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Der Bocksgesang

Straußenfedern, Pailletten, String-Tangas und üppige Dekolletés: Wir befinden uns im Moulin Rouge - einst das pulsierende Zentrum des Pariser Viertels Montmartre, wo Toulouse Lautrec und Picasso das Tanzbein schwangen. Aber Vorsicht, keine falschen Hoffnungen: Im "Bockgesang", dem neuen Krimi von Chantal Pelletier, geht es nicht so sehr um Schönheiten mit Federkopfschmuck. Zwei Leichen wurden in einer Garderobe entdeckt. Zwei Morde, die zu Immobiliengeschäften in Montmartre hinführen. Dem Stadtteil, in dem Chantal Pelletier fünfzehn Jahre lang gelebt hat. Das18. Arrondissement im Norden von Paris, ist zu einer ihrer Hauptfiguren geworden.

Cathérine Debrabandère | 27.08.2002
    Das ist ein mythisches Viertel mit einer unglaublichen Geschichte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert konzentrierte sich alles auf Montmartre: Malerei, Chanson, Music-Hall, Literatur. Heute haben leider schicke Boutiquen und Frisiersalons die Geflügel- und Innereienhandlungen von früher verdrängt. Montmartre war lange Zeit ein einziger Markt. Eine bunte Mischung ist Gott sei dank noch zu spüren: mit den Prostituierten, die Richtung Pigalle schlendern; mit den Ureinwohnern, die ihren Hügel - ihre "Butte Montmartre" - auf keinen Fall verlassen möchten. Verwahrloste Leute treffen hier heute auf reiche Erfolgsmenschen, die die früheren Künstlerateliers bewohnen: Eine bunte Mischung, die allerdings Gewalt und Kriminalität heraufbeschwören kann.

    Dramen wird es in der Tat genug geben in Chantal Pelletiers Krimi. Nicht zufällig trägt ihr Buch den Titel "Der Bockgesang", was im Altgriechischen "Tragödie" heisst. Weniger von Ochsenmaulsalat und Schweinsfüßen - ehemaligen Spezialitäten von Montmartre - ist hier die Rede, sondern von Crackdealern und durchgebissenen Kehlen. Die Recherchen führen zunächst zu Untergrundorganisationen nach Korsika und später nach Algerien. Chantal Pelletier zur Entstehung des Romans:

    Wenn ich anfange zu schreiben, brauche ich erst mal die Kulisse. Da ich in Montmartre lange Zeit gelebt habe, hat sich dieses Arrondissement sehr schnell als Hintergrund der Geschichte für den "Bockgesang" durchgesetzt. Wenn die Kulisse erstmal steht, fange ich mit den Recherchen an. Ich lese viele Zeitungen, besonders die Rubrik "Vermischtes". Denn in der Krimibranche kann man sich der großen aktuellen Skandale und Dramen nicht annehmen. Sie sind zu präsent im Kopf des Lesers. Also benutzt man die kleinen Randnachrichten. Interessanterweise merkt man oft einige Zeit später, dass diese Nachrichten die Spitze eines Eisbergs waren. Meldungen aus der Rubrik "Vermischtes" rücken oft später als Politskandal auf die Titelseiten der großen Zeitungen vor.

    Über die Dramen von Montmartre hinaus ist Kommissar Maurice Laice die eigentliche Hauptfigur des "Bockgesang". Wie so oft bei Krimiautorinnen ist er nicht gerade ein Herzensbrecher. Krampfadern hat er, die immer wieder anschwellen, wenn er nicht in Ruhe gelassen wird. Und farbenblind ist er auch noch - was auch seinen Vorteil hat: Am Tatort ist er weniger erschrocken, weil er Blutlachen mit abgefallenen Blättern verwechselt.

    Im Krimi kommen immer Leute vor, die gerade am Rande des Zusammenbruchs stehen. Wenn diese Figuren sich wohl fühlen würden, würden sie nicht dazu neigen, sich als Kriminalisten mit den zerbrochenen Leben anderer auseinanderzusetzen. Maurice Laice ist einfach menschlich. Er neigt zu Depressionen und hat Probleme mit seinem Alter, obwohl er gerade mal 40 geworden ist. Er ist sehr einsam. Und das ist überhaupt mein Thema: Wie geht man mit Einsamkeit um? Maurice Laice umgeht das Selbstmitleid, indem er sein Umfeld intensiv beobachtet. Deswegen mag ich ihn und wollte ihn nach meinem ersten Krimi "Eros und Thalasso" wieder als Hauptfigur in den Mittelpunkt eines Romans stellen.

    Klassisch für das Genre vermischt Chantal Pelletier zwei Erzählebenen. - auf der einen Seite die Ermittlungen des Maurice Laice. Auf der anderen Seite das Privatleben des Kommissars - mit seinem Freund Rémy, der bald ins Zentrum der Geschichte rückt.

    Pelletiers eigentliches Interesse am Krimi gilt jedoch der Sprache. Als ehemalige Kabarettistin ist sie bekannt für spritzige Dialoge und für ihren Sinn für Formulierungen. Die Tragik des Alltags mit einer guten Portion Ironie zu vermischen, das ist auch das Merkmal des "Néo-Polar", des französischen sozialkritischen Krimis. Der Néo-Polar, der mittlerweile gar nicht mehr so "néo" - so neu - ist, da die ersten Bücher schon vor dreißig Jahren herausgebracht wurden...

    Die Sprache ist beim Krimischreiben die größte Herausforderung. Der Plot wirft uns in einen ständigen Notfall, also muss ein schnelles Tempo, eine moderne, kantige Sprache her. Das Spannende am Krimi - gerade am französischen Krimi -, das ist die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte, mit den kriminellen Fakten, die einen Einblick in das heutige Frankreich vermitteln. Im klassischen Krimi, von Amerika inspiriert, gibt es einen Mord. Es wird ermittelt. Der Mörder wird gefunden. Und hinterher fühlt man sich besser. Der französische Krimi wirkt anders. Am Ende des Buches stellt man die Politik, sein soziales Umfeld in Frage. Probleme unserer Zeit wie zum Beispiel die Einsamkeit, von der wir gerade sprachen, werden in den Mittelpunkt gerückt. Man hinterfragt seine eigene und die kollektive Geschichte.

    Ein wichtiges Thema des Néo-Polar: der Algerienkrieg, der in Frankreich vierzig Jahre lang verdrängt wurde. Erst seit ein paar Jahren werden Folter und Massaker - verübt von der französischen Armee und Polizei - in der Öffentlichkeit diskutiert. Zu einem Massaker in Algerien führen auch die Ermittlungen von Maurice Laice im "Bockgesang".

    Doch ganz schwarz bleibt dieser "Roman noir" nicht. Der liebesbedürftige Kommissar trifft nämlich die Frau seines Lebens. Chantal Pelletiers erklärter Traum bestand darin, dass am Ende des Buchs der Leser Lust haben soll, sich neu zu verlieben. Es ist ihr problemlos gelungen.