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Der Brechtsche Blick auf die Welt

Der Dichter selber war fast noch ein Halbstarker, als er die Bühnenfigur Baal schuf: einen halbstarken und widerlichen Wüstling. Alle Regisseure lieben dieses Stück. Auch Hans Neuenfels, das altgediente Enfant Terrible des deutschen Schauspielbetriebs, liebt Baal. Am hat er das Stück jetzt inszeniert, aber bloß mit der kalten Hand des ausgebufften Profis.

Von Cornelie Ueding |
    Man möchte das Lied vom "armen B.B." anstimmen - denn Brecht ist unter die Gralshüter seines Werkes gefallen. Das sind freilich im Falle dieser Neuinszenierung nicht nur Brechts Erben, die, wie bekannt, auf werkgetreue Aufführungen achten und so für ein, in dieser Art wohl einmaliges, theatralisches Museum sorgen und Brechts Werken Lebendigkeit und Wirkungsmacht nehmen.

    Immerhin konnte Hans Neuenfels auch bei seiner nunmehr dritten Baal-Regie aus den vorliegenden vier Fassungen von Brechts Erstling eine eigene Spielfassung basteln. Nein, für die hemmungslose wortgetreue Werktreue zu den Endlostiraden und dem wolkigem Wortbombast des 21-jährigen Brecht -ist Neuenfels schon selbst zuständig, der diese kraftvoll wabernde Sprache "grandios" findet. Dass er als nunmehr alter Mann Baals verschwenderisches Leben aus der Distanz von 40 Jahren inszeniere, bekennt er, ermögliche so etwas wie eine Übersicht: auf das Stück und in gewissem Sinne auch auf die intensitätsteigernden Räusche des eigenen Leben.

    Mit anderen Worten: Er spiegelt immer noch identifikatorisch sich selbst in der gewagten, risikoreichen Existenz der Figur Baal. Für ein gewisses Maß an Distanz sorgt nur die Besetzung der Hauptrolle mit dem blutjungen Ludwig Blochberger. Der ist launisch, muffig, ruppig, ein dauerpubertierender Wüterich, der im Schnelldurchlauf Frauen vernascht und Freunde verarscht und sich als Lyriker feiern lässt für Langgedichte, an denen nicht nur ganz offensichtlich Brecht scheiterte, sondern auch Neuenfels Sprachregie.

    Weder die Figuren geraten nachvollziehbar in den Sog Baals. Noch das Publikum. Die krude Geschichte um den störrisch-brutalen, emphatisch-genialen Lyrik-Rambo, eine Mischung aus Peer Gynt und poète maudit irgendwo zwischen Rimbaud, Verlaine und Grabbe, lässt einen vollkommen kalt.

    Dass es bei all seinen Eskapaden, ob mit Hut im Salon oder nackt im Schlammbad, um Empfindungen geht, bleibt eine reine Programmheftbehauptung. So wenig es Neuenfels gelingt, eine Szene auf den Punkt zu bringen, so wenig kurz fallen selbst die Kürzest-Szenen aus. Da werden zerdehnte Konstellationen in allen möglichen Verrenkungen körperlich ausgespielt, es wird geschrieen, gebrüllt, gerast oder geschlichen - ohne dass die Situationen je verortet oder in ihrer emotionalen Ambivalenz erfasst würden. Die Regie begnügt sich ausschließlich mit Affekt-Masken - aber auch die werden nicht in Verfremdungs-Absicht vorgeführt.

    Und so landet, strandet die szenische Darbietung eines Lebenslaufs als Lebenskunst im Off pathetischer Beliebigkeit. Passend zur Bühne, die Gerhard Fresacher als ein neutrales Nirgendwo aus mobilen schwarzen Wandteilen und angeknacksten Gips-Natursteinfragmenten gestaltet hat, mit einem Ohrensessel für Baal, einem Bett für die sterbende Mutter, einem Dreckpool für Baals Schlammschlacht mit Freund und einer Luke für die Badebütt, in die samt Kutte und erhobenem Zeigefinger mahnend auch der Heilige Franziskus steigt, bevor ein Blumenmensch aus Panik um die zerstörten Bäume in der Astgabel eines verdorrten Baumes endet und der von seinem Mordopfer verwundete Baal auch selbst krepiert: am Stamm einer abgestorbenen Tanne.

    Dass Baal zwar erbärmlich verreckt, aber selbst darin noch Genus liege, wollte Neuenfels auch zeigen. Doch das steht wieder nur im Programmheft. Eine einzige Szene hat einen doppelten Boden: schon bei Brecht. Baals Auftritt im Kabarett. Das Publikum, wir, sitzen backstage, haben den lustlosen und betrunkenen Entertainer vor Augen, der dem als "Neger" maskierten Impressario den Bettel hinschmeißt; indes hinter einem grünen Vorhang auf der Bühnenmitte das von ihm befeuerte imaginäre Theaterpublikum grölt.

    Eigentlich schade, dieses Fehlengagement eines vermeintlichen Skandalregisseurs. Das engagierte Team um Christian Stückl bemüht sich um einen neuen/alten Typus des Volkstheaters: jenseits uriger Volkstümelei aber auch jenseits gespreizt akademischer Folkolore. Aus lauter Selbstbezogenheit übersieht und verschenkt Neuenfels das wirkliche Volkstheater-Potenzial dieses kurios-genialischen Stückes: seine Moritaten-Bänkelsänger-Kneipen-Aura, seine villonartig balladeske Künstlichkeit, seinen auch selbst-ironischen, verquer parodistischen Doppelboden, mit dem der ganz frühe schon auf den späten Brecht verweist.