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Der Blick hier die Explosionen

Explodierende Sprengsätze, Schießereien, Entführungen, ethnisch und/oder religiös motivierte Vertreibungen - und politisches Chaos ... - davon berichten die deutschen Medien heute im allgemeinen aus dem Irak. Das Leben der Menschen - das normale Leben im Unnormalen - kommt häufig zu kurz.

Von Björn Blaschke |
    Die Sicherheitssituation in Bagdad, Mossul oder Kirkuk ist nach wie vor so schlecht, dass Korrespondenten ihr Leben riskieren, wenn sie ihrem Publikum mehr bieten wollen. Daher berichten sie überwiegend das, was lokale Mitarbeiter für sie recherchieren - verbarrikadiert in Hotels oder Privathäusern, geschützt von kleinen Privatarmeen oder dem Apparat, der auch die so genannte Internationale Zone sichern soll, jenes Hochsicherheitsareal, das die US-Invasoren sich und ihren Verbündeten im Zentrum Bagdads geschaffen haben. Nur wenige wagen sich allein vor die Tür - und versuchen mit Irakern ins Gespräch zu kommen. Insofern ist es gut und richtig, wenn Paul Flieder mit seinem "Barbier von Bagdad" - wie er im Vorwort schreibt - mehr bieten will:

    "Es sind viele traurige, dramatische und skurrile Geschichten, die ich auf meinen Irak-Reisen zwischen 2002 und 2009 entweder erlebt oder gehört habe. Lauter Geschichten, die CNN nicht sendet, die fast niemand bringt."

    Und tatsächlich blickt Flieder hinter das, was bei uns als Statistiken ankommt: Er stellt Schicksale vor, die sich hinter Zahlen von Nachrichtenagenturen verbergen ... ; hinter Sätzen wie…

    "In einem belebten Wohnort Bagdads explodierte heute eine Autobombe. Mindestens 30 Menschen starben; eine Vielzahl mehr wurde verletzt."

    So stellt Flieder in seinem Buch Lebensläufe vor, die durch die Gewalt im Irak gebrochen wurden. Da ist beispielsweise die dreizehnjährige Saly: Als US-Soldaten 2007 einen Scharfschützen verfolgten, schossen sie mit einer Rakete, trafen aber nicht den Gejagten, sondern eine Gruppe Kinder:

    "Salys ( ... ) Bruder Akron wurde von der Rakete direkt getroffen. Die größten Teile, die von ihm beerdigt werden konnten, waren immer noch kleiner als ein Fußball. Ihr Cousin war ebenfalls sofort tot. Ihre Schwester verlor ein Bein. Saly war sofort bewusstlos. ( ... ) In den nächsten Monaten wurde Saly siebenmal operiert. Sie verlor ihre Beine stückweise, von den Knöcheln bis zu den Oberschenkeln. Saly musste fünf Monate im Spital bleiben. 'Sie hat ein Vierteljahr lang vor allem in der Nacht sieben, acht, neun Stunden vor Schmerzen geschrien' ( ... )."

    Neben den Besuchen von Familien schildert er sehr persönlich Begegnungen im Nationaltheater, in einer Galerie oder in einem Kaffeehaus. In Porträts und Gesprächsprotokollen erfüllt Flieder seinen eigenen Anspruch, die menschliche Seite der Schreckensnachrichten aus dem Irak zu zeigen.

    Aber von den 204 Seiten seines Buches ist höchstens die Hälfte derlei Treffen gewidmet. Die andere Hälfte ist ein Sammelsurium von Allgemeinplätzen. Mal zitiert er seitenlang aus den Warnungen und Sicherheitshinweisen des deutschen und des österreichischen Außenministeriums, angereichert mit dürftigen eigenen Analysen. Mal gibt er selber fragwürdige Tipps - in der Manier von Reiseführern. Dazu zählt, dass Flieder detailliert die Schwierigkeiten darlegt, mit denen er im Irak konfrontiert wurde. Und wie er es geschafft hat, diese Schwierigkeiten zu bewältigen. Dabei neigt er dazu - zwischen den Zeilen -, sich zu stilisieren: Zu einem geradezu heldenhaften, einzelgängerischen Beobachter eines Landes, in dem andere ausländische Chronisten nichts mitbekommen. Er sei Entführungsversuchen und Anschlägen glücklich entgangen - und habe sich trotzdem - "Zu 99 Prozent" - gegen Personenschutz entschieden:

    "Bodyguards sind in der Regel entlassene Sträflinge mit kanalrohrdicken Oberarmen und Stiernacken, auf denen ein kahl rasierter hohler Schädel sitzt. Tätowierungen kosten extra. Im Ernstfall helfen die Typen wenig, weil sie oft nicht Englisch sprechen und sich in die Hose machen und davonlaufen."

    Die angeblich mangelhaften Englisch-Kenntnisse seiner Gesprächspartner sind mehrfach Thema bei Flieder - so wie er häufiger gegen die Iraker polemisiert; ja herablassend über sie redet. Was umso schwerer wiegt, als durch seine Anmerkungen oft Oberflächlichkeit und Unkenntnis scheinen. An dieser Stelle nur ein Beispiel:

    "( ... ) in Kirkuk kommt es aufgrund ethnischer Spannungen zwischen Kurden und Turkmenen immer wieder zu Kämpfen. Im Jahr 2007 sollte es ein Referendum geben, ob die Stadt Kurdistan angeschlossen wird. Das Referendum wurde immer wieder verschoben. Die Region ist reich an Erdöl, das erklärt alles."

    Dazu sei lediglich eines angemerkt: Im Irak ist nichts allein auf den Erdölreichtum zu reduzieren oder auf Spannungen zwischen zwei Bevölkerungsgruppen ... Alles andere würde hier, in einer Rezension zu weit führen. In einem Buch über den Irak jedoch nicht.

    Flieder versucht, sein Gemisch aus einerseits guten Gesprächsprotokollen und Porträts sowie andererseits - auf Dauer ermüdenden - Selbsterfahrungsberichten in eine vage Struktur zu pressen: In Form von willkürlich eingestreuten Besuchen bei einem Friseur. "Sein" Barbier von Bagdad dient ihm als Vehikel zu Analogien zwischen dem heutigen Irak und den alten Geschichten aus "Tausend und einer Nacht". Herausgekommen ist ein krudes Buch, dessen Inhalte teilweise mit Distanz zu lesen sind.

    Ja, es gibt wenige seriöse deutsche Bücher zum heutigen Irak; ein echtes Manko! Und Paul Flieder kann es - trotz seiner hohen Ansprüche - nicht wettmachen. Der Residenz-Verlag hätte vielleicht besser eines der vielen englischsprachigen Werke übersetzen lassen sollen ... .

    Paul Flieder: Der Barbier von Bagdad. Leben und Sterben im Irak. Residenz Verlag, 208 Seiten, 19,90 Euro (ISBN: 978-3-701-73148-0).