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Der Chronist des Krieges

Nicht nur Gesichter und Bilder verblassen, auch lieb gewonnene Namen und wichtige Jahreszahlen." So beschreibt István Örkény die Gleichgültigkeit. Der ungarische Autor verarbeitet in "Das Lagervolk" seine Erfahrungen während der vierjährigen russischen Kriegsgefangenschaft.

Von Lerke von Saalfeld | 28.05.2010
    "Dieses Buch ist in der Kriegsgefangenschaft entstanden unter den widrigen Bedingungen der Haft. Das heißt auch, dass ich die Fragen niemals von außen prüfen konnte, Sondern immer nur innerhalb des Stacheldrahts. Meine Urteile mögen daher mitunter nicht besonders objektiv sein; vielleicht sind sie aber gerade deshalb authentischer, signifikanter."

    Im Mai 1942 wurde István Örkény als jüdischer Arbeitsdienstler zum Militär eingezogen, er wurde an der Seite der deutschen Wehrmacht in einem ungarischen Regiment an die russische Front geschickt. Nach nur einem halben Jahr als Soldat geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft - für vier lange Jahre, in denen er seinen Roman "Das Lagervolk" niederschrieb und den er erstmals 1947 unverändert in einer ungarischen Zeitschrift in Fortsetzungen veröffentlichte.

    "Ob es gelungen ist, zwischen Wirklichkeit und Wahrheit die Balance zu finden - ich weiß es nicht. Gelegentlich, scheint mir, überwiegt Düsternis, an bestimmten Stellen finde ich die Heiterkeit fehl am Platz. Das rechte Maß, fürchte ich, bin ich schuldig geblieben, doch auch das Leben ist nirgends und niemals maßvoll. Wo sich die dunklen Farben der Düsternis verdichten, schrieb die Todesnähe mit. Und wo alles freudig zugeht, waren wir wohl vom unbedingten Lebenswillen erfüllt, ich und Hunderttausende meiner Kameraden."

    In den dreißiger Jahren hatte sich István Örkény, der auf Geheiß seines Vaters ein Pharmaziestudium aufnehmen musste, um später die väterliche Apotheke zu übernehmen, erstmals als Schriftsteller mit einem Band Erzählungen zu Wort gemeldet. Als ihn das Schicksal in ein sowjetisches Kriegsgefangenenlager versetzte, war das Schreiben über das, was er sah und erlebte, ein elementares Mittel zum Überleben. Die Absurdität dieses Kriegs hat ihn gezeichnet. Örkény hatte in der ungarischen Armee gedient, die am Don vernichtet wurde, sechzigtausend Menschen waren im Granatenhagel und im eisigen russischen Winter umgekommen:

    "Dass ich am Leben bin, ist nur einem winzigen Bruchteil der Wahrscheinlichkeit geschuldet, die meisten sind im Sitzen erfroren, und wie sie da sitzen, mit ihren zu Marmor erstarrten Gesichtern - ihren Blick spüre ich heute noch in meinem Rücken."

    Nicht zufällig hat Imre Kertész ein Nachwort zu dieser ersten Übersetzung von Örkénys Lagerbuch ins Deutsche geschrieben, denn beide sind darin verwandt, die Ungeheuerlichkeiten nicht sprachlich oder moralisch zu überhöhen, sondern sie in eher kaltem Ton als gewöhnliche Ereignisse zu schildern, die den Lageralltag bestimmten.

    "Ein authentischer Ton",

    so Imre Kertész,

    "kommt immer aus der Schwere des Schicksals, von einem vom Schicksal Heimgesuchten und nicht von einem, der zwischen den Schicksalen wählt."

    Wie Kertész haben auch Örkény die Jahre der Unfreiheit und der Erniedrigung sein Leben lang nie losgelassen. In den 60er-, 70er-Jahren wurde er in seinen Romanen und Theaterstücken zu einem Meister der Groteske, besonders seine pointierte Kurzprosa in den "Minutennovellen", in denen die Wirklichkeit wie ein absurder Reflex nur noch kurz aufscheint, hat sein schriftstellerisches Ansehen als moderner Autor gefestigt. In seinem ersten Roman musste er den Grundton finden, auf dem alles Spätere aufbaute:

    "In diese Welt der Kriegsgefangenschaft kam ich hereingeschneit, ein junger Schriftsteller, nichts als ein schmales Bändchen im Rücken...Und wie die meisten Schriftsteller ein Grunderlebnis haben, das ihre gesamte Laufbahn begleitet, wurde mir der Krieg zum elementaren Erlebnis. Nicht Kampfeslärm und Kanonendonner, sondern die vom Krieg geschaffene Gemeinschaft von Menschen, die innere Verwandtschaft unseres Lebens und unseres Schicksals wurde zum erschütternden Erlebnis."

    Örkény verhält sich in seinem Roman wie ein Chronist, es sind keine Tagebuchaufzeichnungen, sondern er fasst in Kapiteln zusammen, was um ihn herum passiert, sich selbst nimmt der Autor stark zurück. So leuchtet auch ein, dass der deutschen Übersetzung des "Lagervolks" ein zweiter Teil hinzugefügt ist mit dem Titel "Woher wir kamen", in dem der Gefangene acht damals aufgezeichnete Gespräche mit namenlosen Leidensgenossen zu Wort kommen lässt, die ihr Vorleben schildern, sich zu erinnern versuchen. Örkény, der im Lager immer wieder kleine Umfragen startete, um das Denken seiner Mitgefangenen zu erforschen, möchte so getreu wie möglich die Stimmung einfangen. Sein erster großer Schock im Lager ist, wie gnadenlos die Menschen miteinander umgehen. Da herrscht keine Solidarität unter den Gepeinigten, jeder ist nackt und schamlos, es gibt keine Geheimnisse voreinander - alle bürgerlichen Umgangsformen sind verschwunden, es gibt weder Höflichkeit noch Selbstbeherrschung.

    "Ich weiß nicht, wo und wann Menschen auf einer solchen Stufe der Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit gelebt hätten. Keiner zeigt Mitgefühl mit seinem Nächsten, und auch er selbst erfuhr keine...Die Erinnerung setzte aus oder hörte ganz auf. Nicht nur Gesichter und Bilder verblassten, auch lieb gewonnene Namen und wichtige Jahreszahlen. Viele glaubten, es läge am Typhus. Doch es lag an der Gleichgültigkeit, der Abgestumpftheit."

    Ein zweites großes Thema ist der Hunger. Örkény wundert sich, dass in der Literatur so selten über Hunger geschrieben wurde, ob aus Scham oder kluger Vorsicht, das lässt er dahingestellt. Aber fast jeder Mensch seiner Generation - und das ist nicht nur seine Lagererfahrung - habe irgendwann Hungergefühle erlitten. Unter den Bedingungen der Gefangenschaft wird der Hunger zu einer täglichen Qual, die den Verstand vernebelt und das Verhalten der Menschen vertiert. Einem Nachbarn ein Stück Brot zu stehlen, löst keine schlechten Gefühle aus, Reue gibt es nicht mehr. Das Essen, ein kümmerlicher Fraß, wird gierig heruntergeschlungen, um wenigstens für eine kurze Zeit den schmerzenden Magen zu beruhigen. Nicht weniger erbärmlich sind die Tricks und hintertückischen Versuche, sich vor der Arbeit zu drücken und andere stattdessen die Arbeit allein machen zu lassen.

    Was hat Ruth Klüger einmal voller Zorn gesagt, als von Verrohungen im Lageralltag die Rede war: "Ein KZ ist keine pädagogische Lehranstalt" - das gilt auch für ein Kriegsgefangenenlager.

    Als der Lagerroman unmittelbar nach dem Krieg in einer ungarischen Zeitschrift in Folgen erschien, da gab es auch Proteste. Treue Kommunisten waren empört, dass der Autor das Lager so negativ darstellte und nicht die Fürsorge der sowjetischen Lagerführung hervorhob. In der ersten Druckfassung des Romans von 1947 wurden dann folgerichtig vor allem die Passagen zensiert, die vom Hunger und Elend erzählten. In der deutschen Übersetzung sind die damals gestrichenen Passagen im Kursivdruck wieder aufgenommen, die bereits im ungarischen Nachdruck von 1981 - zwei Jahre nach Örkénys Tod - zum ersten Mal erscheinen durften.

    Im Kapitel "Kleinkönige und Großkaufleute" beschreibt der Autor die Lagerhierarchie, beschreibt er, wie die verschiedenen Nationalitäten sich aufführen. Die Deutschen zum Beispiel glaubten immer noch, Herrenmenschen zu sein. Das Verhalten der Juden im Lager betrachtet Örkény mit großer Missbilligung:

    "Es gibt Juden, die die Gefangenschaft als Gelegenheit ansahen, Karriere zu machen, und die im Interesse ihres Wohlergehns nicht nur ihr Handwerk wechselten, sondern auch ihre Nationalitäten, je nachdem woher der Wind wehte ... Bald merkten die Juden jedoch, dass sie von den Russen nicht bevorzugt wurden. Auch sie mussten erkennen, dass die Gefangenschaft kein Zuckerschlecken war und dass man für seine Existenz kämpfen musste - und sie kannten nur eine Art des Kampfes, die Verschlagenheit des kleinbürgerlichen Kaufmanns vom Land."

    Solch ungeschminkte Zeilen haben den Übersetzer Laszlo Kornitzer tief verstört, Er fragt sich in einem fiktiven Gespräch mit dem Autor im Anhang fassungslos, jeder habe doch ab 1943 von den Vernichtungslagern für Juden gewusst, wie konnte also Örkény solche Sätze schreiben; und der Übersetzer überlegte kurz, diese judenfeindlichen Sätze zu streichen. Er hat es nicht getan. Der Roman hat schon seine Zensurgeschichte hinter sich. Örkény wollte nicht politisch korrekt sein; er schreibt ohne Tabus, er will keine Beschönigungen, er hat den Mut, auch solche Beobachtungen niederzuschreiben. Das ist verstörend für den heutigen Leser, aber gerade darauf beruht die Unerbittlichkeit und die Qualität dieses Romans, Zeugnis abzulegen, nicht im Nachhinein Korrekturen anzubringen.

    István Örkény: "Das Lagervolk", Suhrkamp, Berlin 2010, 384 Seiten, 34 Euro