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Der Aufstieg der asiatischen Staaten

Die Krise um den Euro, die kritische Frage nach der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft und der wirtschaftliche und politische Aufstieg asiatischer Staaten - all das wirft die Frage auf, ob das europäische Zeitalter endet.

Von Bettina Mittelstrass | 21.07.2011
    Auszug aus einer Kindergeschichte:
    Europa wurde sehr, sehr alt. Aber irgendwann musste sie sterben - weil sie ein Mensch und nicht unsterblich war, auch Zeus konnte das nicht ändern. Er überlebte, wie er sie unsterblich machen könnte.

    Der griechische Göttervater Zeus verliert nur seine irdische Gattin. Der Erdteil, den er nach ihr benennt, wird viel älter. Unsterblich? Lange gilt er als die Mitte der Welt. Eine Vorstellung, von der sich die Europäer nur ungern verabschieden.

    "Generell neigen die Menschen in Europa schon weiterhin gern dazu, die Welt sehr stark als zentriert auf Europa wahrzunehmen, was sie aber einfach nicht ist und ganz sicher nicht mehr ist - also man kann fragen, ob sie das jemals war. Natürlich im Zeitalter des Kolonialismus und der Weltherrschaft kann man sagen, dass Europa in ganz starkem Maß das Zentrum der Welt war, aber das ist heute sicher nicht mehr der Fall, und es ist gewissermaßen täglich abnehmend diese Bedeutung, einfach durch den enormen, ökonomischen, technischen Aufstieg, durch die enorme Modernisierung anderer Weltteile."

    Der Historiker Professor Hans Joas von der Universität Freiburg. Solange die europäischen Nationalstaaten die Welt kolonialisierten und gemeinsam kontrollierten, war Europa eine Welt gestaltende Macht. Es gab dafür sogar bestimmte gemeinsame Machtinstrumente, sagt Professor Wolfgang Reinhard von der Universität Erfurt:

    "Zwei Berliner Konferenzen haben wir Ende des 19. Jahrhunderts, wo man da sich einigt und zwar meistens auf Kosten des Rests der Welt. Das ist genau der Punkt. Da kann man sehen, wie die Gemeinsamkeit der europäischen Kolonialherrschaft dann schließlich doch funktioniert."

    Mit der militärischen Überlegenheit und Macht Europas ist es allerdings Mitte des 20. Jahrhunderts ganz klar vorbei.

    "Also teilweise mit der Entkolonialisierung, aber natürlich ganz wesentlich durch die immer größere Bedeutung der USA. Und insofern ist es eigentlich schon nach 1945 nicht so, dass man von einem europäischen Zeitalter reden kann.

    "Aber was eben behauptet wird von den sogenannten Postkolonialisten - eine sehr einflussreiche Denkschule - dass eben die kulturelle Abhängigkeit gegeben sei. Und das ist insofern richtig, als wir so etwas eine europäisch geprägte Weltkultur haben. Das fängt bei ganz banalen Dingen an. Ich habe also behauptet, dass wenn man so einen Kaftan oder einen buntes westafrikanisches Gewand lüpfe, dann seien eben die europäischen Unterhosen und Büstenhalter drunter zu finden. Das ist das Banalste, aber das zieht sich dann hin bis zu den geistigen Spitzenleistungen, die dann mit Nobelpreisen belohnt werden, also Literatur, Kunst, Wissenschaft, Religion, nicht? Alles. "

    Professor Wolfgang Reinhard von der Universität Erfurt. Auch auf dem politischen Parkett gibt es bestimmte global diskutierte Themen, in denen eindeutig Europa steckt. Die großen Proklamationen der Neuzeit - etwa die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, die Menschenrechtserklärung oder das kommunistische Manifest. Sie sind für den Mannheimer Professor Peter Graf Kielmansegg Schlüsseltexte europäischen Denkens mit weltweiter Karriere.

    "Es sind Texte, die sich zunächst einmal auch wirklich an die Menschheit wenden, und es werden inhaltlich dann auch Thesen formuliert, die jeden Menschen betreffen. Zweitens aber ist da natürlich auch die Frage ihrer Wirksamkeit, ihrer historischen Wirksamkeit ganz wesentlich für die Auswahl dieser Texte, und ich denke, man kann von allen drei Texten ohne Zögern sagen, dass sie eine Weltwirkung entfaltet haben. "

    Weltwirkung statt Weltherrschaft, so der Politikwissenschaftler. Und mit der Wirkung Europas ginge es keineswegs derzeit erkennbar bergab:

    "Wir leben in einer Zeit, in der die Weltwirkung Europas noch vielfältig und noch tief hinein bis in die Alltagsrealitäten spürbar ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass das zu einem Ende kommt, ist, würde ich gegenwärtig sagen, nicht sehr groß. Das bezieht sich ja von Fragen des politischen Denkens über Fragen der Geltung europäischer Wissenschaft bis hinein in die Techniken, die in Europa entwickelt worden sind, und die ganze Welt beherrschen. Aber natürlich können wir nicht wissen, ob nicht irgendwann auch diese Weltwirkung zu Ende geht und ganz andere Kräfte an ihre Stelle treten, aber im Moment sehe ich sie noch nicht. "

    Noch immer geht diese Wirkung so weit, dass ein Historiker aus Europa problemlos über sein Europa schreiben kann ohne den Rest der Welt zu erwähnen. Ob das klug ist oder nicht, sei dahin gestellt. Es ist immerhin möglich. Für andere Untersuchungen auf der Welt gilt das nicht, sagt Wolfgang Reinhardt.

    "Ein Inder oder irgendein anderer Mensch aus dem Rest der Welt, auch wenn er über Indien schreibt, der landet immer bei europäischen Denkfiguren und Realfiguren, etwa vor allem natürlich beim westlichen Nationalstaat, dieser wichtigsten Errungenschaft Europas, wenn sie so wollen, oder sagen wir mal dem wichtigsten Exportartikel Europas. Denn außer dem Vatikan behaupten ja heutzutage alle Staaten, sie seien Nationalstaaten und auch demokratisch verfasst, nicht? "

    Damit wanderte zum Beispiel auch das europäische Bildungswesen überall in die Welt, sagt Reinhardt. Nur -Wer jetzt denkt, diese Ideen "gehörten" irgendwie noch den Europäern, liegt wiederum falsch, meint der Historiker. Die Verbreitung bedeute gerade nicht, dass der europäische Einfluss steige,

    "sondern im Gegenteil, dass die anderen eigentlich diese Dinge übernommen haben und die Europäer enteignet haben."

    Beispiel: Christentum - ein weiterer Exportschlager. Unzählige europäische Missionare leisteten in vielen Kolonialländern ganze Arbeit.

    "Das Allerspannenste ist aber eben, dass nach dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft - etwa über Afrika - das dort schon so ein bisschen durch missionarische Anstrengungen vorhandene Christentum nicht etwa gleich wieder verdorrte, weil diese Unterstützung durch die Kolonialmacht jetzt ja weggefallen ist, sondern dass es eigentlich danach erst so richtig aufgeblüht ist. Und daraus einerseits und einfach durch die Dynamik der Bevölkerungsvermehrung, durch die Berücksichtigung der demografischen Dimension, sehen wird, dass wir gegenwärtig Zeugen einer der größten Expansionsphasen des Christentums in seiner Geschichte sind, aus weltweiter Perspektive gesprochen."

    Und so wandert das Christentum durch Migration in das säkularisierte Europa zurück. Es ist die Religion vieler Einwanderer aus Afrika - ein Christentum mit einer neuen, eigenen Dynamik. Auch an der Idee der Menschenrechte lässt sich eine ähnliche Rückwirkung zeigen, sagt Graf Kielmannsegg:

    "Die Menschenrechte, die Idee, dass jeder Mensch als Mensch bestimmte Rechte hat, wird in Europa formuliert, wirkt von Europa aus in die Welt hinein, hat im 20. Jahrhundert eine wirkliche Weltkarriere dann. Aber indem diese Idee aufgenommen wird von anderen Kulturen, wird sie natürlich auch verändert. Da muss man denke ich auch wirklich unterscheiden zwischen der bloßen Instrumentalisierung dieser Ideen. Also wenn etwa die Chinesen zurzeit politisch sehr stark betonen, dass sie zwar die Idee der Menschenrechte teilen, aber darunter eben doch etwas anderes verstehen müssen, dann ist ein Stück natürlich auch politische Abwehr darin. Aber ich denke schon, dass auch nichteuropäische Kulturen, indem sie sich dieser Idee dann bemächtigen, langfristig möglicherweise sie auch anreichern. Und das sollte Europa sehr aufmerksam verfolgen. "

    Die guten europäischen Ideen mit den guten, aus aller Welt importierten Ideen weiterentwickeln - Bei so viel positiv klingender Wirkung und Rückwirkung, darf man eines nicht vergessen: Es gibt düstere Kapitel Europas, deren Weg und Wirkung mancher gerne am Ende sehen würde. Sie sind auch in irgendeiner Form noch da. Hans Joas:

    "Ich habe gar keinen Zweifel an der enormen Bedeutung und weltweiten Bedeutung der europäischen Kultur. Aber - zwei Einschränkungen würde ich doch immer machen wollen: Im 20. Jahrhundert hat Europa die modernen Totalitarismen hervorgebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man in Europa im 20. Jahrhunderts redet ohne den Faschismus, den Nationalsozialismus und in vieler Hinsicht den Stalinismus also ganz in den Vordergrund der Betrachtung zu stellen. Und das verbietet es, so zu tun, als würde die europäische Geschichte irgendwie linear auf alles Edle, Gut, Schöne hinführen. Das berücksichtigt mir zu wenig die tiefe Erschütterung, die doch eigentlich ein solches Geschichtsbild erfahren muss bei der Berücksichtigung des realen 20. Jahrhunderts in Europa. "

    Und da ist noch ein anderer Zweifel angebracht. Wer sagt eigentlich, dass bestimmte Ideen typisch europäisch sind? Nicht selten fußt diese Vorstellung auf schlichter Unkenntnis anderer Denktraditionen. Hans Joas:

    "Es wird gesagt: Aber selbstverständlich konnte nur aus dem Christentum Kritik an der Sklaverei kommen. Das ist aber nicht wahr! Weil aus dem Buddhismus in Thailand beispielsweise die Kritik an der Sklaverei kam - im 19. Jahrhundert, ja? Das übersteigt ja vielleicht den Wissenshorizont überhaupt jedes Einzelnen. Also insofern ist Globalgeschichte zu sagen ein schönes Programm, aber es ist was anderes, das tatsächlich zu leisten. Es müsste mindestens bei jemandem zu großer Vorsicht bei Behauptungen über Spezifik und erst recht bei Überlegenheit führen, der diese Behauptungen nicht auf einer soliden vergleichenden Basis macht. "

    Europas Ende und Einfluss sind relativ. Und vielleicht ist die Rede von dominierenden und unterliegenden Erdteilen überhaupt überholt. Und wenn sie denn sein soll. Hans Joas:

    "Vielleicht ist im Augenblick eigentlich die aktuellere Frage eher: Endet zurzeit die Zeit einer amerikanischen Dominanz über den Globus?"