Ich war sehr überrascht, als ich während eines Essens aus dem Mund des brasilianischen Botschafters in Paris die offizielle Version vernahm: "Indianer? Ach, verehrter Herr, das sind Lichter, die alle erloschen sind. Ja, ein sehr trauriges, sehr beschämendes Kapitel in der Geschichte meines Landes. Aber die portugiesischen Siedler des 16. Jahrhunderts waren geldgierige und brutale Menschen. Sie bemächtigten sich der Indianer, fesselten sie vor die Kanonenmündungen und durchlöcherten sie bei lebendigem Leib. Auf diese Weise hat man sie alle erwischt, bis auf den letzten Mann. Als Soziologe können Sie in Brasilien viele anregende Dinge entdecken, aber die Indianer, die schlagen Sie sich aus dem Kopf. Sie werden keinen einzigen mehr antreffen."
Als Claude Levi-Strauss sich 1934 auf die Überfahrt nach Brasilien vorbereitete, stieß er auf dieses Beispiel kolonialistischer Arroganz, die seit Kolumbus die Geschichte durchzieht. Die indigene Urbevölkerung, nicht nur in Amerika, wurde von den Europäern unterdrückt, missachtet und vertrieben, und wo sie nicht gänzlich ausgerottet ist, dort wurden die Indianer wie in diesem Fall sogar von den Repräsentanten ihres eigenen Landes verleugnet und vergessen.
Doch inzwischen hat - vielleicht auch dank der Arbeit der Ethnologen - ein Bewusstseinwandel stattgefunden, meint der emeritierte Marburger Ethnologe Mark Münzel:
"Gerade in den letzten 20 Jahren hat sich da viel verändert, die Indianer sind zu Menschen im brasilianischen Bewusstsein geworden. Das heißt nicht, dass ihre Lage ideal wäre, aber das heißt, dass ihre Lage zum Gegenstand von Medien geworden ist, so dass heute die Leute, die fernsehen, das sind die meisten, eine Ahnung haben, dass es in Brasilien Indianer gibt. Also da hat sich einiges getan, seid Levi-Strauss' Reisezeit. Es hat eine Bevölkerungsexplosion gegeben bei den Indianern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, entgegen pessimistischen Aussagen. Es ist ein bisschen schwierig genaue Zahlen zu nennen, man weiß nicht genau wie viele es früher waren, jedenfalls um 1950 ging man aus von ungefähr 200.000 Indianern, und heute geht man aus von einer knappen Million."
Die Indianer Brasiliens haben es geschafft zu überleben, sich sogar zahlenmäßig wieder erholt, aber das Ende der Stammeskulturen ist damit nicht abgewendet. Fürchten müssen sie heute nicht mehr so sehr krude Waffengewalt, aber dafür umso mehr eine Zivilisation, die mit Tempo und Technik, mit Mode und Einheitssprache ihre kleine Welt überrollt. Vor allem werden ihre Lebensräume im schrumpfenden Regenwald immer stärker eingeengt.
Einen Verbündeten haben sie in den Ethnologen gefunden, die in früheren Jahrhunderten meist auf Seiten der Eroberer standen. Dazu bedurfte es auch einer Selbstkritik ihrer Wissenschaft. Sie konnte in der Öffentlichkeit nicht länger die Vorstellung von Abenteurerei bedienen und ein romantisches Bild, das die Indianer als bessere Menschen, als 'Edle Wilde' verklärt. So eröffnete Claude Levi-Strauss sein berühmtestes Buch - Traurige Tropen - mit dem provozierenden Bekenntnis: "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende." Levi-Strauss meinte dazu in einem Interview in den neunziger Jahren rückblickend:
"Als ich das damals schrieb, das heißt vor ungefähr 40 Jahren, hat mich diese Art Abstand zur Öffentlichkeit, für die die Ethnologie noch ein romantisches Abenteuer war, sehr irritiert. Wo wir Ethnologen genau wussten, welche Hindernisse und welche bürokratischen und administrativen Schwierigkeiten auf uns zukamen, um uns an den Ort, der letztlich ja unser Forschungslabor war, zu begeben. Dieses Labor kann zwar 10.000 Kilometer von unserem Büro entfernt sein, aber nichtsdestotrotz ist es doch unser Forschungslabor wie das des Biologen oder des Chemikers, der sein Labor gleich nebenan hat. Heute, wo es keinen Fleck mehr auf der Erde gibt, wo die Menschen der westlichen Zivilisation nicht eingedrungen sind und sich niedergelassen haben, ist die ethnologische Forschung zu einer Arbeit geworden, die zwar nicht an Wichtigkeit verloren hat, aber die eine sozusagen bürokratische Dimension angenommen hat."
Klischees gibt es nicht nur von der Ethnologie, sondern auch über Claude Levi-Strauss. Seine Persönlichkeit war fixiert im Bild des Gelehrten, der sich abseits von Politik und Tagesfragen ganz und gar der Wissenschaft hingibt. Ein Konservativer, der nichts hält von historischem Fortschritt und sozialer Veränderung. Michael Kauppert, ein junger Soziologe hat in diesem Jahr eine Studie über Leben und Werk Claude Levi-Strauss' veröffentlicht, die dieses Bild revidiert.
"Levi-Strauss war zeit seines beruflichen Lebens - man kann sagen - Funktionär. Er hat schon sehr früh in seiner Jugend als Student gearbeitet, als Generalsekretär der sozialistischen Studentenvereinigung in Frankreich, war später dann Referent eines sozialistischen Abgeordneten, hat sich also anfangs sehr in der Politik umgetan. Im Exil war er Sekretär einer französischen Bildungsinstitution, er war dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Kulturrat der französischen Botschaft, um dann später, als er nach Paris zurückkehrte, Abteilungsleiter am Musée de l'Homme zu sein, dann in einer Beratungskommission der UNESCO - also man kann sehen, dass er nicht nur in Einsamkeit und Freiheit vor sich hingedacht hat, sondern eben auch lange Zeit als Funktionär in verschiedenen Parteien und Organisationen mit kommunikativen Aufgaben betraut war."
Claude Levi-Strauss wurde 1908 in Brüssel geboren, wo sein Vater gerade einige Auftragsarbeiten als Kunstmaler ausführte. Die Porträtmalerei ernährte die Familie mehr schlecht als recht, und der junge Claude Levi-Strauss lernte früh schon, neben dem Studium seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Ethnologie hat er gar nicht studiert, sondern Philosophie und Rechtswissenschaften. Die anschließende Tätigkeit als Lehrer füllte ihn nicht aus. Da lockte die Ethnologie mit der Aussicht, die Welt kennenzulernen. Vielleicht waren es aber auch die jüdische Herkunft und Erfahrungen des Außenseitertums, die ihn für die ethnologische Frage nach dem Anderen und der anderen Kultur sensibilisierten. Levi-Strauss dazu selbst:
"Meine Eltern waren schon nicht mehr gläubig und fühlten sich auch nicht an die jüdische Tradition gebunden. Ich bin also völlig außerhalb davon erzogen worden. Nur, es ist klar, dass es während meiner Jugendzeit in Frankreich einen latenten Antisemitismus gab, und ich als Kind in der Schule und auf dem Gymnasium oft Beleidigungen oder Beschimpfungen ausgesetzt war. Es war nicht extrem gefährlich; vorgekommen ist es trotzdem. Sicherlich stellt diese Anfeindung ein Problem für einen jungen Juden dar, denn er fühlt sich der nationalen Gemeinschaft zugehörig, und in dieser nationalen Gemeinschaft gibt es Leute, die ihn ablehnen, die ihn in Frage stellen. Ja, vielleicht bekam man dadurch tatsächlich eine Art Übung, sich gleichzeitig drinnen und draußen zu fühlen."
Die zweite Hälfte der dreißiger Jahre verbrachte Levi-Strauss in Brasilien. Während des Semesters lehrte er Soziologie in Sao Paulo, in den Ferien startete er seine Expedition in den Matto Grosso zu den Bororo und den Caduveo, ein anderes Mal zu den Tupi-Kahwahib und den Nambikwara.
Bei seiner Erforschung der Verwandtschaftssysteme suchte Levi-Strauss in der verwirrenden Vielfalt der Phänomene, in der "empirische Suppe" wie er sagte, nach invarianten Regeln, nach einer zugrunde liegende Ordnung.
Dabei griff er die sogenannte strukturale Methode auf, die sein Freund im New Yorker Exil, der russische Linguist Roman Jakobson bei der Untersuchung der Sprache nutzte. Levi-Strauss, der selber ein großer Opernliebhaber ist, hat den Strukturbegriff mit einer musikalischen Partitur gleichgesetzt. Der Strukturalist ist gleichsam in der Rolle eines Musikforschers, der eine Reihe unterschiedlicher Aufführungen eines einzigen musikalischen Werkes erlebt und nun, indem er sie vergleicht, versucht die unbekannte zugrunde liegende Partitur herauszufinden.
In seinem Spätwerk Mythologica hat Levi-Strauss mit dieser Methode über 800 Mythen aus dem amerikanisch-indianischen Kulturkreis analysiert. Der erste der vier Bände trägt den Titel "Das Rohe und das Gekochte". Leitgedanke ist seine These, dass die Mythen den Übergang von der Natur in die Kultur thematisieren.
"Was ich in diesen Büchern versucht habe auszudrücken, ist, dass die Indianer diesen Übergang von der Natur zur Kultur als die Erfindung des Küchenfeuers darstellen beziehungsweise symbolisieren. Es ist wahrhaftig der zentrale Punkt in ihrer Mythologie, denn der Hauptunterschied zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich der Tiere ist, dass die Tiere roh essen, die Menschen hingegen gekocht. Infolgedessen ist die Erfindung des Küchenfeuers das entscheidende Phänomen, das den Übergang von der Natur zur Kultur kennzeichnet."
Die Mythen sprechen über das Grundthema, den Übergang von der Natur zur Kultur, nicht in theoretischer, sondern in narrativ-bildhafter Weise. Sie erzählen, wie Menschen mit dämonischen Mächten um den Besitz des Feuers kämpfen, das sie benötigen, um ihre Nahrung zuzubereiten, aber auch, um den Boden durch Brandrodung urbar zu machen.
Sie erzählen ebenso vom Ursprung des Wassers, von Himmel und Erde, von Göttern, Tieren und Pflanzen in einer uns fremden, surrealistisch anmutenden Weise. Im mythologischen Reigen wandeln sich die Themen und Figuren, oder sie tauschen ihre Plätze. Von Stamm zu Stamm wird ein Mythos ständig neu und ein wenig anders erzählt. Einen Urtext gibt es deshalb ebenso wenig wie einen ersten Erzähler oder eine letzte abschließende Bedeutung. Vielmehr werden die Mythen immer wieder umgedichtet und transformiert, jedoch nach Regeln, die Levi-Strauss unbewusst und kollektiv existieren.
Levi-Strauss unterstellt dem System der Sprache einen unbewusst operierenden Geist, der gleichsam hinter dem Rücken der Sprechenden am Werke ist. Man hat Levi-Straus deshalb vorgeworfen, dass er das menschliche Subjekt, den Einzelnen, in seinem Ausdruckswillen ausblende. Hier stoße die Erklärungskraft von Levi-Strauss' Ansatz an eine Grenze, meint auch der Ethnologe Mark Münzel, der selbst eine Zeit in Paris bei Levi-Strauss studiert hat.
"Die Grenze liegt darin, dass dabei der Individualfall vernachlässigt wird, die neuere Ethnologie seit den achtziger Jahren hat einen Wandel, eine Kehre gemacht, die Levi-Strauss nicht mehr mitgemacht hat, nämlich sie hat das Individuum stärker in den Mittelpunkt gestellt, die Erzählerpersönlichkeit, der oder die Einzelne, die heiratet, das Schicksal des Individuums auch in einer fremden Gesellschaft, und sie hat stärkeres Augenmerk gerichtet auf den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft."
Die Frage nach dem Einzelnen erscheint Levi-Strauss sekundär. Im verborgenen Regelsystem der Sprache vermeint er die Antwort auf seine Frage finden, wie das menschliche Denken funktioniert. Ein universeller menschlicher Geist zeigt sich in vielerlei Gestalten: in Mathematik und wissenschaftlicher Methode, aber ebenso in literarischer und musikalischer Form. Alle erklärt er deshalb für gleichberechtigt, keine habe ein Wahrheitsmonopol, auch nicht die Wissenschaft.
Levi-Strauss' Theorie ist wegweisend für einen interkulturellen Dialog. Er hat das "Wilde Denken" - so einer seiner Buchtitel - gegenüber der Rationalität rehabilitiert. Denn auch in den Ritualen und Mythen der Stammeskulturen offenbare sich ein Welt erschließender, ordnender Geist. Insofern könne man Mythos und Wissenschaft durchaus miteinander vergleichen und in ihren jeweiligen Besonderheiten bestimmen.
"Wenn wir ein Problem haben, wenden wir uns an diejenige Wissenschaft, die wir jeweils für kompetent halten, um unser Problem zu lösen. So fragen wir einen Physiker nach der Lösung eines physikalischen Problems oder einen Biologen nach der Lösung eines biologischen Problems und so weiter. Das Besondere am mythischen Denken hingegen ist, globale Lösungen anzubieten. Totale Lösungen. Der Mythos bestätigt, dass es eine Entsprechung oder eine Äquivalenz zwischen dem physikalisch, dem biologisch und dem soziologisch formulierten Problem gibt. Für den Mythos ist es ein und dasselbe Problem, zum Beispiel zu wissen, warum die Sonne im richtigen Abstand zur Erde stehen muss. Denn wenn sie zu nah stünde, würde die Erde verbrennen, wenn sie zu weit entfernt stünde, wäre es schrecklich kalt, es würde ewige Nacht herrschen. Oder zu wissen, warum man eine Frau heiraten sollte, die einem weder zu nah ist, denn dies würde zu einer allgemeinen Konfusion der Gesellschaft führen; noch zu fern ist, denn dann wäre sie die Verbündete meiner Feinde."
Die Wissenschaft verfährt analytisch, sie zergliedert, der Mythos operiert holistisch, er schafft mit seinen Bildern und Geschichten ein Ganzes. Auch heute im wissenschaftlichen Zeitalter benutzen die Menschen im Alltag eine dem Mythos ähnliche Rede. Belege dafür liefert der Soziologe Michael Kauppert in seinem aktuellen Forschungsprojekt.
"Ich selbst versuche mich in der strukturalen Analyse von autobiografischen Stegreiferzählungen, also wo Leute aufgefordert werden von sich und ihrem biografischen Werden zu erzählen, - und da versuche ich mir eine Eigenschaft zunutze zu machen, die auch für die Mythen gilt, die auch das Problem haben elementare Gegensätze der Herkunft zu erklären, nun gibt es etwas Analoges bei biografischen Erzählungen oder Darstellungen, denn jeder Mann oder jede Frau hat das Problem, sich selbst als Produkt eines Gegensatzes zu begreifen, nämlich der Verbindung von Mann und Frau, die dann zu übersetzen ist, wie wurden die beiden zu Vater und Mutter."
Um die eigene Identität zu ergründen, greifen wir zu Bildern und Analogien, die nicht logisch, aber sinnstiftend sind.
"Indem man diesen unbewussten, jedenfalls für die eigene Erfahrung nicht zugänglichen Gegensatz von Mann und Frau, Vater und Mutter, in Beziehung setzt zu anderen Gegensätzen - nämlich in einem Fall, dass er ein Flüchtling war und sie eine eingesessene Bauerstochter - kann man in einem Analogieschluss sagen, dass das Verhältnis von Vater und Mutter, das von einem Flüchtling zu einer Sesshaften war. Da operieren wir in der alltagssprachlichen Darstellung ganz ähnlich wie in den Mythen, wir setzen die verschiedenen Erfahrungsdimensionen auf systematische Weise in Beziehung - und das kann man wenn man sich die strukturale Analyse zunutze macht, herausarbeiten."
So erfährt die strukturale Methode von Levi-Strauss heute ihre überraschende Wiederaufnahme nicht in der Ethnologie, sondern in der Sozialwissenschaft.
Seine These von der Ebenbürtigkeit der Kulturen bleibt allgemein wegweisend, auch deshalb gilt es die Lebensräume der Stammeskulturen zu erhalten. Bereits 1976 forderte Levi-Strauss, neben den Menschenrechten auch die Rechte der Natur und den Artenschutz in die französische Verfassung aufzunehmen.
Immer wieder wendet sich sein Blick von der fremden Kultur zurück auf die eigene und moniert ihre Einseitigkeit und Egozentrik.
"Wenn wir von Levi-Strauss ausgehen, dann sagt er, eigentlich kommt es darauf an, wie viel militärtechnische Macht eine Gesellschaft hat, diese wird dann um so zentrierter, weil sie die Möglichkeit hat, die anderen nicht zu beachten. Das beschreibt er immer wieder: wie im Grunde gleichwertige Kulturen vertrieben werden, einfach weil sie nicht die gleiche Macht haben, er schreibt aber nicht nur über indigene Kulturen in Südamerika, er schreibt auch über den Buddhismus. Die "Traurigen Tropen" enden in der Beschreibung eines Besuchs in einem buddhistischen Kloster und er sieht eigentlich im Buddhismus die höchste Stufe der menschlichen Kultur. Er sagt es am deutlichsten in den "Traurigen Tropen", dass eigentlich nur eine Art Rückzug des Menschen auf die eigene Psyche, wie sie im Buddhismus gepflegt wird, den Westen retten kann, und er sagt auch etwas gegen die zwanghafte Neigung des Westens, sich ständig zu bewegen und weiterzuentwickeln."
Als Claude Levi-Strauss sich 1934 auf die Überfahrt nach Brasilien vorbereitete, stieß er auf dieses Beispiel kolonialistischer Arroganz, die seit Kolumbus die Geschichte durchzieht. Die indigene Urbevölkerung, nicht nur in Amerika, wurde von den Europäern unterdrückt, missachtet und vertrieben, und wo sie nicht gänzlich ausgerottet ist, dort wurden die Indianer wie in diesem Fall sogar von den Repräsentanten ihres eigenen Landes verleugnet und vergessen.
Doch inzwischen hat - vielleicht auch dank der Arbeit der Ethnologen - ein Bewusstseinwandel stattgefunden, meint der emeritierte Marburger Ethnologe Mark Münzel:
"Gerade in den letzten 20 Jahren hat sich da viel verändert, die Indianer sind zu Menschen im brasilianischen Bewusstsein geworden. Das heißt nicht, dass ihre Lage ideal wäre, aber das heißt, dass ihre Lage zum Gegenstand von Medien geworden ist, so dass heute die Leute, die fernsehen, das sind die meisten, eine Ahnung haben, dass es in Brasilien Indianer gibt. Also da hat sich einiges getan, seid Levi-Strauss' Reisezeit. Es hat eine Bevölkerungsexplosion gegeben bei den Indianern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, entgegen pessimistischen Aussagen. Es ist ein bisschen schwierig genaue Zahlen zu nennen, man weiß nicht genau wie viele es früher waren, jedenfalls um 1950 ging man aus von ungefähr 200.000 Indianern, und heute geht man aus von einer knappen Million."
Die Indianer Brasiliens haben es geschafft zu überleben, sich sogar zahlenmäßig wieder erholt, aber das Ende der Stammeskulturen ist damit nicht abgewendet. Fürchten müssen sie heute nicht mehr so sehr krude Waffengewalt, aber dafür umso mehr eine Zivilisation, die mit Tempo und Technik, mit Mode und Einheitssprache ihre kleine Welt überrollt. Vor allem werden ihre Lebensräume im schrumpfenden Regenwald immer stärker eingeengt.
Einen Verbündeten haben sie in den Ethnologen gefunden, die in früheren Jahrhunderten meist auf Seiten der Eroberer standen. Dazu bedurfte es auch einer Selbstkritik ihrer Wissenschaft. Sie konnte in der Öffentlichkeit nicht länger die Vorstellung von Abenteurerei bedienen und ein romantisches Bild, das die Indianer als bessere Menschen, als 'Edle Wilde' verklärt. So eröffnete Claude Levi-Strauss sein berühmtestes Buch - Traurige Tropen - mit dem provozierenden Bekenntnis: "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende." Levi-Strauss meinte dazu in einem Interview in den neunziger Jahren rückblickend:
"Als ich das damals schrieb, das heißt vor ungefähr 40 Jahren, hat mich diese Art Abstand zur Öffentlichkeit, für die die Ethnologie noch ein romantisches Abenteuer war, sehr irritiert. Wo wir Ethnologen genau wussten, welche Hindernisse und welche bürokratischen und administrativen Schwierigkeiten auf uns zukamen, um uns an den Ort, der letztlich ja unser Forschungslabor war, zu begeben. Dieses Labor kann zwar 10.000 Kilometer von unserem Büro entfernt sein, aber nichtsdestotrotz ist es doch unser Forschungslabor wie das des Biologen oder des Chemikers, der sein Labor gleich nebenan hat. Heute, wo es keinen Fleck mehr auf der Erde gibt, wo die Menschen der westlichen Zivilisation nicht eingedrungen sind und sich niedergelassen haben, ist die ethnologische Forschung zu einer Arbeit geworden, die zwar nicht an Wichtigkeit verloren hat, aber die eine sozusagen bürokratische Dimension angenommen hat."
Klischees gibt es nicht nur von der Ethnologie, sondern auch über Claude Levi-Strauss. Seine Persönlichkeit war fixiert im Bild des Gelehrten, der sich abseits von Politik und Tagesfragen ganz und gar der Wissenschaft hingibt. Ein Konservativer, der nichts hält von historischem Fortschritt und sozialer Veränderung. Michael Kauppert, ein junger Soziologe hat in diesem Jahr eine Studie über Leben und Werk Claude Levi-Strauss' veröffentlicht, die dieses Bild revidiert.
"Levi-Strauss war zeit seines beruflichen Lebens - man kann sagen - Funktionär. Er hat schon sehr früh in seiner Jugend als Student gearbeitet, als Generalsekretär der sozialistischen Studentenvereinigung in Frankreich, war später dann Referent eines sozialistischen Abgeordneten, hat sich also anfangs sehr in der Politik umgetan. Im Exil war er Sekretär einer französischen Bildungsinstitution, er war dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Kulturrat der französischen Botschaft, um dann später, als er nach Paris zurückkehrte, Abteilungsleiter am Musée de l'Homme zu sein, dann in einer Beratungskommission der UNESCO - also man kann sehen, dass er nicht nur in Einsamkeit und Freiheit vor sich hingedacht hat, sondern eben auch lange Zeit als Funktionär in verschiedenen Parteien und Organisationen mit kommunikativen Aufgaben betraut war."
Claude Levi-Strauss wurde 1908 in Brüssel geboren, wo sein Vater gerade einige Auftragsarbeiten als Kunstmaler ausführte. Die Porträtmalerei ernährte die Familie mehr schlecht als recht, und der junge Claude Levi-Strauss lernte früh schon, neben dem Studium seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Ethnologie hat er gar nicht studiert, sondern Philosophie und Rechtswissenschaften. Die anschließende Tätigkeit als Lehrer füllte ihn nicht aus. Da lockte die Ethnologie mit der Aussicht, die Welt kennenzulernen. Vielleicht waren es aber auch die jüdische Herkunft und Erfahrungen des Außenseitertums, die ihn für die ethnologische Frage nach dem Anderen und der anderen Kultur sensibilisierten. Levi-Strauss dazu selbst:
"Meine Eltern waren schon nicht mehr gläubig und fühlten sich auch nicht an die jüdische Tradition gebunden. Ich bin also völlig außerhalb davon erzogen worden. Nur, es ist klar, dass es während meiner Jugendzeit in Frankreich einen latenten Antisemitismus gab, und ich als Kind in der Schule und auf dem Gymnasium oft Beleidigungen oder Beschimpfungen ausgesetzt war. Es war nicht extrem gefährlich; vorgekommen ist es trotzdem. Sicherlich stellt diese Anfeindung ein Problem für einen jungen Juden dar, denn er fühlt sich der nationalen Gemeinschaft zugehörig, und in dieser nationalen Gemeinschaft gibt es Leute, die ihn ablehnen, die ihn in Frage stellen. Ja, vielleicht bekam man dadurch tatsächlich eine Art Übung, sich gleichzeitig drinnen und draußen zu fühlen."
Die zweite Hälfte der dreißiger Jahre verbrachte Levi-Strauss in Brasilien. Während des Semesters lehrte er Soziologie in Sao Paulo, in den Ferien startete er seine Expedition in den Matto Grosso zu den Bororo und den Caduveo, ein anderes Mal zu den Tupi-Kahwahib und den Nambikwara.
Bei seiner Erforschung der Verwandtschaftssysteme suchte Levi-Strauss in der verwirrenden Vielfalt der Phänomene, in der "empirische Suppe" wie er sagte, nach invarianten Regeln, nach einer zugrunde liegende Ordnung.
Dabei griff er die sogenannte strukturale Methode auf, die sein Freund im New Yorker Exil, der russische Linguist Roman Jakobson bei der Untersuchung der Sprache nutzte. Levi-Strauss, der selber ein großer Opernliebhaber ist, hat den Strukturbegriff mit einer musikalischen Partitur gleichgesetzt. Der Strukturalist ist gleichsam in der Rolle eines Musikforschers, der eine Reihe unterschiedlicher Aufführungen eines einzigen musikalischen Werkes erlebt und nun, indem er sie vergleicht, versucht die unbekannte zugrunde liegende Partitur herauszufinden.
In seinem Spätwerk Mythologica hat Levi-Strauss mit dieser Methode über 800 Mythen aus dem amerikanisch-indianischen Kulturkreis analysiert. Der erste der vier Bände trägt den Titel "Das Rohe und das Gekochte". Leitgedanke ist seine These, dass die Mythen den Übergang von der Natur in die Kultur thematisieren.
"Was ich in diesen Büchern versucht habe auszudrücken, ist, dass die Indianer diesen Übergang von der Natur zur Kultur als die Erfindung des Küchenfeuers darstellen beziehungsweise symbolisieren. Es ist wahrhaftig der zentrale Punkt in ihrer Mythologie, denn der Hauptunterschied zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich der Tiere ist, dass die Tiere roh essen, die Menschen hingegen gekocht. Infolgedessen ist die Erfindung des Küchenfeuers das entscheidende Phänomen, das den Übergang von der Natur zur Kultur kennzeichnet."
Die Mythen sprechen über das Grundthema, den Übergang von der Natur zur Kultur, nicht in theoretischer, sondern in narrativ-bildhafter Weise. Sie erzählen, wie Menschen mit dämonischen Mächten um den Besitz des Feuers kämpfen, das sie benötigen, um ihre Nahrung zuzubereiten, aber auch, um den Boden durch Brandrodung urbar zu machen.
Sie erzählen ebenso vom Ursprung des Wassers, von Himmel und Erde, von Göttern, Tieren und Pflanzen in einer uns fremden, surrealistisch anmutenden Weise. Im mythologischen Reigen wandeln sich die Themen und Figuren, oder sie tauschen ihre Plätze. Von Stamm zu Stamm wird ein Mythos ständig neu und ein wenig anders erzählt. Einen Urtext gibt es deshalb ebenso wenig wie einen ersten Erzähler oder eine letzte abschließende Bedeutung. Vielmehr werden die Mythen immer wieder umgedichtet und transformiert, jedoch nach Regeln, die Levi-Strauss unbewusst und kollektiv existieren.
Levi-Strauss unterstellt dem System der Sprache einen unbewusst operierenden Geist, der gleichsam hinter dem Rücken der Sprechenden am Werke ist. Man hat Levi-Straus deshalb vorgeworfen, dass er das menschliche Subjekt, den Einzelnen, in seinem Ausdruckswillen ausblende. Hier stoße die Erklärungskraft von Levi-Strauss' Ansatz an eine Grenze, meint auch der Ethnologe Mark Münzel, der selbst eine Zeit in Paris bei Levi-Strauss studiert hat.
"Die Grenze liegt darin, dass dabei der Individualfall vernachlässigt wird, die neuere Ethnologie seit den achtziger Jahren hat einen Wandel, eine Kehre gemacht, die Levi-Strauss nicht mehr mitgemacht hat, nämlich sie hat das Individuum stärker in den Mittelpunkt gestellt, die Erzählerpersönlichkeit, der oder die Einzelne, die heiratet, das Schicksal des Individuums auch in einer fremden Gesellschaft, und sie hat stärkeres Augenmerk gerichtet auf den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft."
Die Frage nach dem Einzelnen erscheint Levi-Strauss sekundär. Im verborgenen Regelsystem der Sprache vermeint er die Antwort auf seine Frage finden, wie das menschliche Denken funktioniert. Ein universeller menschlicher Geist zeigt sich in vielerlei Gestalten: in Mathematik und wissenschaftlicher Methode, aber ebenso in literarischer und musikalischer Form. Alle erklärt er deshalb für gleichberechtigt, keine habe ein Wahrheitsmonopol, auch nicht die Wissenschaft.
Levi-Strauss' Theorie ist wegweisend für einen interkulturellen Dialog. Er hat das "Wilde Denken" - so einer seiner Buchtitel - gegenüber der Rationalität rehabilitiert. Denn auch in den Ritualen und Mythen der Stammeskulturen offenbare sich ein Welt erschließender, ordnender Geist. Insofern könne man Mythos und Wissenschaft durchaus miteinander vergleichen und in ihren jeweiligen Besonderheiten bestimmen.
"Wenn wir ein Problem haben, wenden wir uns an diejenige Wissenschaft, die wir jeweils für kompetent halten, um unser Problem zu lösen. So fragen wir einen Physiker nach der Lösung eines physikalischen Problems oder einen Biologen nach der Lösung eines biologischen Problems und so weiter. Das Besondere am mythischen Denken hingegen ist, globale Lösungen anzubieten. Totale Lösungen. Der Mythos bestätigt, dass es eine Entsprechung oder eine Äquivalenz zwischen dem physikalisch, dem biologisch und dem soziologisch formulierten Problem gibt. Für den Mythos ist es ein und dasselbe Problem, zum Beispiel zu wissen, warum die Sonne im richtigen Abstand zur Erde stehen muss. Denn wenn sie zu nah stünde, würde die Erde verbrennen, wenn sie zu weit entfernt stünde, wäre es schrecklich kalt, es würde ewige Nacht herrschen. Oder zu wissen, warum man eine Frau heiraten sollte, die einem weder zu nah ist, denn dies würde zu einer allgemeinen Konfusion der Gesellschaft führen; noch zu fern ist, denn dann wäre sie die Verbündete meiner Feinde."
Die Wissenschaft verfährt analytisch, sie zergliedert, der Mythos operiert holistisch, er schafft mit seinen Bildern und Geschichten ein Ganzes. Auch heute im wissenschaftlichen Zeitalter benutzen die Menschen im Alltag eine dem Mythos ähnliche Rede. Belege dafür liefert der Soziologe Michael Kauppert in seinem aktuellen Forschungsprojekt.
"Ich selbst versuche mich in der strukturalen Analyse von autobiografischen Stegreiferzählungen, also wo Leute aufgefordert werden von sich und ihrem biografischen Werden zu erzählen, - und da versuche ich mir eine Eigenschaft zunutze zu machen, die auch für die Mythen gilt, die auch das Problem haben elementare Gegensätze der Herkunft zu erklären, nun gibt es etwas Analoges bei biografischen Erzählungen oder Darstellungen, denn jeder Mann oder jede Frau hat das Problem, sich selbst als Produkt eines Gegensatzes zu begreifen, nämlich der Verbindung von Mann und Frau, die dann zu übersetzen ist, wie wurden die beiden zu Vater und Mutter."
Um die eigene Identität zu ergründen, greifen wir zu Bildern und Analogien, die nicht logisch, aber sinnstiftend sind.
"Indem man diesen unbewussten, jedenfalls für die eigene Erfahrung nicht zugänglichen Gegensatz von Mann und Frau, Vater und Mutter, in Beziehung setzt zu anderen Gegensätzen - nämlich in einem Fall, dass er ein Flüchtling war und sie eine eingesessene Bauerstochter - kann man in einem Analogieschluss sagen, dass das Verhältnis von Vater und Mutter, das von einem Flüchtling zu einer Sesshaften war. Da operieren wir in der alltagssprachlichen Darstellung ganz ähnlich wie in den Mythen, wir setzen die verschiedenen Erfahrungsdimensionen auf systematische Weise in Beziehung - und das kann man wenn man sich die strukturale Analyse zunutze macht, herausarbeiten."
So erfährt die strukturale Methode von Levi-Strauss heute ihre überraschende Wiederaufnahme nicht in der Ethnologie, sondern in der Sozialwissenschaft.
Seine These von der Ebenbürtigkeit der Kulturen bleibt allgemein wegweisend, auch deshalb gilt es die Lebensräume der Stammeskulturen zu erhalten. Bereits 1976 forderte Levi-Strauss, neben den Menschenrechten auch die Rechte der Natur und den Artenschutz in die französische Verfassung aufzunehmen.
Immer wieder wendet sich sein Blick von der fremden Kultur zurück auf die eigene und moniert ihre Einseitigkeit und Egozentrik.
"Wenn wir von Levi-Strauss ausgehen, dann sagt er, eigentlich kommt es darauf an, wie viel militärtechnische Macht eine Gesellschaft hat, diese wird dann um so zentrierter, weil sie die Möglichkeit hat, die anderen nicht zu beachten. Das beschreibt er immer wieder: wie im Grunde gleichwertige Kulturen vertrieben werden, einfach weil sie nicht die gleiche Macht haben, er schreibt aber nicht nur über indigene Kulturen in Südamerika, er schreibt auch über den Buddhismus. Die "Traurigen Tropen" enden in der Beschreibung eines Besuchs in einem buddhistischen Kloster und er sieht eigentlich im Buddhismus die höchste Stufe der menschlichen Kultur. Er sagt es am deutlichsten in den "Traurigen Tropen", dass eigentlich nur eine Art Rückzug des Menschen auf die eigene Psyche, wie sie im Buddhismus gepflegt wird, den Westen retten kann, und er sagt auch etwas gegen die zwanghafte Neigung des Westens, sich ständig zu bewegen und weiterzuentwickeln."