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Der aufrechte Gang macht den Menschen sichtbar

Was ist der Mensch? Hat es noch Sinn im Zeitalter, wenn Welt- und Menschenbilder an Strahlkraft verlieren, diese Frage überhaupt zu stellen? Aber vielleicht sollte man die Ansprüche solcher Menschenbilder tiefer hängen, weniger nach dem Wesen, als nach den Erscheinungen fragen, letztlich nach dem, was am Menschen schlicht am meisten auffällt. Doch wie könnte ihn das zum Menschen machen? Was andererseits sollte es sonst sein!

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 25.03.2007
    Genau darum bemüht sich der 1920 in Lübeck geborene und 1996 gestorbene Hans Blumenberg in seinem vor kurzem erschienen Werk Beschreibung des Menschen, dem längst nicht allein ob seiner 900 Seiten beinahe die Wucht eines posthumen Hauptwerkes eignet. Blumenberg forscht darin nach Evidenterem als nach dem, was man ansonsten traditionell so als Wesen des Menschen versteht - man denke an das animal rationale. Was ist augenscheinlicher am Menschen als seine Vernunft? Der Mensch ist der einzige Primat, der ausschließlich aufrecht geht und steht. Was folgt daraus? Er sieht nicht nur ausgezeichnet! Er wird auch gesehen! Also die Visibilität des Menschen, die nachhaltig sein Leben und sein Bewusstsein prägt. Blumenberg schreibt:

    Man "wird sich klar machen müssen, dass es nicht selbstverständlich ist, Visibilität zu haben. Denn dies bedeutet nicht nur primär zu wissen wie man selbst aussieht, sondern urtümlicher noch, sich dessen bewußt zu sein, dass man aussieht. Visibilität ist nicht nur der einfache Sachverhalt, dass der Mensch ein körperliches und damit physisch 'sichtbares', also Strahlung von der im Sonnenlicht enthalten Art reflektierendes Wesen ist. Es bedeutet mehr, vor allem, dass er vom Sehenkönnen der anderen ständig durchdrungen und bestimmt ist, sie als Sehende im Dauerkalkül seiner Lebensformen und Lebensverrichtungen hat.

    Man entgeht dem Blick der anderen Menschen nicht - das wusste schon Sartre. Das eigene Selbstbewusstsein entwickelt man primär durch die Überlegung, wie man auf andere wirkt, was andere von mir halten, also wie andere mich sehen. Hilflos fühlt man sich den Blicken anderer ausgeliefert, Blicke, die verurteilen können, Blicke, die mich zu dem machen, was ich in den Augen der anderen bin. Und kann ich wirklich jemand anderer sein?. Blumenberg konstatiert:

    Visibilität setzt Fremderfahrung voraus, Erfahrung von der Bedeutung des Sachverhaltes, dass der andere mich sieht, wie ich ihn sehe. Vor allem aber: dass er mich an meiner Erscheinung und durch sie identifiziert.

    Just solcherlei Identifizierung droht indes, sich ständig zu verlaufen, dem Menschen gar nicht gerecht zu werden, ihn vielmehr nur so zu sehen, wie man ihn sich gerne vorstellt. Denn wiewohl der Mensch von Blumenberg durch seine Sichtbarkeit charakterisiert wird, bleibt er genau deswegen dunkel. Der einerseits sichtbare Mensch lässt sich andererseits gerade nicht durchschauen, erweist sich als überhaupt nicht transparent: Man sieht eben nicht in ihn hinein geschweige denn hindurch - was unendliche Verwicklungen nicht nur bei den gegenseitigen Einschätzungen schafft:

    Fremdkörper und Fremdleiber sind primär undurchsichtig für die Aufmerksamkeit, und von ihnen her wird auch der Eigenleib als primär undurchsichtig oder in den Stand der Undurchsichtigkeit versetzbar eingeschätzt.

    Ist das Sichtbare doch nicht so entscheidend, eher das Unsichtbare, das, was sich unter der sichtbaren Oberfläche verbirgt? Wie kommt Blumenberg dann darauf, den Menschen anthropologisch durch seine Sichtbarkeit zu bestimmen? Blumenberg, der zuletzt als Professor für Philosophie in Münster lehrte, schließt auch im jetzt neu erschienenen Text Beschreibung des Menschen an die Phänomenologie Edmund Husserls an, die nicht nur Blumenberg, sondern die Philosophie des 20. Jahrhunderst insgesamt nachhaltig prägte. "Zu den Sachen selbst!" so lautete das Programm, das Husserl in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhundert ausarbeitete. Er konzentrierte sich dabei darauf, wie die Dinge dem Menschen erscheinen, wie er sie als Phänomene sieht. Wenn ein Phänomenologe widerspricht, wird er nicht sagen 'Das verstehe ich nicht!' sondern 'Das sehe ich nicht!'

    Was folgt daraus für eine Anthropologie? Wann wurde der Mensch ein sehender? Zuerst als er den aufrechten Gang lernte und dadurch weiter sehen konnte, weil er den Blick nicht mehr primär nach unten richtete! Blumenberg schreibt:

    Das (. .) hängt zusammen mit der primären Selbstaufrichtung, mit dem Evolutionssprung der Optik dieses Lebewesens, mit dem es seinen Wahrnehmungshorizont zuerst sensorisch, dann nochmals im Begriff schlagartig erweitert und einen einmaligen Vorteil gegenüber allen Rivalen auf der Lebensszene gewinnt. Dieses explodierte Sehenkönnen ist aber zugleich ein exponiertes Gesehenwerdenkönnen.

    Letzteres erweist sich als noch um so wichtiger und zwar vor allem in dem Augenblick als der urzeitliche Mensch den Urwald verlässt, in dem er sich noch leicht verbergen konnte. Als er in die Savanne wechselt, entdeckt er nicht nur den Vorteil, dass er noch viel weiter sehen kann als im Urwald, sondern auch den Nachteil, dass der Aufrechtgehende auch sehr weit gesehen wird. Wie soll er sich hier vor Beobachtern verbergen? Er erfährt den aufrechten Gang und die weite Sicht nicht nur als Vorsprung gegenüber Feinden, sondern - beinahe hochmodern - auch als Risiko, dem man nicht entgeht. Davon erzählt bereits die biblische Geschichte, als Adam sich vergeblich vor Gott zu verstecken trachtete, nachdem er hoch riskant vom verbotenen Apfel genascht hatte. Blumenberg schreibt:

    Der mythische Augenblick, in dem der Stammvater der Menschen mit dem Versuch sich zu verbergen scheitert, reflektiert den Schock der vorzeitlichen Erfahrung des aus dem bergenden Urwald auf die freie Wildbahn hinausgedrängten Vormenschen, der sich in einer bis dahin ungekannten Weise der Sichtbarkeit ausgesetzt fand. Der Schock der Visibilität steckt aus seiner Geschichte im Menschen als das Bewußtsein, ein Lebewesen mit 'viel Rücken' zu sein. Alle Götter, mit Ausnahme der philosophischen Schwundgötter des Aristoteles und des Epikur, sind so konzipiert, dass der Mensch sich von ihnen unversehens und seinerseits unbemerkt als gesehen vorfindet. Sie sind das hypostasierte Weltmoment eines Selbstbewusstseins, das sich aus dem Gesehenwerden konstituiert hat, auf das Gesehenwerdenkönnen einrichtet, schließlich auf das Gesehenwerdenwollen richtet.

    Hans Blumenberg gehört zu den unkonventionellen Philosophen des letzten Jahrhunderts, obgleich er sich primär mit einem seine Zeit beherrschenden philosophischen Thema, nämlich mit der Geschichtsphilosophie beschäftigte. Aber auch darin wirkt er einzigartig, frei von schulphilosophischer Attitüde, mit teils ironischen Zügen und aphoristischen wie anekdotischen Elementen. Geschichte zeigt sich in erzählten Geschichten, in Metaphern. Seine beiden Hauptwerke 1966 Die Legitimität der Neuzeit und 1975 Die Genesis der kopernikanischen Welt hinterfragen die gängigen historischen und wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten. Noch in Beschreibung des Menschen bemerkt er:

    Das Unbehagen am Zustand und Resultat des wissenschaftlichen Prozesses, das spürbar um sich gegriffen hat, lässt sich auf die anekdotische Form zurückführen, dass am Ende einer über Jahrhunderte sich erstreckenden theoretischen Anstrengung die ratlose, fast unheimliche Frage sich stellt: Was wollten wir überhaupt wissen.?

    Was wollte Adam eigentlich wissen, als er es riskierte, vom Baum der Erkenntnis zu essen? Was wollte die Aufklärung eigentlich wissen, als sie einen wissenschaftlichen Fortschritt propagierte, der sukzessive ein Problem nach dem anderen zu lösen versprach? Der Mensch wollte die Natur beherrschen, um sich ein besseres Leben zu schaffen. Das sollte ihm Freiheiten eröffnen, während man heute offenbar nicht mehr ohne moderne Technik leben kann, also umgekehrt von ihr abhängig wurde. Doch Blumenberg ist kein griesgrämiger Pessimist. Im Gegenteil, was man heute kaum noch sagen darf: Blumenberg sieht einen Fortschritt in der Antibabypille, die so manche Traditionalisten - vom Papst bis zum reaktionären Gesellschaftskritiker Norbert Bolz - für ein absolut hässliches Stück Antinatur halten. Dagegen bemerkt Blumenberg:

    Dass (die Wissenschaft) Freiheiten verschafft, ist unbezweifelbar; ich erinnere an die einzige wirklich bedeutende Veränderung des menschlichen Verhaltens in unserem Jahrhundert durch die Kontrazeptiva.

    In der Tat, der Mensch im wissenschaftlichen Zeitalter sieht immer weiter - in den Weltraum -, er beobachte immer mehr - mit der Videoüberwachung. 'Manchmal möchte man vor Scham im Boden versinken.' Noch dieses Sprichwort zeugt davon, dass man ob seiner Sichtbarkeit nicht nur gejagt, sondern auch beschuldigt werden kann. Mit den Freiheiten ergeben sich zugleich Zwänge. Blicke der anderen starren einen nicht nur an. Sie identifizieren mich nicht nur als dieses nackte Gesicht. Man sieht sich auch mit Vorwürfen und Beschuldigungen konfrontiert, denen man sich sowenig wie Adam entziehen kann. Wenn man sich vor Gott vielleicht nicht mehr so sehr fürchtet, dafür um so mehr vor der Justiz und vor der Presse, aber auch vor Eltern, Freunden, Nachbarn. Wird man bei peinlichen Betätigungen gesehen, lässt sich das nicht mehr rückgängig machen, ist man ertappt. Blumenberg schreibt:

    Dass der Mensch sich zugleich bewußt wird, nackt zu sein, ist nur ein Begleitumstand dessen, dass er in seiner Sichtbarkeit der Bedingung seiner Identifizierbarkeit als Schuldiger gewahr geworden ist. Sich wegen einer Handlung zu verbergen, darauf kommt nur und erst, wer weiß, dass er sichtbar ist und dadurch mit seiner Tat im verfolgbaren Zusammenhang steht.

    Die Visibilität als anthropologisches Charakteristikum des Menschen definiert einerseits den Menschen an seinen Anfängen, als er Mensch wurde, er sehen und gesehen werden lernte. Nicht umsonst stellt bereits bei Platon das Licht der Sonne zugleich das Gute schlechthin dar, das die Welt sehen lässt und ihr dadurch Sinn verleiht. Andererseits dominiert die Visibilität um so mehr auch noch alle Lebensbereiche der Moderne. Sich wie Siegfried mit der Tarnkappe unsichtbar zu machen, davon träumen viele, sei es aus kriminellen Motiven oder aus Schüchternheit. Der Täter möchte natürlich nicht gesehen werden. Er unternimmt alles, um seine Anwesenheit am Ort der Tat zu verdunkeln. Dadurch soll man ihm nicht auf die Spur kommen. Dann entgeht er der Bestrafung oder dem Skandal, der seine Karriere ruinieren würde. Blumenberg bemerkt:

    Die Alibi-Probleme des Tatschuldigen und des Tatunschuldigen unterscheiden sich gerade im Verhältnis zur Visibilität. Der Schuldige - sofern er nicht ein falsches Alibi beschaffen kann - wird sich damit behelfen müssen, zur Tatzeit gewesen zu sein, wo er gar nicht gesehen werden konnte; er lag im Bett oder war im Kino. Der Unschuldige hätte gesehen werden können, hatte aber zur Tatzeit kein Interesse daran zu bemerken, ob er faktisch gesehen wurde und wer es ihm würde bestätigen können.

    Risiken geht nicht nur der Täter ein. Der Mensch lebt vielmehr seit Anbeginn, spätestens als er in die Savanne trat, aber wahrscheinlich schon zuvor im Paradies, in einer risikoreichen Situation. Nur dass er davon zunächst noch nichts wusste. Diese Sachlage prägt seine Existenz viel nachhaltiger als bei anderen Lebewesen. Physisch bedroht ist alles, was lebt. Doch der Mensch sieht sich auch psychischen, moralischen, politischen Gefahren ausgesetzt, die sich zumeist seiner Sichtbarkeit verdanken oder sei es, weil man eben nicht in ihn hineinsehen kann. Auch die Gattung kann irgendwann untergehen, obwohl oder vielleicht gerade weil sie sich momentan so schnell vermehrt. Noch aber hält sie durch, wiewohl sie zunehmend um ihren Bestand fürchtet. Die einzelnen sehen sich ihrem eigenen Leben durchgängig mit dem Risiko des Scheiterns konfrontiert, was auch häufig in den existentiellen Untergang führt. So bestimmt nach Blumenberg das Risikobewusstsein das Leben des Individuums und nimmt heute gleichzeitig menschheitliche Dimensionen an:

    Der Mensch ist ein riskantes Lebewesen, das sich selbst misslingen kann. (. .) Der Mensch ist die verkörperte Unwahrscheinlichkeit. Er ist das Tier, das trotzdem lebt. Nun gilt die Aussage vom Existenzrisiko natürlich für alle Arten von Lebewesen. Mit dem Unterschied freilich, dass sich für den Menschen das Moment des Risikos nicht nur auf die nackte Existenz, sondern auf einen abgestuften Lebenserfolg bezieht. Nur der Mensch kann leben und dabei unglücklich sein. Er kann also gerade das verfehlen, was ihm der Sinn seines Daseins zu sein scheint. Noch wenn er Selbstmord begeht, wendet er einen letzten aller seiner Kunstgriffe an: (. .) Insofern gehört die Möglichkeit der Selbsttötung zu den Auszeichnungen eines Wesens, dem das Gelingen seines Daseins nicht zuverlässig programmiert ist.

    Daher reicht die nackte Existenzsicherung dem Menschen zumeist nicht aus, bzw. wenn sie beispielsweise vom Staat gewährt wird, dann entwickelt der Mensch schnell weiterreichende Ansprüche. Unversehens und eilig nimmt er, sind die Existenzprobleme gelöst, eine individuelle Sinn- und Glückssuche auf. Ein gelingendes Leben erweist sich für den einzelnen indes als äußerst schwierig, nicht nur weil er auf eine ihm feindliche Umwelt stößt, die ihn ständig beeinträchtigt. Die mit der Visibilität verbundene Undurchsichtigkeit verhindert vielmehr, nicht nur die Körper der anderen Menschen zu durchschauen, sondern vor allem auch den eigenen. So sieht man sich mit sich selbst sogar als einem Fremden konfrontiert, und das nicht nur bezogen auf seinen Körper, den man deswegen fleißig zur medizinischen Vorsorgeuntersuchung schleppt. Vernünftigerweise müsste man seinen Geist auch ständig auf seine Funktionstüchtigkeit hin untersuchen lassen - dergleichen indes ordnet zumeist nur das Vormundschaftsgericht an: Wer lässt sich schon gerne entmündigen! Hans Blumenberg gelangt zu einer überraschenden Frage:

    Man kennt sich selbst nicht gut. Das ist das eine; und dem ist schwer zu widersprechen. Das andere steckt in der Frage: Aber wer kennt einen besser? Um das am Punkt der höchsten Evidenz zu fassen, muss man gerade auf die philosophisch suspekteste Leistung des Bewußtseins achten, die wieder in einer Frage steckt: Wer hat meine Erinnerungen?

    Kennt mich mein Psychoanalytiker womöglich besser als ich mich selbst? Denn schließlich hilft er mir ja, meine Erinnerungen an die frühe Kindheit auszugraben, an die ich ohne ihn nicht herankommen. Solche Erinnerungen stehen mir offenbar nicht einfach zur Verfügung. Habe ich sie bloß vergessen? Oder entziehen sich mir meine Erinnerungen? Sind es dann noch meine Erinnerungen?

    Doch die Visibilität birgt nicht nur Risiken und auch nicht nur weiterreichende Perspektiven, um die Welt zu beobachten. Die Visibilität eröffnet dem Menschen vielmehr auch die Chance zur eigenen Inszenierung. Beispielsweise hält er sich eine Maske vors Gesicht, vielleicht um damit zu täuschen. Oder zu verführen? Wie hieß doch die preußische Maxime? 'Mehr sein als scheinen!' Geht es heute nur noch um den Schein? Wenn man sich exponiert, wenn sich die Frau verhüllend enthüllt, dann muss sie sich noch lange nicht zum Opfer der Männer machen. Anscheinend wendet Blumenberg seinen Blick nicht mit moralisch korrektem Grausen von den heute häufig erotisch gestylten Frauen ab:

    Aber zu sagen ist, dass der Kult des entblößten Körpers nicht in der Abdrift der Barbarei liegt. Es ist darin ein unverkennbares Moment der Wiederentdeckung des Instrumentellen in der Verhüllung. Nur wenn man dies im Blick behält, wird der anthropologische Komplex der Visibilität erfassbar, der Gesehenwerdenkönnen, Sichsehenlassen und Sichdarstellen umschließt.

    Blumenberg folgt nicht dem aufklärerischen oder marxistischen Fortschrittsglauben. Aber die Entwicklung des Menschen bezüglich seiner besonderen Eigenschaften, die sich um die Visibilität drehen bzw. sich ihr verdanken, führt für Blumenberg keineswegs in einen unvermeidlichen moralischen Wertezerfall, wie ihn Konservative und Gläubige gerne beklagen. Nein, mit der Visibilität sieht sich der Mensch auch keineswegs nur Risiken ausgesetzt. Sicherlich muss er sich auch als Selbstdarsteller überlegen, wie er auf andere wirkt. Schließlich bezieht er aus solchen Mutmaßungen auch sein eigenes Selbstverständnis. Sichtbarkeit führt somit zur Reflexivität der menschlichen Existenz, gerade weil der Mensch nicht zu durchschauen ist. Das muss aber keineswegs das Leben immer nur erschweren. Das eröffnet nicht nur Chancen. Ja, man kann derart das Leben auch genießen. Blumenberg beschreibt eine hedonistische Perspektive:

    Nicht zufällig werden diese Bestimmungsstücke des menschlichen Daseins, Sehen und Gesehenwerden, in ihrer von Risiko und Anstrengung entlasteten Spätform, etwa in der Gestalt des Flaneurs, zum puren Zivilisationsgenuß.

    Die anthropologische Entwicklung erweist sich nach Blumenberg also als so vielschichtig und komplex, dass sich daraus schwerlich noch eine berechenbare Evolution oder gar ein im weitesten Sinne historischer Fortschritt ableiten lässt. Insofern setzt Blumenbergs Anthropologie die Tendenz seiner Geschichtsphilosophie fort, nicht in einen notwendigen Prozess des Auf- oder Niedergangs einzuschwenken. Vielmehr wird sie vom Zufall, von der Kontingenz beherrscht, mit der sich Blumenbergs Buch Beschreibung des Menschen im zweiten Teil vor allem in der Perspektive der Visibilität auseinandersetzt, um damit wirklich einen innovativen Beitrag zur modernen Anthropologie zu leisten.

    Im ersten Teil mit dem Titel "Phänomenologie und Anthropologie" muss er zunächst die nahe liegende Frage klären: Ist eine phänomenologische Anthropologie nicht ein Widerspruch in sich selbst? Die Phänomenologie geht doch davon aus, dass sich alle Wahrnehmung unveränderlichen, schier überzeitlichen Strukturen des Bewusstseins verdankt. Wie soll das zu einer Lehre von der menschlichen Evolution passen, nach der sich solche Strukturen erst langsam entfalten? Imgrunde fragt Blumenberg daher nach den anthropologischen Grundlagen der Phänomenologie. Der aufrecht gehende Mensch, der Dinge sieht und sich selbst als gesehenen Körper reflektiert, geht seinerseits aller Phänomenologie voraus. Dabei bedient sich Blumenbergs Anthropologie nicht bloß der Phänomenologie, sondern thematisiert sie selbst unter dem Begriff der Visibilität. Genau daraus könnten sich Perspektiven des Weiterdenkens ergeben.