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Der Bildhauer als Zeichner

Auch wenn es in Paris ständig gute Ausstellungen gibt: Zeichnungen des Bildhauers Auguste Rodin gibt es wirklich selten zu sehen. Das Musée Rodin beherbergt nun eine Ausstellung, die den Bildhauer als Zeichner zeigt.

Von Kathrin Hondl |
    "Es ist eigentlich ganz einfach", sagte Rodin am Ende seines Lebens: "Meine Zeichnungen sind der Schlüssel zu meinem Gesamtwerk." Rund 10.000 Rodin-Zeichnungen sind erhalten, mehr als 7000 davon gehören zum Bestand des Musée Rodin in Paris - ein extrem lichtempfindlicher Schatz, der entsprechend selten gezeigt wird. Für die aktuelle Ausstellung hat die Kuratorin Nadine Lehni Zeichnungen aus Rodins Spätwerk ausgesucht. Denn auch wenn Rodin sein Leben lang gezeichnet hat – im Alter von über 60 Jahren fängt er noch einmal ganz neu an:

    "Die Zeichnungen, die wir hier zeigen, markieren einen Wendepunkt im Werk von Rodin. Es sind Aktzeichnungen, die Rodin also mit einem lebendigen Modell realisiert hat. Das hatte er in früheren Jahren nie gemacht. Und für dieses Aktzeichnen erfindet er sich völlig neue Herangehensweisen. Ab den 1890er-Jahren wird das Zeichnen für ihn so wichtig, dass er da seine ganze Schaffenskraft hineinsteckt und sich erstmals auch nur als Zeichner in Ausstellungen präsentiert."

    Mehr noch als im bildhauerischen Werk von Rodin dreht sich bei den Zeichnungen alles um den weiblichen Körper. Mit klassischen Aktzeichnungen aber haben diese Blätter nichts mehr zu tun. Rodin experimentiert. Den Frauen, die er zeichnet, verlangt er viel ab. Liegend, mit gespreizten Beinen; sitzend, einen Fuß unter das Kinn gehoben; auf einem Bein stehend ... in allen möglichen und unmöglichen Positionen oder besser: Bewegungen bringt er seine Modelle aufs Papier, ohne den Blick von ihnen abzuwenden. So entstehen schematische Momentaufnahmen des weiblichen Körpers, die Rodin dann weiter bearbeitet: Mal schneidet er Formen aus und collagiert, kombiniert so mehrere Zeichnungen, mehrere Frauenkörper zu einem neuen Bild. Oft bringt er auch Farbe ins Spiel – aquarelliert auf den Zeichnungen und schafft so atemberaubende Bilder von Körpern, die frei im Raum zu schweben scheinen. Eine ganze Serie von Zeichnungen bearbeitet er in beinah schockierend kräftigen Farbtönen - Rot, Orange, Grün, Blau. Die Zeichnungen des Bildhauers Rodin erinnern da an die Bilder des Malers Matisse.

    "Die Farben haben nichts mehr mit der Realität zu tun, sagt Nadine Lehni. Sie maskieren fast die ursprüngliche Zeichnung, die Farbe überflutet und erobert die Blätter. Rodin erweist sich da als ein Künstler, der den Fauvisten nahe steht, den deutschen Expressionisten auch wie Nolde zum Beispiel. Er ähnelt aber auch Baselitz, wenn er etwa eine auf dem Kopf stehende Zeichnung aquarelliert."
    Es ließen sich noch viel mehr moderne und zeitgenössische Wahlverwandte nennen – manche Zeichnungen erinnern an Klimt, andere an Beuys. Es ist offensichtlich: Rodin war ein Zeichner der Moderne und er bediente sich der formellen Bildsprachen der Moderne.

    Vor allem jedoch zeigen die Zeichnungen, wie unendlich fasziniert, ja wahrscheinlich besessen Rodin vom weiblichen Körper war. In einer ganzen Serie hocherotischer Zeichnungen wird das weibliche Geschlecht zum Zentrum, zum Mittelpunkt des Bildes. Es sind Nahaufnahmen wie auf Courbets berühmten Gemälde vom "Ursprung der Welt". Für Rodin scheint hier, zwischen den gespreizten Beinen der Frauen, der Ursprung der Kunst zu liegen. "Avant la création" – "vor dem Kreieren" nannte er eines dieser intimen Meisterwerke.

    "Er war fasziniert vom weiblichen Geschlechtsteil – wie übrigens auch vom männlichen. Seine Balzac-Plastik beginnt er, indem er das erigierte Geschlecht des Schriftstellers formt. Für Rodin gehören sexuelle und künstlerische Kraft zusammen. Ob es sich um Balzacs schriftstellerische Kraft handelt oder seine eigene schöpferische Kraft."

    Insofern erscheinen die 300 Zeichnungen, die jetzt im Musée Rodin gezeigt werden, tatsächlich als das, was Auguste Rodin selbst in ihnen sah: ein Schlüssel zu seinem Gesamtwerk.