Stimmen während einer Demonstration:
" Wir suchen neue Wege für dieses Land. Dass ich in meinem Alter, mit 71 Jahren, hier sitze, im Matsch stehe und schreie, das habe ich mit früher nicht vorstellen können."
"Es ist für mich ein Zeichen dafür, dass gegenwärtig die politische Klasse und ein Teil der Bevölkerung nicht unbedingt konvergieren, sondern unterschiedliche Positionen haben."
Eckart Jesse, Professor für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz:
"Es kann immer eine Kluft sein zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung, nur sie darf nie so groß sein."
Stimmen während einer Demonstration:
"Ich bin maßlos enttäuscht, weil wir ständig neue Tatsachen erfahren und immer wieder belogen und betrogen werden. Das empört mich einfach. Dieses Verlogene der Politiker, das ist einfach etwas, was mich immer wieder hierher bringen wird. Ja, unsere Stadt ist in Aufruhr, und der Zorn der Bevölkerung ist groß."
"Die Politik reagiert da auch teilweise hilflos. Das haben wir natürlich bei Stuttgart 21 miterleben dürfen."
Thomas König, Professor für Politikwissenschaft, Universität Mannheim:
"Aber das ist ja auch an anderer Stelle zu beobachten."
Stimmen während einer Demonstration:
"Lügenpack, Lügenpack."
"Sie sehen, ich komme absolute aus dem bürgerlichen Spektrum. Die Perlenkette ist nicht umsonst um meinen Hals. Aber so geht es nicht weiter. Wir werden ja so, Entschuldigung, verarscht, ich gebrauche dieses Wort sonst nicht. Aber das kann ich nicht anders nennen. So nicht, und ich werde noch zwanzig Jahre weiter demonstrieren, auch wenn der Bahnhof gebaut wird."
Lehrer, Ärzte, Architekten, Juristen - Offensichtlich ist es das Bürgertum, das da seinen Unmut kundtut. Auch wenn sich nach dem Schlichtungsspruch zu Stuttgart 21 die Gemüter erst mal beruhigt zu haben scheinen - die Demonstrationen werfen ein neues Licht auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit.
Ob der Augenschein trügt, der Protest wirklich neue Bevölkerungsschichten mobilisiert oder wer da wirklich auf die Straße geht - das erkundeten Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung:
"Eigentlich ist die Zusammensetzung der Demonstrierenden so gut wie nie in Entsprechung zu der der Gesamtbevölkerung. Es gibt immer Abweichungen mehr oder weniger deutlicher Art."
Sagt Prof.Dieter Rucht, Soziologe und Studienleiter am Wissenschaftszentrum.
"Wenn ich jetzt mal als Ausgangspunkt nehme: Demonstranten gegen Stuttgart 21, dann kann man erst mal sehen, dass die Frauen immer noch gegenüber den Männern etwas unterrepräsentiert sind. Andererseits sind diese Demonstrierenden sehr hoch gebildet, also etwa die Hälfte hat einen Hochschulabschluss, und das ist dann doppelt so viel wie in der Gesamtbevölkerung. Auch das Altersspektrum weicht von der Gesamtbevölkerung ab. Wir haben in Stuttgart weniger junge Leute unter 25 Jahren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Die Gruppe der 45- bis 65-Jährigen ist überrepräsentiert."
Das ergab eine Befragung in Stuttgart. Die Wissenschaftler verteilten 1500 Fragebögen an die Demonstranten. 54 Prozent gaben den ausgefüllten Fragebogen an die Forscher zurück - für manche wohl ein Herzensanliegen. Sie nutzten jede freie Fläche auf dem Blatt für ihre Unmutsbekundungen. Die Motive der Befragten:
"Der Hauptgrund, wenn man die Zahl der Nennungen heranzieht ist, dass die Beteiligten Demokratiedefizite sowohl in Hinblick auf die Planung als auch den Umgang mit den Betroffenen, mit den Beteiligten, mit den Protestierenden und mahnen an, dass sie stärker einbezogen werden, dass sie auch mit ihren Argumenten ernst genommen werden, das wäre also der wichtigste Grund insgesamt."
An zweiter Stelle nannten die Befragten nicht zu kalkulierende Kosten für das Projekt; drittens die Gefahr, dass der freiwerdende innerstädtische Raum von Spekulanten genutzt wird. Was die Wissenschaftler speziell interessierte: Ob die Befragten so politikverdrossen sind, dass sie Wahlen ablehnten:
"Insgesamt ist es eine unterstützende Einstellung zum demokratischen System aber gekoppelt mit einem relativ hohen Misstrauen, mit einer Skepsis gegenüber der etablierten Parteienpolitik, dem professionellen Politiker. Und das wird in der Öffentlichkeit auch oft verwechselt, man sagt, das sind Leute, die sind politikverdrossen. Nein, im Gegenteil, sie beteiligen sich ja an der Politik, sie engagieren sich, sie mischen sich ein. Sie sind also nicht politikverdrossen. Sie sind allenfalls parteienverdrossen."
Nur die eigenen Interessen im Kopf, an der Lebenswirklichkeit vorbei regierend - so erleben viele die Parteien.
Stimmen während einer Demonstration:
"Mappus ist ein Rambo."
"Ich werde nicht mehr die FDP wählen. Ich bin ausgetreten nach 45 Jahren Mitgliedschaft."
Das Misstrauen in die etablierten Parteien sitzt tief. Dabei legt das Grundgesetz eindeutig fest, dass den Parteien eine herausragende Bedeutung in der Bundesrepublik zukommt. Sie sollen an der "politischen Willensbildung des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens" mitwirken. Sie stellen die Wahlbewerber, die dann vom Souverän, also vom Bürger, in die Volksvertretungen gewählt werden.
Dieses Konstrukt der indirekten Willensbildung hat seinen Grund in der Entstehung der Bundesrepublik. Eckard Jesse:
"Die vielen Väter des Grundgesetzes und die wenigen Mütter waren traumatisiert durch den Untergang der Weimarer Republik. Die Bevölkerung in Weimar hatte ja direkt den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gewählt 1925 und 1932. Und Hindenburg war nicht unbedingt ein engagierter Demokrat. Und diese Elemente haben die Väter dazu veranlasst, keine direkten Elemente vorzusehen."
Weder der Bundespräsident noch der Bundestagspräsident oder der Kanzler können in der Bundesrepublik direkt gewählt werden. Über kein Bundesgesetz - mit einer Ausnahme - dürfen Bürger direkt abstimmen.
"Das Grundgesetz ist eine rein repräsentative Verfassung, die Grundgesetzgeber waren misstrauisch dem Volkswillen gegenüber. Es gibt eine einzige Ausnahme: Bei Länderneugliederungen muss die Bevölkerung gefragt werden. Wir haben ja 1952 den Südweststaat gegründet, der entstanden ist aus Württemberg-Baden, Baden und Württemberg - Hohenzollern und 1995 scheiterte der Versuch Brandenburg und Berlin zu einem Bundesland zusammen zu schließen. Außerdem gäbe es die Möglichkeit, bei einer neuen Verfassung, dass die Bevölkerung dann gefragt würde."
Anders sieht es auf Landes- beziehungsweise Kommunalebene aus:
"Elemente direkter Demokratie haben wir in den Landesverfassungen, zumal in den Landesverfassungen der neuen Länder und auch im Bereich der Kommunalpolitik ist das sehr weit verbreitet."
Eckart Jesse, der sich in einer jetzt erschienenen Veröffentlichung mit verschiedenen politischen Systemen beschäftigt, kommt zu dem Schluss, dass plebiszitäre Elemente nur in Ausnahmefällen Sinn machen.
Stimmen während einer Demonstration:
"Ich finde es unglaublich, wie viele Menschen aus allen Generationen sich hier versammelt haben. Das hätte ich nie geglaubt. Und ich denke, man müsste halt schon ein bisschen mehr auf das Volk hören und vielleicht seine Meinung revidieren."
"Wir sind hier genau richtig, da wo wir hingehören, am Landtag, und wir drehen den Rücken zum Landtag."
Was wäre, wenn wichtige Entscheidungen vom Volk getroffen würden? Irrten die Väter und Mütter des Grundgesetzes womöglich, traumatisiert von dem Ende der Weimarer Republik und der Nazidiktatur? Es ist schwierig, Studien so anzulegen, dass sie diese Fragen beantworten helfen. Carsten Vogt ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Bochum. Sein Interesse gilt dem Klimaschutz:
"Wir waren interessiert an der Fragestellung, was ist denn jetzt wirklich die reale Zahlungsbereitschaft von Menschen, was sind die wirklich bereit zu opfern, finanziell zu opfern, um wirklich etwas für den Klimaschutz zu tun.2"
Ausgangspunkt für die Studie war der seit 2005 börsenmäßige Handel mit Emissionsrechten für Kohlendioxid in der EU: Will beispielsweise ein Kraftwerksbetreiber mehr CO2 ausstoßen, so muss er dafür ein entsprechendes "Zertifikat" vorlegen.
Die rund 200 Probanden erhielten für die Teilnahme an der Untersuchung jeweils 40 Euro Aufwandsentschädigung. Die Wissenschaftler klärten die Versuchspersonen zunächst über die Folgen des Klimawandels auf. Dann präsentierten sie ihnen fünf zufällig ausgewählte Preise und die Forscher fragten, wie viele CO2-Zertifikate die Versuchsteilnehmer zu dem ausgewählten Preis kaufen möchten. Die Teilnehmer wussten, dass sie durch ihr Handeln die insgesamt in Europa emittierte Menge an CO2 reduzieren konnten:
""Das Ergebnis war einigermaßen überraschend und auch einigermaßen ernüchternd: Wir haben eine relativ geringe durchschnittliche Zahlungsbereitschaft, das heißt, bei uns lag die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft für eine Tonne CO2 bei zwölf Euro. Dazu muss man wissen, in der Literatur wurden bisher deutlich höhere Werte ausgewiesen, das reicht von 25 Euro bis zu 479 Euro für eine Tonne CO2, das heißt, in unserem Experiment haben wir tatsächlich den niedrigsten bislang gemessenen Wert für die Zahlungsbereitschaft für die Vermeidung von Kohlendioxid ermittelt. Was aus unserer Sicht aber noch interessanter und wenn man so will beunruhigen-der ist, ist die Tatsache, dass 60 Prozent der Teilnehmer in unserem Experiment überhaupt keine CO2-Rechte gekauft haben, das heißt andersherum formuliert, deren Zahlungsbereitschaft lag tatsächlich bei Null Euro."
Was bedeutet das für den Klimaschutz?
"Für den Klimaschutz bedeutet das, die Politik steckt gewissermaßen in einem Dilemma: Wir haben auf der einen Seite eine relativ besorgte und relativ gut informierte Öffentlichkeit in Deutschland. Der Klimawandel genießt einen relativ hohen Stellenwert, in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit spielt das Problem eine relativ große Rolle im Vergleich zu anderen Umweltproblemen. Auf der anderen Seite sehen wir jetzt aber, dass die effektive Zahlungsbereitschaft der Befragten oder der Teilnehmer in unserem Experiment doch relativ schwach ausgeprägt ist."
Die Studie war nur ein kleines Experiment mit 200 Versuchspersonen. Ihr Ergebnis deckt sich aber mit Beobachtungen, die immer wieder in der Umweltpolitik gemacht werden.
"Es gibt in der Literatur diesen schönen Begriff - in der englischsprachigen Literatur - von Nimby: 'Not in my Backyard'. Ds heißt, die Leute sind natürlich sehr wohl bereit, für Umweltschutz oder für Klimaschutz zu plädieren, wenn es aber mit Beeinträchtigung der eigenen Lebensqualität einhergeht, dann sagen sehr viele Menschen nein, lieber doch nicht."
Ob Gorleben, Stuttgart 21 oder der Volksentscheid der Bürger in Hamburg gegen Schulreformen - Die gut gebildete Mittelschicht begehrt auf. Sie will mitbestimmen und es ist nicht davon auszugehen, dass sich die Proteste quasi von selbst erledigen. Schon einige Tage nach der Schlichtung demonstrierten Stuttgarter Bürger wieder vor dem Bahnhof.
Politiker müssen Wege finden, die Bürger an ihren Entscheidungen teilhaben zu lassen, denn die Zukunft erfordert weitreichende Entscheidungen, so Professor Thomas König. Der Politologe leitet den Sonderforschungsbereich 884, der sich mit der politischen Ökonomie von Reformen beschäftigt:
"Es gibt sicherlich die grundlegenden Herausforderungen, beispielsweise Klimawandel, alternde Gesellschaften, also demografischer Wandel, die uns vor große Probleme stellen langfristig. Das wissen wir auch schon längere Zeit. Aber es gibt natürlich auch die spontan oder fast spontan auftretenden Probleme, wie beispielsweise auch die Finanzkrise, wie aber auch Großprojekte, siehe Stuttgart 21, die letztlich ähnliche Grundzüge in der Konfliktbewältigung wie Reformen aufweisen."
Was fehlt - so der Politologe - ist die offene Kommunikation zu Beginn von Reformen und Projekten.
"Im Allgemeinen unterstützt die Bevölkerung Reformen. Je konkreter jedoch dann diese Reformvorhaben vorgebracht werden, desto eher lassen sich dann eben die Gewinner und Verlierer identifizieren, und es ist nicht überraschend, dass die unmittelbar Betroffenen, sprich die vermeintlichen Verlierer, womöglich auch nicht den Glauben aufbringen an die langfristigen Erfolge von Reformen zu glauben und entsprechend diese zu unterstützen."
Womit die entscheidende Frage zu klären wäre: Wie lassen sich Bürger davon überzeugen, für CO2 Zertifikate zu bezahlen, wenn ihnen das nicht direkt zugute kommt? Wie können Bürger von einem unterirdischen Bahnhof überzeugt werden, wenn die Kosten unkalkulierbar scheinen und die neu gewonnene Stadtfläche Spekulanten und Großinvestoren zugute kommt?
Thomas König war als Gutachter an dem Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21 beteiligt. Allein der Intervention der Bürger sei es zu verdanken, sagt er, dass bei einer Tieferlegung des Bahnhofs die freiwerdenden Grundstücke nicht an Spekulanten weitergereicht werden. Das macht - theoretisch - aus Verlierern vielleicht Gewinner.
"Bei den Bürgern gibt es doch sehr viel Hoffnung, weil man mitbekommen hat, dass Bürger sich engagieren, lobenswerter Weise auch Fakten schaffen, also nicht nur demonstrieren und dagegen sind wie vielfach behauptet, sondern eigentlich es hier mit einem Partner aufgenommen haben, der Deutschen Bahn, der ja in jeder Hinsicht überlegen war, also zum Beispiel einen großen Informationsvorsprung besessen hat, was die Daten und die Sachlage anbelangt hat."
Ein bisschen mehr Transparenz, die Bevölkerung früher einbeziehen, Verluste womöglich ausgleichen - ist das die Lösung? Was weitreichende plebiszitäre Elemente anbelangt, könnte ein Blick ins Ausland Erkenntnisse bringen: Kalifornien bewegt sich am Rande des Staatsbankrotts, weil die Bevölkerung gegen Maßnahmen zur Sanierung des Haushalts gestimmt hat. Voten für ein Minarettverbot und neue Ausländergesetze der Schweizer lassen auch hierzulande die Skepsis wachsen. Der Politologe Eckart Jesse kommt zu dem Schluss:
"Und die Erfahrungen, die die Schweiz macht, sind in aller Regel eher negativ. Ich kürze es mal ab: Eher Linke propagieren Volksabstimmungen, aber die Ergebnisse kommen eher Konservativen zugute. Ich bin ein Anhänger von direkter Demokratie bezogen auf Personenfragen. Ich bin eher skeptisch gegenüber Entscheidungen in Sachfragen, denn dann könnte man ja diejenigen, die abgestimmt haben, nicht zur Verantwortung ziehen. Ich glaube, die Anhänger einer direkten Demokratie überschätzen die positiven Symptome einer Volksabstimmung und die Gegner der Volksabstimmung überschätzen wiederum die Defizite. Die Frage wird von beiden Seiten überbewertet."
" Wir suchen neue Wege für dieses Land. Dass ich in meinem Alter, mit 71 Jahren, hier sitze, im Matsch stehe und schreie, das habe ich mit früher nicht vorstellen können."
"Es ist für mich ein Zeichen dafür, dass gegenwärtig die politische Klasse und ein Teil der Bevölkerung nicht unbedingt konvergieren, sondern unterschiedliche Positionen haben."
Eckart Jesse, Professor für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz:
"Es kann immer eine Kluft sein zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung, nur sie darf nie so groß sein."
Stimmen während einer Demonstration:
"Ich bin maßlos enttäuscht, weil wir ständig neue Tatsachen erfahren und immer wieder belogen und betrogen werden. Das empört mich einfach. Dieses Verlogene der Politiker, das ist einfach etwas, was mich immer wieder hierher bringen wird. Ja, unsere Stadt ist in Aufruhr, und der Zorn der Bevölkerung ist groß."
"Die Politik reagiert da auch teilweise hilflos. Das haben wir natürlich bei Stuttgart 21 miterleben dürfen."
Thomas König, Professor für Politikwissenschaft, Universität Mannheim:
"Aber das ist ja auch an anderer Stelle zu beobachten."
Stimmen während einer Demonstration:
"Lügenpack, Lügenpack."
"Sie sehen, ich komme absolute aus dem bürgerlichen Spektrum. Die Perlenkette ist nicht umsonst um meinen Hals. Aber so geht es nicht weiter. Wir werden ja so, Entschuldigung, verarscht, ich gebrauche dieses Wort sonst nicht. Aber das kann ich nicht anders nennen. So nicht, und ich werde noch zwanzig Jahre weiter demonstrieren, auch wenn der Bahnhof gebaut wird."
Lehrer, Ärzte, Architekten, Juristen - Offensichtlich ist es das Bürgertum, das da seinen Unmut kundtut. Auch wenn sich nach dem Schlichtungsspruch zu Stuttgart 21 die Gemüter erst mal beruhigt zu haben scheinen - die Demonstrationen werfen ein neues Licht auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit.
Ob der Augenschein trügt, der Protest wirklich neue Bevölkerungsschichten mobilisiert oder wer da wirklich auf die Straße geht - das erkundeten Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung:
"Eigentlich ist die Zusammensetzung der Demonstrierenden so gut wie nie in Entsprechung zu der der Gesamtbevölkerung. Es gibt immer Abweichungen mehr oder weniger deutlicher Art."
Sagt Prof.Dieter Rucht, Soziologe und Studienleiter am Wissenschaftszentrum.
"Wenn ich jetzt mal als Ausgangspunkt nehme: Demonstranten gegen Stuttgart 21, dann kann man erst mal sehen, dass die Frauen immer noch gegenüber den Männern etwas unterrepräsentiert sind. Andererseits sind diese Demonstrierenden sehr hoch gebildet, also etwa die Hälfte hat einen Hochschulabschluss, und das ist dann doppelt so viel wie in der Gesamtbevölkerung. Auch das Altersspektrum weicht von der Gesamtbevölkerung ab. Wir haben in Stuttgart weniger junge Leute unter 25 Jahren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Die Gruppe der 45- bis 65-Jährigen ist überrepräsentiert."
Das ergab eine Befragung in Stuttgart. Die Wissenschaftler verteilten 1500 Fragebögen an die Demonstranten. 54 Prozent gaben den ausgefüllten Fragebogen an die Forscher zurück - für manche wohl ein Herzensanliegen. Sie nutzten jede freie Fläche auf dem Blatt für ihre Unmutsbekundungen. Die Motive der Befragten:
"Der Hauptgrund, wenn man die Zahl der Nennungen heranzieht ist, dass die Beteiligten Demokratiedefizite sowohl in Hinblick auf die Planung als auch den Umgang mit den Betroffenen, mit den Beteiligten, mit den Protestierenden und mahnen an, dass sie stärker einbezogen werden, dass sie auch mit ihren Argumenten ernst genommen werden, das wäre also der wichtigste Grund insgesamt."
An zweiter Stelle nannten die Befragten nicht zu kalkulierende Kosten für das Projekt; drittens die Gefahr, dass der freiwerdende innerstädtische Raum von Spekulanten genutzt wird. Was die Wissenschaftler speziell interessierte: Ob die Befragten so politikverdrossen sind, dass sie Wahlen ablehnten:
"Insgesamt ist es eine unterstützende Einstellung zum demokratischen System aber gekoppelt mit einem relativ hohen Misstrauen, mit einer Skepsis gegenüber der etablierten Parteienpolitik, dem professionellen Politiker. Und das wird in der Öffentlichkeit auch oft verwechselt, man sagt, das sind Leute, die sind politikverdrossen. Nein, im Gegenteil, sie beteiligen sich ja an der Politik, sie engagieren sich, sie mischen sich ein. Sie sind also nicht politikverdrossen. Sie sind allenfalls parteienverdrossen."
Nur die eigenen Interessen im Kopf, an der Lebenswirklichkeit vorbei regierend - so erleben viele die Parteien.
Stimmen während einer Demonstration:
"Mappus ist ein Rambo."
"Ich werde nicht mehr die FDP wählen. Ich bin ausgetreten nach 45 Jahren Mitgliedschaft."
Das Misstrauen in die etablierten Parteien sitzt tief. Dabei legt das Grundgesetz eindeutig fest, dass den Parteien eine herausragende Bedeutung in der Bundesrepublik zukommt. Sie sollen an der "politischen Willensbildung des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens" mitwirken. Sie stellen die Wahlbewerber, die dann vom Souverän, also vom Bürger, in die Volksvertretungen gewählt werden.
Dieses Konstrukt der indirekten Willensbildung hat seinen Grund in der Entstehung der Bundesrepublik. Eckard Jesse:
"Die vielen Väter des Grundgesetzes und die wenigen Mütter waren traumatisiert durch den Untergang der Weimarer Republik. Die Bevölkerung in Weimar hatte ja direkt den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gewählt 1925 und 1932. Und Hindenburg war nicht unbedingt ein engagierter Demokrat. Und diese Elemente haben die Väter dazu veranlasst, keine direkten Elemente vorzusehen."
Weder der Bundespräsident noch der Bundestagspräsident oder der Kanzler können in der Bundesrepublik direkt gewählt werden. Über kein Bundesgesetz - mit einer Ausnahme - dürfen Bürger direkt abstimmen.
"Das Grundgesetz ist eine rein repräsentative Verfassung, die Grundgesetzgeber waren misstrauisch dem Volkswillen gegenüber. Es gibt eine einzige Ausnahme: Bei Länderneugliederungen muss die Bevölkerung gefragt werden. Wir haben ja 1952 den Südweststaat gegründet, der entstanden ist aus Württemberg-Baden, Baden und Württemberg - Hohenzollern und 1995 scheiterte der Versuch Brandenburg und Berlin zu einem Bundesland zusammen zu schließen. Außerdem gäbe es die Möglichkeit, bei einer neuen Verfassung, dass die Bevölkerung dann gefragt würde."
Anders sieht es auf Landes- beziehungsweise Kommunalebene aus:
"Elemente direkter Demokratie haben wir in den Landesverfassungen, zumal in den Landesverfassungen der neuen Länder und auch im Bereich der Kommunalpolitik ist das sehr weit verbreitet."
Eckart Jesse, der sich in einer jetzt erschienenen Veröffentlichung mit verschiedenen politischen Systemen beschäftigt, kommt zu dem Schluss, dass plebiszitäre Elemente nur in Ausnahmefällen Sinn machen.
Stimmen während einer Demonstration:
"Ich finde es unglaublich, wie viele Menschen aus allen Generationen sich hier versammelt haben. Das hätte ich nie geglaubt. Und ich denke, man müsste halt schon ein bisschen mehr auf das Volk hören und vielleicht seine Meinung revidieren."
"Wir sind hier genau richtig, da wo wir hingehören, am Landtag, und wir drehen den Rücken zum Landtag."
Was wäre, wenn wichtige Entscheidungen vom Volk getroffen würden? Irrten die Väter und Mütter des Grundgesetzes womöglich, traumatisiert von dem Ende der Weimarer Republik und der Nazidiktatur? Es ist schwierig, Studien so anzulegen, dass sie diese Fragen beantworten helfen. Carsten Vogt ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Bochum. Sein Interesse gilt dem Klimaschutz:
"Wir waren interessiert an der Fragestellung, was ist denn jetzt wirklich die reale Zahlungsbereitschaft von Menschen, was sind die wirklich bereit zu opfern, finanziell zu opfern, um wirklich etwas für den Klimaschutz zu tun.2"
Ausgangspunkt für die Studie war der seit 2005 börsenmäßige Handel mit Emissionsrechten für Kohlendioxid in der EU: Will beispielsweise ein Kraftwerksbetreiber mehr CO2 ausstoßen, so muss er dafür ein entsprechendes "Zertifikat" vorlegen.
Die rund 200 Probanden erhielten für die Teilnahme an der Untersuchung jeweils 40 Euro Aufwandsentschädigung. Die Wissenschaftler klärten die Versuchspersonen zunächst über die Folgen des Klimawandels auf. Dann präsentierten sie ihnen fünf zufällig ausgewählte Preise und die Forscher fragten, wie viele CO2-Zertifikate die Versuchsteilnehmer zu dem ausgewählten Preis kaufen möchten. Die Teilnehmer wussten, dass sie durch ihr Handeln die insgesamt in Europa emittierte Menge an CO2 reduzieren konnten:
""Das Ergebnis war einigermaßen überraschend und auch einigermaßen ernüchternd: Wir haben eine relativ geringe durchschnittliche Zahlungsbereitschaft, das heißt, bei uns lag die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft für eine Tonne CO2 bei zwölf Euro. Dazu muss man wissen, in der Literatur wurden bisher deutlich höhere Werte ausgewiesen, das reicht von 25 Euro bis zu 479 Euro für eine Tonne CO2, das heißt, in unserem Experiment haben wir tatsächlich den niedrigsten bislang gemessenen Wert für die Zahlungsbereitschaft für die Vermeidung von Kohlendioxid ermittelt. Was aus unserer Sicht aber noch interessanter und wenn man so will beunruhigen-der ist, ist die Tatsache, dass 60 Prozent der Teilnehmer in unserem Experiment überhaupt keine CO2-Rechte gekauft haben, das heißt andersherum formuliert, deren Zahlungsbereitschaft lag tatsächlich bei Null Euro."
Was bedeutet das für den Klimaschutz?
"Für den Klimaschutz bedeutet das, die Politik steckt gewissermaßen in einem Dilemma: Wir haben auf der einen Seite eine relativ besorgte und relativ gut informierte Öffentlichkeit in Deutschland. Der Klimawandel genießt einen relativ hohen Stellenwert, in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit spielt das Problem eine relativ große Rolle im Vergleich zu anderen Umweltproblemen. Auf der anderen Seite sehen wir jetzt aber, dass die effektive Zahlungsbereitschaft der Befragten oder der Teilnehmer in unserem Experiment doch relativ schwach ausgeprägt ist."
Die Studie war nur ein kleines Experiment mit 200 Versuchspersonen. Ihr Ergebnis deckt sich aber mit Beobachtungen, die immer wieder in der Umweltpolitik gemacht werden.
"Es gibt in der Literatur diesen schönen Begriff - in der englischsprachigen Literatur - von Nimby: 'Not in my Backyard'. Ds heißt, die Leute sind natürlich sehr wohl bereit, für Umweltschutz oder für Klimaschutz zu plädieren, wenn es aber mit Beeinträchtigung der eigenen Lebensqualität einhergeht, dann sagen sehr viele Menschen nein, lieber doch nicht."
Ob Gorleben, Stuttgart 21 oder der Volksentscheid der Bürger in Hamburg gegen Schulreformen - Die gut gebildete Mittelschicht begehrt auf. Sie will mitbestimmen und es ist nicht davon auszugehen, dass sich die Proteste quasi von selbst erledigen. Schon einige Tage nach der Schlichtung demonstrierten Stuttgarter Bürger wieder vor dem Bahnhof.
Politiker müssen Wege finden, die Bürger an ihren Entscheidungen teilhaben zu lassen, denn die Zukunft erfordert weitreichende Entscheidungen, so Professor Thomas König. Der Politologe leitet den Sonderforschungsbereich 884, der sich mit der politischen Ökonomie von Reformen beschäftigt:
"Es gibt sicherlich die grundlegenden Herausforderungen, beispielsweise Klimawandel, alternde Gesellschaften, also demografischer Wandel, die uns vor große Probleme stellen langfristig. Das wissen wir auch schon längere Zeit. Aber es gibt natürlich auch die spontan oder fast spontan auftretenden Probleme, wie beispielsweise auch die Finanzkrise, wie aber auch Großprojekte, siehe Stuttgart 21, die letztlich ähnliche Grundzüge in der Konfliktbewältigung wie Reformen aufweisen."
Was fehlt - so der Politologe - ist die offene Kommunikation zu Beginn von Reformen und Projekten.
"Im Allgemeinen unterstützt die Bevölkerung Reformen. Je konkreter jedoch dann diese Reformvorhaben vorgebracht werden, desto eher lassen sich dann eben die Gewinner und Verlierer identifizieren, und es ist nicht überraschend, dass die unmittelbar Betroffenen, sprich die vermeintlichen Verlierer, womöglich auch nicht den Glauben aufbringen an die langfristigen Erfolge von Reformen zu glauben und entsprechend diese zu unterstützen."
Womit die entscheidende Frage zu klären wäre: Wie lassen sich Bürger davon überzeugen, für CO2 Zertifikate zu bezahlen, wenn ihnen das nicht direkt zugute kommt? Wie können Bürger von einem unterirdischen Bahnhof überzeugt werden, wenn die Kosten unkalkulierbar scheinen und die neu gewonnene Stadtfläche Spekulanten und Großinvestoren zugute kommt?
Thomas König war als Gutachter an dem Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21 beteiligt. Allein der Intervention der Bürger sei es zu verdanken, sagt er, dass bei einer Tieferlegung des Bahnhofs die freiwerdenden Grundstücke nicht an Spekulanten weitergereicht werden. Das macht - theoretisch - aus Verlierern vielleicht Gewinner.
"Bei den Bürgern gibt es doch sehr viel Hoffnung, weil man mitbekommen hat, dass Bürger sich engagieren, lobenswerter Weise auch Fakten schaffen, also nicht nur demonstrieren und dagegen sind wie vielfach behauptet, sondern eigentlich es hier mit einem Partner aufgenommen haben, der Deutschen Bahn, der ja in jeder Hinsicht überlegen war, also zum Beispiel einen großen Informationsvorsprung besessen hat, was die Daten und die Sachlage anbelangt hat."
Ein bisschen mehr Transparenz, die Bevölkerung früher einbeziehen, Verluste womöglich ausgleichen - ist das die Lösung? Was weitreichende plebiszitäre Elemente anbelangt, könnte ein Blick ins Ausland Erkenntnisse bringen: Kalifornien bewegt sich am Rande des Staatsbankrotts, weil die Bevölkerung gegen Maßnahmen zur Sanierung des Haushalts gestimmt hat. Voten für ein Minarettverbot und neue Ausländergesetze der Schweizer lassen auch hierzulande die Skepsis wachsen. Der Politologe Eckart Jesse kommt zu dem Schluss:
"Und die Erfahrungen, die die Schweiz macht, sind in aller Regel eher negativ. Ich kürze es mal ab: Eher Linke propagieren Volksabstimmungen, aber die Ergebnisse kommen eher Konservativen zugute. Ich bin ein Anhänger von direkter Demokratie bezogen auf Personenfragen. Ich bin eher skeptisch gegenüber Entscheidungen in Sachfragen, denn dann könnte man ja diejenigen, die abgestimmt haben, nicht zur Verantwortung ziehen. Ich glaube, die Anhänger einer direkten Demokratie überschätzen die positiven Symptome einer Volksabstimmung und die Gegner der Volksabstimmung überschätzen wiederum die Defizite. Die Frage wird von beiden Seiten überbewertet."
Literatur zum Weiterlesen
Jesse, Eckhard: "Systemwechsel in Deutschland, 1918/19 - 1933 - 1945/49 - 1989/90." Böhlau Verlag, Köln, 2010
Löschel, Andreas; Sturm, Bodo; Vogt, Carsten: "Die reale Zahlungsbereitschaft für Klimaschutz", in Wirtschaftsdienst, 90.Jg. (2010), H.11, S.749 - 753
Sonderforschungsbereich "Politische Ökonomie von Reformen” der Universität Mannheim
"Starke Nachfrage: Bürger wollen mehr EU-Referenden – die meisten Politiker zögern" -Publikation des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Löschel, Andreas; Sturm, Bodo; Vogt, Carsten: "Die reale Zahlungsbereitschaft für Klimaschutz", in Wirtschaftsdienst, 90.Jg. (2010), H.11, S.749 - 753
Sonderforschungsbereich "Politische Ökonomie von Reformen” der Universität Mannheim
"Starke Nachfrage: Bürger wollen mehr EU-Referenden – die meisten Politiker zögern" -Publikation des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung