschließend in seiner Hose nach, ob sich was rührt. Merke: Sex und Gewalt sind die einzigen Antriebe dieser Figuren und, ja: philosophische Brocken.

    Der Hauptmann schwadroniert über die vergehende Zeit. Selbst der Idiot, im Kellnerfrack, ein Handtuch überm Arm, versteigt sich mit großem Ernst in sprachliche Höhen, denen kein Mensch folgen kann. Und der Doktor stellt seine tödlichen Diagnosen mit siegesbewusstem Gelächter, demonstriert Überlegenheit durch Fachwissen, führt selbstverliebt philosophische Phrasen im Mund, beruft sich auf die Gesetze der Natur und jagt empört hinter Woyzeck her, der nackt und mit einem Eimer in der Hand über die Müllsäcke springt und nicht mehr pinkeln kann, weil er vorschriftswidrig schon irgendwo anders an die Wand gepisst hatte. Und beruft sich dabei auf seine Natur!

    Das Skandalöse liegt darin, dass Woyzeck keine Anstrengungen macht, sein Tun und Lassen auch nur notdürftig mit Moralfloskeln zu bemänteln Das könnte die von Martin Kusej stark veränderte Figur nämlich sehr wohl. Jens Harzer als Woyzeck ist in der Münchner Neuinszenierung keineswegs der gedemütigte underdog. Eher ein zum Spintisieren neigender Intellektueller, der mit sich experimentieren lässt, seinerseits Fische in die Luft wirft, der anderen auf Augenhöhe begegnet, mit versonnenem Lächeln hinter die Dinge schauen will, argumentiert und sogar ein klammheimliches Überlegenheitsgefühl hätschelt.

    Das bringt seine Kontrahenten in Rage. Als er von der Glatze zusammengeschlagen wird sehen alle zu. Wir, die Zuschauer, auch. Merke: Nähe zu anderen, Gefühle für sie haben wir also ebenso wenig wie Woyzeck und die erkennbar gemeinen Figuren. Als seine Wahrnehmung zunehmend von inneren Stimmen bestimmt wird, die er außen zu hören glaubt, hat die Aufführung ihre einzigen emotional wirkenden Momente: Woyzeck hat den letzten Halt, hat Marie verloren - ohne dass zwischen ihnen mehr als Reste einer Sehn-sacht nach Zugehörigkeit spürbar geworden wären.

    Nun ermordet er sie, geht geradezu systematisch vor, gesteuert von einem unwiderlegbaren kranken Zwang. Marie wird im Dunklen abgestochen wie ein Vieh und muss brüllen wie ein Vieh. Danach wirft Woyzeck den Puppenbalg und das Messer in die Luft - wie eingangs die Fische. Und keiner regt sich über den Mord auf. Der Gestiefelte vögelt die Nachbarin am Tatort und Andres hatte demonstrativ Woyzecks Habseligkeiten zusammengerafft - und Mutters Gebetbuch verächtlich weggeworfen.

    Die Frage stellt sich, worin der Gewinn liegen könnte, wenn man Woyzeck pathologisiert, der Figur, dem Stück, den sozialen Kontext abschneidet und die Figuren voneinander isoliert auf Müllsäcke stellt. Falls er dadurch modernisiert, für jeden erkennbar als unser Zeitgenosse dargstellt werden sollte, ist dies teuer erkauft. Denn Kusej hat sich nicht mit Akzentverschiebungen begnügt. Legitimiert durch Büchners eigenes Montageverfahren bei seinen Texten und die ungesicherte Textlage der Woyzeck-Fragmente hat er die Münchner Bühnenfassung mit Modernismen und Textzutaten gespickt und, wo immer sich ein Stichwort bot, vor allem Woyzeck selbst Passagen aus "Dantons Tod" und "Leonce und Lena" in den Mund gelegt.

    So ist aus Büchners knappen, erschreckenden, im besten Sinne anrührenden Kurz-Szenen ein nicht enden wollendes Endspiel geworden, das nicht einmal den Verlust des Gefühls vorführt. Die Aufführung selber bleibt kalt. Diese schwatzhaften Figuren ohne Innenleben interessieren nicht - dagegen können auch die durchweg sehr präsenten Charakterdarsteller nicht anspielen. Da helfen weder der effektsicher korsettierte Transvestit als Ansager noch die langen bedeutungsvollen Hechelgänge über unwegsames Gelände noch die modisch selbstgerecht-betroffen-vorwurfsvolle, demonstrativ pathetische Deklamation von Büchners entsetzlichem Märchen.