Der Reiz dieses schon in Taiwan unter dem gleichen Dirigenten uraufgeführten, jetzt einmalig in Europa, in Marseille mit den Künstlern der Uraufführung in den Hauptrollen und vielen französischen Mitwirkenden neu in Szene gesetzten Werkes liegt nun aber nicht in der internationalen Besetzung. Die besondere Spannung entsteht, weil in dieser neuen Form eines Gesamtkunstwerks die Art der Darstellung der Sänger, Tänzer, Komödianten und Akrobaten mit einem symphonischen Orchester "eigentlich" gar nicht zu vereinbaren ist. Diese erkennbare, ja sichtbare Unvereinbarkeit zwingt alle Beteiligten auf der Bühne und im Orchester zu erhöhter Wahrnehmung ihrer selbst und der anderen Mit-Spieler. Gao erweist sich als Neuerer und Bewahrer von Traditionen, er knüpft an uralte, streng ritualisierte Spiel- und Darstellungsformen an - und er spielt mit den Ritualen, zeigt sie vor, gewinnt ihnen neue Aussagekraft ab. Alle Bewegungsabläufe vor den Projektionen ins Riesenhafte vergrößerter filigraner Tuschezeichnungen Gaos sind von hoher Künstlichkeit. Gespreizte Gänge, wiegender Schritt, verlangsamte, dann wieder rabiat beschleunigte, zeichenhafte, nie individuelle Gesten - sie sind für den europäischen Zuschauer dann plötzlich leicht zu dechiffrieren, wenn sie eine Konfrontation, ein Macht-Spiel auf ungewohnte Weise - nein, nicht nur anzeigen, sondern verschärfen. So wenn der Kaiser auftritt und als Teil der Begrüßungszeremonie auch den Fuß hebt und, diese Geste geringfügig dehnend, seine Schuhe vorzeigt: bis in die Schuhsohlen vergoldet. Dieser Machtdemonstration zu widerstehen wagt nur die Hauptfigur: Huineng, der große Zen-Meister des 7. Jahrhunderts, ein charismatischer Einzelgänger, ein Philosoph ohne missionarisches Sendungsbewusstsein aber von großer persönlicher Ausstrahlung, ein Mensch, der allein durch seine Haltung für seine Überzeugung wirbt, aber keine Schule bildet, keine Nachfolger erzieht.
Der Weg dieses Zen-Meisters ohne eigenes Zutun, eines Außenseiters, der zum Zentrum wird, einer leeren Mitte, ist so sehr von der persönlichen Erfahrungswelt Gaos geprägt, dass man den Autor hinter und in jeder Geste des einsamen Massenphänomens Huineng förmlich zu spüren glaubt. Und wenn am Ende, nach Huinengs Tod, die Akrobaten nur mehr hilflos eifrig vor sich hin zappeln, wenn alles zerfällt und in einem gewaltigen Feuer verbrennt, allein der phalanxartige Buddhisten-Chor nicht wankt und weicht, weiß man nicht und soll wohl auch nicht wissen, ob das Vernichtung oder Läuterung und Neubeginn bedeutet. Eine europäische Lektüre Ostasiens mit dem Aroma der Fremdheit: in Marseille wurde für ein paar Stunden fühlbar, was dies bedeuten kann.