Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Der blaue Duft

Blau ist die Provence wie jeden Sommer, zart blüht der Lavendel auf den Feldern und entzückt die Touristen. Doch auch für die Einheimischen ist die wohlriechende Pflanze ein Lebenselixier: Ob als Rezeptbeigabe, Medizin oder Reinigungsmittel - in der Provence ist der Lavendel omnipräsent.

Von Christiane Siebert | 02.09.2007
    Marktcafé von Valensole, einem 2000-Einwohner-Ort unweit von Manosque. Die quirlige Wirtin lässt Lavendellegenden wieder aufleben: wie jene Bäuerin, die aus unzähligen Lavendelpflanzen genau die herrausroch, die auf den Abhängen des Lure-Gebirges wächst.

    Und aus der Jukebox schallt ein Lavendel-Chanson: Es lebe Valensole, Valensole und deine Lavendelfelder, Valensole mit deinen stillen Gassen, auf denen wir abends mit unserem Liebsten wandeln.

    Der alte Herr im Marktcafé bekommt feuchte Augen. Maurice Chaspoul ist Lokalpolitiker und hat sein ganzes Leben in Valensole verbracht:

    "Das sind die Lavendelpflückerinnen, sie singen Lieder, die von unserem Dorf handeln, von seinen Brunnen, vom Lavendel. Lavendel hat eine magische Wirkung: Er heilt Wunden, er parfümiert. Wenn Sie Rheuma haben, dann reiben Sie etwas Lavendel auf die wehe Stelle, und schon geht es besser. Vor allem aber beruhigt der Lavendel die Leute."

    Je nach Lage steht der Lavendel zwischen Mitte Juni und Ende August in voller Blüte. Und wird dann ganz schnell geerntet, bevor die Samen abfallen. Damit nichts von den kostbaren ätherischen Ölen verloren geht.

    Auf einem Mäuerchen am Rand eines herb-süß duftenden Lavendelmeers sitzen zwei alte Bauern und sehen dem jungen Mann auf dem Traktor zu, der die Lavendelernte einfährt. Ihr südfranzösischer Singsang kontrastiert mit den düsteren Zukunftsprognosen:

    "Die Bauern, die werden verschwinden. Der Lavendel-Anbau bringt nicht mehr genug ein. Dann müssen wir eben die Sonne verkaufen. Davon haben wir hier ja genug. Mir selbst passt das zwar nicht: Aber die Sonne wird bald wichtiger sein als der Lavendel."

    Die Provence ohne Lavendel? Nie und nimmer, sagt Jean Noël Landel, Verfechter der Aromatherapie. In seinem Labor im Schlösschen des Felsennestes Simiane-la-Rotonde destilliert er für seine Besucher Lavendel, schimpft dabei über die Vergeudung des Lavandins, einer Kreuzung zweier Lavendelarten, in Putzmitteln: Das ruiniere den guten Ruf des Lavendels. Vor allem aber wettert Jean Noël Landel gegen künstliche Duftstoffe:

    "Viele Leute mögen den natürlichen Lavendelduft gar nicht, ganz einfach, weil sie ihn nie gerochen haben. Sie sind an den Geruch dieser Duftverströmer gewöhnt, die in den Toiletten hängen. Genauso wie sie Fischstäbchen lieber mögen als frischen Fisch. Es wird also Zeit, die Leute umzuerziehen!"

    Sanfte und sinnliche Umerziehung ist geradezu ein Muss in einem provenzalischen Urlaubsprogramm: Workshops zum Thema "Slow Food" und Naturkosmetik gibt es im Städtchen Forcalquier.

    Zum Beispiel Lavendel-Badesalz. Ein betäubender Duft umhüllt ein Dutzend Workshopteilnehmer, die ätherisches Lavendelöl mit grobem Kochsalz verrühren: Natur pur. Seminare über Medizinpflanzen und Essgewohnheiten im Mittelalter, aber auch "Riechkurse" bietet das Kloster Salagon.

    Lavendel-Honig, Waschmittel oder Seife mit Lavandin? Unglaublich, wie die verkümmerte Städternase sich täuscht, wenn die Düfte sich in einförmigen Röhren verbergen. Duft mit Bild bieten dafür die üppigen Klostergärten von Salagon: Fast 4000 Pflanzenarten wachsen dort! Ethno-Botanikerin Dorothy Dore weiß alles über ihren traditionellen Nutzen im Kochtopf, Waschzuber…und im Sarg:

    "Lavendel wurde häufig benutzt, um Tote zu waschen. Heute wird der Lavendel ja auch in der Küche verwendet: Es gibt Lavendelsirup, Lavendeleis und Schweine- oder Wildterrine mit Lavendel. Klar, dass die Leute aus der Haute Provence die Vorstellung furchtbar finden, Lavendel zu essen, denn sie verbinden diese Pflanze mit dem Tod."

    Doch der Durchschnitts-Tourist kennt diesen alten Brauch nicht. Die Auslagen der örtlichen Fremdenverkehrsbüros quellen über von Werbung für Lavendel-Kochkurse – vom "Traumdessert mit Lavendel" bis zu Lavendelbarbecue reicht das Angebot. Aber auch manch Alteingesessener wird mit modernen Geschmacksexperimenten konfrontiert.

    Wir sind wieder am Ausgangspunkt, im Dorfcafé von Valensole. Maurice Chaspoul sitzt an seinem Stammplatz, erzählt Anekdoten, verstummt dann, als das Essen kommt. Vorsichtig riecht er an dem Lavendelzweig, der über einem kleinen runden Ziegenkäse drapiert ist. Er balanciert ein Stück Käse zum Mund, kaut, wiegt den Kopf, sinniert: Doch als er zu einer neuen Rede ansetzt, kommentiert er nicht etwa den Lavendelkäse, nein, die Geschmacksmischung hat völlig unerwartete Assoziationen in ihm wachgerufen:

    "Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern. 1965 hat hier ein Lavendelbauer eine fliegende Untertasse gesehen. Damals sind Journalisten aus der halben Welt angereist, um darüber zu berichten. Der Bauer hat gesehen, wie zwei kleine Männchen aus dem Ufo ausgestiegen sind. Warum lachen Sie denn? Das ist wirklich passiert! Es war fünf Uhr morgens, der Bauer, er hieß Maurice Masse, arbeitete in seinem Lavendelfeld. Er beobachtete, wie die Männchen wieder eingestiegen sind, und hui, ist das Ding abgeflogen, Richtung Manosque. Hier im Café hat der Maurice uns alles erzählt. Wir sind dann alle zu dem Lavendelfeld gegangen, wo es passiert ist, und ich kann Ihnen sagen: Da war eine Spalte im Feld, so groß wie diese beiden Tische hier zusammen. Einige Tage später ist ein Wissenschaftler vom staatlichen Institut CNRS gekommen, um eine Konferenz über Ufos abzuhalten. Und der sagte: Valensole bedeutet nicht ‚Sonntental’, wie alle denken, sondern: Land der fliegenden Untertassen."

    Land der fliegenden Untertassen hin oder her: Bis heute wurden hier keine weiteren außerirdischen Lavendel-Touristen gesichtet. Dafür aber Exoten im Fesselballon: Ein Team macht jetzt startklar: gerade wird der Fesselballon aufgeblasen. Es geht los! Die Korbinsassen winken Maurice Chaspoul zu, der klein und verloren vor violettem Hintergrund steht. Vielleicht denkt auch er über die Zukunft des Lavendels nach: Statt Produkt bald nur noch blaue Kulisse für Sport und Spaß?

    Ab und an eine Anweisung aus dem Walky Talky, ansonsten ist es still: Immer höher steigt der Ballon, schwebt über Eichenwälder, Mandelhaine, über lila Lavendelmeere, so weit das Auge reicht.