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Der Blick eines Kindes auf eine zerbrechende Welt

Der serbische Erzähler Bora Cosic ist bekannt für seinen ungeschönten, aber auch humorvollen Blick auf die Geschichte Jugoslawiens. In seinem neuen Buch verbindet er den autobiografischen Blick auf die Jahre seiner Kindheit mit einem Porträt von Agram - wie Zagreb früher hieß.

Von Anja Kampmann | 14.03.2012
    Bora Cosic geht in seiner autobiografisch angelegten Erzählung "Eine kurze Kindheit in Agram" zurück an einen Ort, den er "gesehen, geliebt und sich gemerkt hat": Agram, heute Zagreb, in den Jahren 1932 bis 1937. Es ist die Sicht eines Jungen, der zunächst seine Straße und die elterliche Wohnung für sich entdeckt.

    Mit zwei, drei Jahren bedeutete mir jedes Ding nicht mehr als eben jenes Ding, frei von Vergangenheit oder Anspielungen.

    Es ist, so scheint es, zunächst die naive Sicht eines Kindes, das mit den Gegenständen spricht, mit seinem Schrank, mit den Kissen im Bett, als seien es "lebendige Geschöpfe". Aber schon das Vorwort von Boris Pasternak verweist den Leser auf die Doppelbödigkeit des Erzählten.

    Alles war bequem und richtig, nur schrecklich traurig.
    Mit mehr als 75 Jahren Abstand geht Bora Cosic zurück in seine frühe Kindheit - nach Agram. Es ist die Sicht eines Kindes, dem niemand erklärt, was die Dinge bedeuten, das entdeckt, registriert, sucht. Zugleich schafft der Erzähler Distanz, unterläuft den naiven Duktus seiner Beschreibungen.

    Es gibt genug Brutales in meiner Umgebung, von dem ich noch nichts weiß.

    So spiegelt sich im Blick des Kindes die Zerbrechlichkeit und politische Anspannung Jugoslawiens in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und vor allem - in den Vorwehen des Zweiten Weltkriegs. Es ist der Versuch des Erzählers, ein Stück dieser Welt durch die Zeit hindurch zu retten.

    Früher war es so. In dem Quadrat des Parks am Zrinjevac und den paar Seitenstraßen, die im milchigen Weiß kindlicher Unwissenheit endeten, war die Welt im Detail geordnet. Ergänzt wurden sie von ein paar Erhebungen Richtung Oberstadt, wie in einem gut erdachten Kellerregal. Alles andere gründete auf Vertrauen, man konnte glauben oder auch nicht, dass es außerhalb dieser kleinen Geografie noch etwas gab.

    Aber schon das Schmelzen des Schnees gemahnt den Jungen daran, dass der Raum, den er gewohnt ist, "nicht von Dauer" ist. Erst langsam nimmt das Kind die Enge wahr, die die Wohnung trotz all der lebendigen Dinge bedeutet. Denn die Welt ist, sobald ich mein Zimmer verlasse, plötzlich unwiederbringlich verdorben, abstoßend, würdelos und verarmt.

    Auch hier wird deutlich, dass Cosic keine naive Erzählersprache bemüht, sondern den Leser im Gegenteil dazu auffordert, die Bezüge von Erzähltem und historischem Hintergrund selbst herzustellen.

    Mich umgab, das werde ich später einmal begreifen, eine künstliche Landschaft, ein Theater aus Pappkarton. Um mich bei Laune zu halten, basteln sie auf dem Tisch eine kleine Papierstadt, und sehen nicht, dass wir selbst in einer wohnen. In einem traurigen Saturngürtel, in der Eisriesenrepublik.

    Das Prinzip, das Große im Kleinen zu spiegeln, hält Bora Cosic konsequent durch. Die Entdeckung von Dreck und Abfall im Keller verbindet der junge Erzähler mit der Vermutung, dass es sich um eine Welt handeln muss, "die keine Gerechtigkeit für jeden und alles kennt." Auch nicht für die Gans, die zum Tode verurteilt im Keller ausharrt.

    Trotzdem ist er auch ein Kind, "das durch die Scheiben guckt und Grimassen schneidet". Die Ironie kommt bei Cosic nicht zu kurz. Aber gerade diese Leichtigkeit bricht sich an den politischen Ereignissen der Zeit.

    Auch die 20 Fotos im Buch werden zur märchenhaften Rahmung des Erzählten. Aber spätestens mit dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941, der Zerschlagung der jugoslawischen Armee und der Einteilung des Landes unter die Besatzungsmächte, ist diese Zeit unwiederbringlich zerstört. Was folgt, ist ein blutiger Bürger- und Religionskrieg.

    Doch der kindliche Erzähler ist noch ganz in seiner Zeit, ihm wird das Sehen und Beschreiben zu einer Möglichkeit, der Enge seiner häuslichen Umgebung zu entfliehen.

    Denn jeder Mensch kann ein Gefährt sein, er muss nur die Scheinwerfer seiner Lokomotive auf seine Wünsche richten.

    Die Möglichkeit, die geordnete Welt zu verlassen, erkennt das Kind in vielen Details.

    Es sind Käfer, denen er zum "Abflugplatz auf der Tasse" hilft, es ist der Hut seines Vaters, den er aus dem Fenster wirft, um seinen "Vogelflug durch die warme Frühlingsluft und durch den Gedanken vom endlosen Fliegen" zu beobachten. Was dem Erzähler nicht ausgeht, sind die Wünsche. So hält er, zum ersten Mal in seinem Leben auf einem Bahnhof stehend, fest:

    Das Sein des Menschen ist Offenheit ohne Unterlass, die in alle Richtungen ausgreift, dort sind Himmel, Bäume, Vögel. Unzähliges von alldem.

    Auch die historischen Eckdaten spiegeln sich im Erzählten. Zahlen, die das Kind auf dem Kassenzettel des Kolonialwarengeschäfts findet, nehmen wie ein stummes, gehorsames Heer auf dem Schlachtfeld Aufstellung, bevor es zum entscheidenden Treffen kommt.

    Das "stille Heer aus Zahlen" spielt auf die Reichswehr an, die nach dem Röhm-Putsch 1934 auf Hitler vereidigt wird. Auch ein Topf Milch, der überkocht, wird zum Verweis auf ein tatsächliches, politisches Geschehen:

    Plötzlich brodelt weißer Schaum aus der Tiefe hoch, alles explodiert schlagartig mit einem Zischen, die Umstände haben sich geändert, die gesellschaftliche Lage der Materie wechselt auf der Ofenplatte die Form; bis einer angerannt kommt und das Zischen abstellt, ist der Positionstausch zwischen den Tatsachen bereits vollzogen, der Putsch in unserem Küchenalltag geglückt.

    Auch hier ist der Bezug deutlich: Im Oktober 1934 wird der jugoslawischen König Alexander I. in Marseille im Auftrag der kroatisch-faschistischen Bewegung Ustascha unter Ante Pavelic ermordet. Zahlreiche weitere Hinweise ermöglichen die Verortung des Erzählten im historischen Kontext.

    Derweil entdeckt das Kind immer mehr Widersprüchliches: Die Mutter weint, der Vater lacht, auf den Ausflügen zu Zahnradbahn, Dampfmühle, Sparkasse, oder Pfandleihhaus. Es gibt das Kino mit Pat und Patachon - und das Gefühl einer zunehmenden Bedrohung durch die Welt - die sich drastisch beim Besuch des Fotogeschäfts "Tonka" widerspiegelt. Verwundert betrachtet der Junge die Fotografien von ihm und seiner Familie:

    Aber wir sehen so elend aus, klein und grau, als hätten wir uns nicht gewaschen. Vielleicht sind wir, denke ich, alle bereits tot, schon gar für andere, wir wissen es bloß noch nicht.

    Das "sehend gewordene Kind" lernt schließlich zu lesen, und reiht, was es finden kann, aneinander.

    Mrazoviceva7, dritter Stock, Zagreb. Der beste Schutz, Präservativ, Palma. Stefo Marta ist tot. Sechs Grad. Siebte Reihe, dritter Platz links. U Boot Manöver in Susak. S. Koconda, alles für die Jagd. Reine Schurwolle.

    Auch hier spiegelt sich der Drang des Jungen, möglichst viel zu sammeln, der Versuch zu verstehen, auch wenn die Zusammenhänge noch keinen Sinn ergeben. Als Bora fünf Jahre alt wird, beschließen die Eltern, fortzugehen. Den Jungen befällt eine ganz andere Angst: Mit dem Ort wird er zugleich seine Straßen und Erinnerungen verlieren.

    Ich musste mich an jede Einzelheit erinnern, wollte keine unterwegs wie einen armen Welpen auf offener Straße aussetzen.

    Bora Cosic ist der weite Weg über die Zeiten hinweg gelungen. In einem Erzählton, der zwischen großer Nähe und Distanz changiert, zeigt Cosic auch das doppelte Gesicht seiner frühen Kinderzeit in Agram: Die Stadt in ihrem Zauber und in dem tragischen Schicksal, das ihr bereits 1937 unausweichlich bevorsteht.

    Bora Cosic: "Eine kurze Kindheit in Agram". Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert, 160 Seiten, 20 Schwarz-Weiß-Fotografien, Schöffling & Co., Herbst 2011, 18,95 Euro