Der Aufstand in der Provinz

-Ton RIAS: Und die Arbeiter von Brandenburg? Auch sie marschierten, auch sie befreiten Gefangene. Es wurde marschiert in Chemnitz, in Premnitz, in Gera, in Erfurt, in Leuna, bei Buna, in Warnemünde, in Rathenow.

Von Brigitte Froesick |
    Der RIAS in einer Zusammenfassung am 17. Juni. Der Aufstand in Ost-Berlin hat schlagartig auch die kleineren Städte und Dörfer der DDR erfasst.

    Lützkendorf: Was mir auffiel: Es wurden keine roten Fahnen mitgeführt und keine Transparente

    Hans Lützkendorf, 1953 ein junger Journalist, beobachtet am Vormittag des 17. Juni in Merseburg eine gemeinsame Demonstration von Arbeitern der Chemiekombinate Buna und Leuna.

    Lützkendorf: Und was mir besonders in Erinnerung geblieben ist: die ungeheure Disziplin. Die Leute in den Demonstrationszügen kamen so, wie sie von der Werkbank kamen, mit Schweißerbrillen, Lederschürzen, Holzpantinen ...

    Kettembeil: So marschierten sie untergehakt und riefen: Wir wollen keine Volksarmee, wir wollen Butter! Wir fordern freie Wahlen! es hat keinen Zweck, die Regierung muss weg! Gebt die Gefangenen frei! Tränen liefen mir übers Gesicht, vor Freude, vor Erschütterung.

    Ilsedore Kettembeil aus Merseburg schreibt dies einen Tag später in einem Brief an einen Freund in Westdeutschland.

    Lützkendorf : Wir waren alle von einem Optimismus erfüllt. Alle haben geglaubt, jetzt wird alles anders ... Die können nicht daran vorbeigehen. Es muss sich etwas ändern.

    Ganz anders die Stimmung in Rathenow. Dort erlebt Rolf Ziemann, wie eine aufgebrachte Menschenmenge Jagd auf einen Kommunisten namens Wilhelm Hagedorn macht. Er gilt als Stasi-Spitzel.

    Ziemann: ... und dann hörte ich welche: "Da rennt er, da rennt er!" Und dann ist die kleine Meute von jungen Leuten mit Riesenschritten hinterher und haben den Hagedorn zu Boden gerissen. Der Hagedorn zog einen Gummiknüppel und schlug dem ersten die Schlagader auf. Der ist auch verstorben.

    Assmann: Als dieser Wilhelm Hagedorn versuchte, aus der aufgebrachten Menge zu entkommen, wurde er ergriffen und aufgehalten.

    Renate Assmann, damals eine 13jährige Schülerin, ist ebenfalls Augenzeugin.

    Ziemann: Und dann hat man den Hagedorn so richtig in die Zange genommen, und jeder hat drauf eingeschlagen, jeder hat an dem Mann seine Wut ausgelassen, Unvorstellbar!

    Hagedorn wird durch die Straßen getrieben und gezwungen, in den Havel-Kanal zu springen.

    Assmann: Er versuchte das gegenüber liegende Ufer zu erreichen, aber schon bald waren Männer mit einem Kahn neben ihm und schlugen mit den Rudern zu. An den Verletzungen an Kopf und Körper verstarb Wilhelm Hagedorn, damals der meistgehasste Mann der Stadt.

    In Brandenburg richtet sich die Wut aufgebrachter Menschen gegen die SED-Justiz. Amtsgericht und Gefängnis werden gestürmt. Der Richter Harry Benkendorf wird an der Spitze eines Demonstrationszuges durch die Stadt geschleppt.

    Krätzner : Der gefesselte Amtsrichter hatte inzwischen so einige Hiebe erhalten. Blut befleckt führte man ihn von der Menge begleitet zum Marktplatz und stellte ihn aufs Podium.

    Martin Krätzner, ein Verwaltungsangestellter.

    Krätzner : Hier fragte einer der Führenden die Demonstranten, ob man ihn aufhängen solle, und viele stimmten mit ‚Ja’

    Schlabinger: Irgendwie gab es aber ein paar Besonnene, die die ganze Sache verhinderten,

    erinnert sich der Maurer Peter Schlabinger. - Im Industrierevier Bitterfeld spricht ein bis dahin als SED-treu bekannter Lehrer namens Fiebelkorn zu mehreren tausend Arbeitern auf. Brunhilde Twarock ist Augenzeugin:

    Twarock: Und ich höre noch den ersten Satz: Wir waren acht Jahre Sklaven. Wir wollen endlich frei sein. Und dann dieses Schreien der Menschen ...

    In Görlitz übernehmen demonstrierende Bürger für Stunden die Macht im Rathaus. Werner Jahn, ein in Waldheim inhaftierter Student aus Leipzig erfährt das Tage später von verurteilten Gefangenen aus Görlitz:

    Jahn: Ein neuer Oberbürgermeister, der auch durch gute Kenntnisse der russischen Sprache sich mit dem sowjetischen Kommandanten unterhalten konnte, war gewählt und der alte abgesetzt.

    Jarzombek: Sie können sich nicht vorstellen, in welche Euphorie die Menschen geraten sind, es war alles friedlich, nichts wurde zerschlagen, niemand verletzt.

    erinnert sich Günther Jarzombek, damals Mitarbeiter des Gesundheitsamtes im benachbarten Löbau. Eine Stimmung, die auch der Schüler Hans-Joachim Nicksch registriert.

    Nicksch: Aus den Lautsprechern des Stadtfunks war plötzlich zu hören, dass das Deutschlandlied gesungen wurde, wohl aus der Übertragung der Kundgebung auf dem Obermarkt. Das war für uns wirklich das Gefühl einer Zeitenwende.

    Am 17. Juni sind mehrere Bauern aus dem thüringischen Dorf Eckolstädt in Berlin, um eine Resolution zu übergeben. Nach der Rückkehr werden sie in der folgenden Nacht gegen vier Uhr verhaftet. Als dies bekannt wird, entlädt sich der Zorn der Bauern gegen SED treue Dorfbewohner. Die Situation eskaliert, als ein Auto mit Zivilpolizisten ins Dorf kommt:

    Schillkamp: Die Menschenmassen waren da wie verrückt. (...) Auf einmal stürmten die ganzen Männer dorthin, packten das Auto an und stellten das auf den Kopf, und die Kerle alle noch drinne.

    Gerd Schillkamp, damals 13 Jahre alt.

    Schillkamp: Die krochen nun aus dem Auto raus ... und nahmen ihre Pistolen raus, haben die Pistolen durchgeladen. Und da war wieder dieser besagte Großbauer, der hat gesagt zu denen und zu seinen Leuten: Also schießen tun wir nicht. Tote wollen wir nicht.

    Beide Seiten verhandeln, das Blutvergießen wird gerade noch verhindert. - Im Harzer Bergtheater in Thale steht am Abend des 17. Juni "Götz von Berlichingen" auf dem Spielplan. Erika Schade erinnert sich an die Reaktion des Publikums auf jene Szene im Dritten Akt, in der Götz und seine Leute einen Toast auf die Freiheit ausbringen.

    Schade: Es war zuerst eine Totenstille, und dann war eine Unruhe, und dann haben die ersten: "Ja, die Freiheit!" gerufen. Und dann haben wieder andere "Unsere Freiheit!" gerufen. Und dann war das so, als wenn alle wie automatisch aufstanden im Publikum, und dann haben sie alle geschrieen: "Ja, es lebe unsere Freiheit!"