Das ist die CIRKUS -- Stimmung, wie sie der Spanier Ramón Gómez de la Serna mit großer Imagination und Sprachlust herbeizaubert.Das Erlebnis des Cirkus gehört ja zu den unauslöschlichen Erinnerungen der Kindheit und wiederholt sich auf andere schöne Weise für die Erwachsenen, wenn die Eltern mit ihren Kindern noch einmal in den Cirkus gehen. Der leuchtende Blick, das fragende Staunen der Kinderaugen. "Es ist eben Cirkus" - das erklärt, daß der Cirkus seine eigenen Spielregeln, seine eigene Welt hat. Doch es ist eine Welt in der Welt. Und so haben Schriftsteller von Goethe bis Kafka oder Gómez de la Serna den Cirkus auch gedeutet. Goethes "Novelle" geht trotz des bedrohlichen Zirkusbrandes am Ende doch noch gut aus. Nur für einen winzigen Moment schien die Welt aus den Fugen. Der olympische Dichter fürchtete den Abgrund, den Kafkas Cirkusartisten uns eröffnen: die artistische Cirkusreiterin, der Trapezkünstler oder der Hungerkünstler. Ist die Differenz beider Autoren in ihrer Deutung des Cirkus groß, so doch nicht darin, daß der Cirkus sich als ein Ort unerhörter Begebenheiten erweist. Jedenfalls sieht ihn zunächst auch der spanische Schriftsteller Ramón Gömez de la Serna so, in seinem 1917 veröffentlichtem Buch "Der Cirkus". Er ist ein wahrer Cirkusnarr, ein aficionado, wie man in Spanien sagt, der hunderte und aber hunderte von Cirkus-Vorstellungen besucht hat, und schließlich vom Trapez des Mailänder Cirkus verkündete:
"Ich bin derjenige, der sich in den Kopf gesetzt hat, die Literatur mit der Nacht des Cirkus zu vermählen, da sie mir ihre Seele so offen und aufrichtig dargeboten hat. Ob ich großen Gefahren ausgesetzt bin? Ich glaube nicht. Das Cirkuspublikum ist anders und seine Empfänglichkeit weitherziger. Im Cirkus kehren alle ins ursprüngliche Paradies zurück, darin wir gerechter, unbefangener und toleranter sein müssen."
Ramón Gómez de la Serna, einer der großen spanischen Schriftsteller der ersten Jahrhunderthälfte, wird bei uns erst langsam, man kann sagen: häppchenweise, bekannt gemacht. Was vielleicht auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt, daß sein Werkverzeichnis über hundert Titel aufweist. In Wagenbachs Salto-Reihe erschienen zwei noch lieferbare Bändchen: "Die Wahrheit über Picasso und den Kubismus" und "Madrider Spaziergänge". Der Roman über zwei Stierkämpfer Torero Caracho wurde in einer Übersetzung von 1928 beim Gatza Verlag wieder aufgelegt. Der Autor, immer auf Augenhöhe des Stierkampf-Publikums, entlarvt es am Schluß mit einem ungeheueren Satz des Romans:
"Wenn man in diesem Augenblick auf die beiden verstümmelten Männer sah, die für immer verloren und ruhig blieben, erkannte man, wie das Publikum seine Helden betrügt, indem es sie dem Tod entgegenhetzt, der das Ende jeder Berühmtheit ist."
Dieser Roman "Torera Caracho" und die berühmten Prosaminiaturen "Greguerías" gingen unter mit dem raschen Verschwinden der Verlage, in denen die deutschen Übersetzungen publiziert wurden. Wieder verfügbar ist eine Version der "Greguerías" in einer Edition des Strahlener Übersetzer-Zentrums. Die Greguerias tauchen im de la Sernas Cirkus-Buch auf, ja sind im gesamten Werk des Spaniers immer wieder anzutreffen. Es handelt sich dabei um ein aphoristisches Anti- SprichwortVerfahren oder auch um die Auflösung eines Begriffs durch einen weithergeholten Vergleich:
"Der größte Schmerz der Welt/ ist der Schmerz am Stoßzahn des Elefanten." - "Der Juwelierladen ist errötet. Ein Kommunist hat ihn betrachtet." - "Der Traum ist ein Depot für verlorene Gegenstände."
Die Greguerias stellen die Wirklichkeit auf den Kopf, sind Parodien bzw. Analogien; das Unvernünftige wird als vernünftig erklärt. Angewandt auf die Beschreibungs- und Erzählstruktur des Cirkusbuches, entsteht eine wunderbare Bildlichkeit, die in einer pseudo-logischen Abfolge aus realen und irrealen Aussagen ihre Spannung bezieht:
"Die Äquilibristen haben sich mehrmals den Hals gebrochen, aber sie sind so hartnäckig, daß sie sich am Ende auf dem Drahtseil halten. Ihre zu Vogelfüßen verkrümmten Füße umklammern perfekt das Seil oder den Draht, wobei es vor allem ein einziger Zeh ist, der sich vollkommen festkrallt und sich ringförmig schließt ... Alle großen Seiltänzer sind in Amerika gewesen. Es scheint, sie alle haben den Mississippi auf einem Drahtseil überquert und auch die Niagarafälle, und sie haben die Überfahrt von Amerika nach Europa auf dem Meer zu Fuß gemacht, Schritt für Schritt, auf einem gespannten Seil."
Hier zeigt sich schon: Der bilder-und sprachverliebte Autor erschafft für seine Leser eine Welt, die noch imaginativer als der authentische Cirkus ist. Er führt den großen Tanz über die Abgründe hinweg. Er ist der wahre Äquilibrist eines phantastischen Universums. Welch große Bedeutung Ramón Gómez de la Serna innerhalb der spanischen Literatur damit zukommt, hat Pablo Neruda in seinen Erinnerungen, "Ich bekenne, ich habe gelebt" festgehalten:
"Ramón Gómez de la Serna ist für mich einer der großen Schriftsteller unserer Sprache, und sein Genie hat etwas von Quevedos und Picassos buntschillernder Größe. Ramón Gómez de la Serna durchforscht auf jeder Seite wie ein Schnüffler das Physische und Metaphysische, Wahrheit und Wahn und was er über Spanien weiß und geschrieben hat, konnte nur er so ausdrucken. Er ist ein Sammler eines geheimen Universums gewesen. Er hat die Syntax der Sprache mit eigenen Händen verändert, hat ihr seine Fingerabdrücke aufgeprägt, die niemand zu lösen vermag...
Gómez de la Serna wurde 1888 in Madrid geboren, in die Epoche, da Spanien mit den Philippinen und Kuba seine letzten Kolonien verliert und sich am Boden zerstört sieht. De la Serna jedoch bleibt der große Verwandlungskünstler, der Dadaist, der das nationale Desaster umspielt,und der das Café und den Cirkus als einzige Orte "einer zum Himmel schreienden Wahrheit " empfindet.
Als 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, war Ramón Gómez de la Serna in Buenos Aires; er kehrte nicht zurück und starb dort 1963. Dieser wohl vielseitigste Autor der spanischen Literatur im 20. Jahrhundert veröffentlichte mit 16 Jahren sein erstes Werk; mit 26 ein Buch über den berühmten Madrider Trödelmarkt. Der Vater, ein liberaler Politiker, ermöglichte dem Sohn als literarische Plattform die Zeitschrift "Prometeo", die er in Paris herausgab. Darin veröffentlichte er neben jüngeren spanischen Autoren Dichtung von Lautréamont, Oscar Wilde, d' Annunzio und Maeterlink. Ramón, wie er in Literatenkreisen halb mit Hochschätzung, halb mit Ironie genannt wird, steigt zum beliebten Journalisten auf, der in Madrid an einem Tag morgens für El Liberal und abends für "La Tribuna" schreibt.
Fritz Rudolf Fries, der schon die Nadrider Spaziergänge übersetzt hatte, ist der wahre Ramón-Fan und Ramón -Kenner, der uns in einer eleganten, meisterlichen Version die Cirkus-Welt de la Sernas präsentiert.
350 Seiten Zirkus, das ist mehr als eine Abendvorstellung und das ist auch mehr als nur Zirkus pur. Ramón Gómez de la Serna erklärt denn auch:
"Viele Male ist meine Prosa seiltänzerisch genannt worden und man hat mich mit ehrenwerten Titeln bedacht, welche im Cirkus die höchsten Kategorien präsentieren. Ich bin bei aller Liebe davon überzeugt, daß das Leben eine groteske Sache ist, was sich am besten dort zeigt, wo das Groteske harmoniert und einen künstlerisch entzückenden Ausdruck bekommt: im Cirkus ...Man muß das Leben nehmen, gemäß der großen Lektion, die uns der Cirkus erteilt."
Wie also kann Ramón "die Literatur mit der Nacht des Cirkus vermählen"? Nun, zunächst schlüpft er in die Rolle des offiziellen Cirkuschronisten. Hoch willkommen ist er im Madrider "Amerikanischen Cirkus". Die Gebrüder Fratelli, das berühmte Clownspaar, attestieren ihm, er sei der "spanische Illusionist", der dem Cirkus die Schminke wegnehme. Dieser Cirkuschronist zündet nicht nur bengalische Illuminationsfeuer an, sondern er zeigt Licht und Schatten, Freude und Trauer, Lachen und Melancholie. Der Cirkus als Spiegel oder noch genauer: als ein Welt-Kaleidoskop, in dem sich die Gefühlsskala zwischen paradiesischer Erwartung und jähem Bangen bewegt, für den Chronisten jedenfalls zwischen Illusion und Desillusion, Geglücktem und weniger Geglücktem. Ramóns Cirkus besteht aus drei Teilen zu 44 Kapiteln, in der Cirkussprache natürlich Nummern geheißen, angefangen von der "Alljährigen Eröffnung" über die erste Nummer,die stille Nummer bis zu allen klassischen Nummern und Protagonisten, die der Cirkus kennt. Lassen wir uns erwartungsfroh gefangennehmen:
" Im Lichtpalast des Cirkus sind wir alle wie im Innern einer Voltasäule. Die Pailletten der Clowns funkeln wie wahnsinnig. Dies ist der Menschheit optimistischer Teil, der im Leben weiterkommt. Wir alle sind froh, geboren und nicht gestorben zu sein. Das Paradies auf Erden, es ist der Cirkus."
Doch die Erste Nummer im Programm, die Pantomime, wird vom Publikum nicht verstanden, ein Pfeifkonzert ertönt. Eine Kunst, die doch so viel Wohlwollen und Verständnis braucht. Und er Chronist fragt feinsinnig:
"Ob die überaus sensiblen Pantomimen, die alles hören und alles sehen, an dieser schrecklichen Peinlichkeit, ausgepfiffen zu werden leiden? Sicherlich. (Die stumme Dame, die sich von dem stummen Herrn den Hof machen ließ, war bestimmt interessant und anrührend ...Wie schade!) Nun geht die Aufführung weiter, doch wird uns vor allem am Schluß diese geheimnisvolle Nummer fehlen, in der vielleicht eine linkische und magere aber unvergeßliche Frau auf rührende Art gelächelt hat, reuevoll und unerklärlich, für ein Publikum, wo niemand ihr Lächeln haben wollte. Arme erste Nummer! Man hat sie an die erste Stelle gesetzt, weil sie unglaublich!- nach Meinung des Direktors die schwächste ist ...Wir wollen die Traurigkeit abschütteln, so als hätten wir auf dem Bahnhof einen Freund verabschieden wollen, als der Zug bereits unwiederbringlich abgefahren war..."
Jede Nummer, die der Cirkuschronist G6mes de la Serna vorführt, ist eine verschmitzte greguería. Das ist der Unterschied zu Kafkas doppelbödiger Unausweichlichkeit. Dessen "hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin" und "die schöne Dame, weiß und rot" , die zwei Seiten seiner Artistin, stehen unversöhnt, in schrillem Kontrast. Gómez de la Serna zeigt ebenfalls die zwei Seiten einer Cirkus-Welt, aber er ist der Humorist, der Luftschiffer über den Dingen, die die Unvereinbarkeit mittels seiner greguerla wieder zusammenführt. Clowns, Amazonen, Trapezkünstler, Radler, Illusionisten, Schlangenmänner, Japanesen, Robben und Seelöwen bevölkern, bestimmen den Cirkus. Doch in Ramóns Cirkus sind sie mehr. Er ist der Chronist mit dem Scheinwerfer im Auge, der sie zuerst in der Manege ausmacht und sie dann in seiner Sprachfindung zu neuem Leben erweckt. Etwa in der Beschreibungen des Trapezkünstlers und des Clowns:
" Wenn alle zur Kuppel schauen - wo sich der Trapezkünstler befindet-, machen einige Leute den Eindruck, als hätten sie einen Flieger gesehen und andere, als sähen sie eine Mondfinsternis. Oh die großen Münder der allerdümmsten Trottel könnten ihn retten, wenn er abstürzte, weil er in einem weichen Schlund fiele!"
"Der Clown ist es, der den Cirkus erhellt und vielleicht erhellt er das Leben, denn den meisten Trost gibt uns die Tatsache, daß sie nach dem Tod mit ihren Späßen fortfahren. Die Clowns sind einander so ähnlich, daß es den Anschein hat, es gebe nur zwei oder drei ewige Clowns ...Der Kopf eines Clowns ist so merkwürdig beschaffen, daß wenn man ihn guillotinierte, sein Gesicht weiter fröhliche und lustige Grimassen schnitten zuerst mit einem Auge blinzelnd, dann mit dem anderen, unaufhörlich...Die Clowns sind alles in allem eine Sorte mehlbestäubte Bäcker, die das Brot des Lachens für alle zubereiten. ...EntsetzlicheVorstellung, der Clown könnte nicht genial sein. Das würde das ganze Fest traurig stimmen..."
De la Sernas Verfahren ist überaus variationsreich. Er geht von der Grundfigur des Trapezkünstlers oder Clowns aus, setzt sie zur tatsächlichen oder vermeintlichen Publikumserwartung in Beziehung und wechselt von dort unmerklich zum eigenen Standpunkt; dies teilweise pro Figur zehn Seiten lang - ein Prozeß der ständigen Auflösung einer gerade getroffenen Feststellung oder Beschreibung! So entsteht die Ramónsche Cirkus-Betrachtung, seine teils heiter, teils tiefsinnige Cirkus- und Lebensphilosophie. Elf Seiten lang läßt sich der Cirkuschronist über die Amazone aus, obschon er so beginnt:
"Eine langweilige aber notwendige Nummer ist die Amazone. Ließe man sie weg, wie das aufgebrachte Publikum möchte, würden wir unser Leben lang die bildliche Schönheit, die Göttlichkeit und das Temperament unserer Nummer vermissen ...Die Amazone da im Reitkostüm zeigt nicht unbedingt bezaubernde Beine, aber eine große romantische Würde, wie die Erbprinzessin Marie Luise."
"Es sind die Metamorphosen der Frau zu Pferd, in die man sich nicht verlieben kann; denn: Es würde das geliebte Wesen aus uns den Mann mit der Peitsche machen, den Mann der das Pferd geißelt, und obgleich man vor Liebe zu ihr verrückt wäre, würde man eine miserable Rolle spielen, wie ein Kutscher zu Fuß. ...Diese Herren im Frack mit der Peitsche werden außerdem vom Publikum gehaßt, weil sie die eigentlichen Besitzer des Pferdes und der Amazone sind, über der sie ihre Peitsche entladen..."
Das sind voll funkelnder Bosheit und Ironie geschickt eingesetzte wechselnde Perspektiven ; zwischen vorgeblicher Publikumsmeinung und Ansicht des Cirkuschronisten lösen sich die alten Standards, was denn eine Amazone sei, auf. Wie unter der Hand erfahren wir bei Ramón Gómez de la Serna durch die so gewendete Rezeption etwas von den geheimen Ur-Gefühlen des Publikums, von Liebesfrustration, Masochismus, Sadismus. Gerade indem Ramón sich dezidiert in eigenen Nummern-Kapiteln über die innere Türe der Cirkus-Welt, das Publikum, sowie die Pause äußert, zeigt er an, wie sehr er die Totalität der Cirkuswelt nur in der lebensfähigen Koexistenz beider Welten erkennt, der äußeren des Publikums oder der Masse und ihrer Erwartung zum Cirkus.
Bei der Besprechung der französischen Ausgabe von Ramóns Cirkus-Buch, schrieb Walter Benjamin 1927:
"Ramóns Zirkus ist ein (etwas unheimlicher) Ort des Klassenfriedens. Aber er ist auch ein Ort des Friedens in anderem Sinne: mit Recht hat Serna in einer berühmten Rede, die er in einem Mailänder Zirkus vom Trapez herab hielt, gesagt, der wahre Völkerfriede werde dereinst in einem großen Zirkus besiegelt."
Die Prophezeihung von 1917 ist bedauerlicherweise nicht eingetroffen. Und unser Bild vom Cirkus mag heute durchs Fernsehen und die virtuelle Internetbildwelt ein anderes sein. Eines jedoch ist gewiß: die Lektüre dieser CirkusZauberwelt aus der Feder des ersten Cirkus-Chronisten weckt neben frühen Erinnerungen auch die Lust für eine Wiederbegegnung mit dieses Welt. Also, Manege frei für Ramón Gómez de la Serna.
"Ich bin derjenige, der sich in den Kopf gesetzt hat, die Literatur mit der Nacht des Cirkus zu vermählen, da sie mir ihre Seele so offen und aufrichtig dargeboten hat. Ob ich großen Gefahren ausgesetzt bin? Ich glaube nicht. Das Cirkuspublikum ist anders und seine Empfänglichkeit weitherziger. Im Cirkus kehren alle ins ursprüngliche Paradies zurück, darin wir gerechter, unbefangener und toleranter sein müssen."
Ramón Gómez de la Serna, einer der großen spanischen Schriftsteller der ersten Jahrhunderthälfte, wird bei uns erst langsam, man kann sagen: häppchenweise, bekannt gemacht. Was vielleicht auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt, daß sein Werkverzeichnis über hundert Titel aufweist. In Wagenbachs Salto-Reihe erschienen zwei noch lieferbare Bändchen: "Die Wahrheit über Picasso und den Kubismus" und "Madrider Spaziergänge". Der Roman über zwei Stierkämpfer Torero Caracho wurde in einer Übersetzung von 1928 beim Gatza Verlag wieder aufgelegt. Der Autor, immer auf Augenhöhe des Stierkampf-Publikums, entlarvt es am Schluß mit einem ungeheueren Satz des Romans:
"Wenn man in diesem Augenblick auf die beiden verstümmelten Männer sah, die für immer verloren und ruhig blieben, erkannte man, wie das Publikum seine Helden betrügt, indem es sie dem Tod entgegenhetzt, der das Ende jeder Berühmtheit ist."
Dieser Roman "Torera Caracho" und die berühmten Prosaminiaturen "Greguerías" gingen unter mit dem raschen Verschwinden der Verlage, in denen die deutschen Übersetzungen publiziert wurden. Wieder verfügbar ist eine Version der "Greguerías" in einer Edition des Strahlener Übersetzer-Zentrums. Die Greguerias tauchen im de la Sernas Cirkus-Buch auf, ja sind im gesamten Werk des Spaniers immer wieder anzutreffen. Es handelt sich dabei um ein aphoristisches Anti- SprichwortVerfahren oder auch um die Auflösung eines Begriffs durch einen weithergeholten Vergleich:
"Der größte Schmerz der Welt/ ist der Schmerz am Stoßzahn des Elefanten." - "Der Juwelierladen ist errötet. Ein Kommunist hat ihn betrachtet." - "Der Traum ist ein Depot für verlorene Gegenstände."
Die Greguerias stellen die Wirklichkeit auf den Kopf, sind Parodien bzw. Analogien; das Unvernünftige wird als vernünftig erklärt. Angewandt auf die Beschreibungs- und Erzählstruktur des Cirkusbuches, entsteht eine wunderbare Bildlichkeit, die in einer pseudo-logischen Abfolge aus realen und irrealen Aussagen ihre Spannung bezieht:
"Die Äquilibristen haben sich mehrmals den Hals gebrochen, aber sie sind so hartnäckig, daß sie sich am Ende auf dem Drahtseil halten. Ihre zu Vogelfüßen verkrümmten Füße umklammern perfekt das Seil oder den Draht, wobei es vor allem ein einziger Zeh ist, der sich vollkommen festkrallt und sich ringförmig schließt ... Alle großen Seiltänzer sind in Amerika gewesen. Es scheint, sie alle haben den Mississippi auf einem Drahtseil überquert und auch die Niagarafälle, und sie haben die Überfahrt von Amerika nach Europa auf dem Meer zu Fuß gemacht, Schritt für Schritt, auf einem gespannten Seil."
Hier zeigt sich schon: Der bilder-und sprachverliebte Autor erschafft für seine Leser eine Welt, die noch imaginativer als der authentische Cirkus ist. Er führt den großen Tanz über die Abgründe hinweg. Er ist der wahre Äquilibrist eines phantastischen Universums. Welch große Bedeutung Ramón Gómez de la Serna innerhalb der spanischen Literatur damit zukommt, hat Pablo Neruda in seinen Erinnerungen, "Ich bekenne, ich habe gelebt" festgehalten:
"Ramón Gómez de la Serna ist für mich einer der großen Schriftsteller unserer Sprache, und sein Genie hat etwas von Quevedos und Picassos buntschillernder Größe. Ramón Gómez de la Serna durchforscht auf jeder Seite wie ein Schnüffler das Physische und Metaphysische, Wahrheit und Wahn und was er über Spanien weiß und geschrieben hat, konnte nur er so ausdrucken. Er ist ein Sammler eines geheimen Universums gewesen. Er hat die Syntax der Sprache mit eigenen Händen verändert, hat ihr seine Fingerabdrücke aufgeprägt, die niemand zu lösen vermag...
Gómez de la Serna wurde 1888 in Madrid geboren, in die Epoche, da Spanien mit den Philippinen und Kuba seine letzten Kolonien verliert und sich am Boden zerstört sieht. De la Serna jedoch bleibt der große Verwandlungskünstler, der Dadaist, der das nationale Desaster umspielt,und der das Café und den Cirkus als einzige Orte "einer zum Himmel schreienden Wahrheit " empfindet.
Als 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, war Ramón Gómez de la Serna in Buenos Aires; er kehrte nicht zurück und starb dort 1963. Dieser wohl vielseitigste Autor der spanischen Literatur im 20. Jahrhundert veröffentlichte mit 16 Jahren sein erstes Werk; mit 26 ein Buch über den berühmten Madrider Trödelmarkt. Der Vater, ein liberaler Politiker, ermöglichte dem Sohn als literarische Plattform die Zeitschrift "Prometeo", die er in Paris herausgab. Darin veröffentlichte er neben jüngeren spanischen Autoren Dichtung von Lautréamont, Oscar Wilde, d' Annunzio und Maeterlink. Ramón, wie er in Literatenkreisen halb mit Hochschätzung, halb mit Ironie genannt wird, steigt zum beliebten Journalisten auf, der in Madrid an einem Tag morgens für El Liberal und abends für "La Tribuna" schreibt.
Fritz Rudolf Fries, der schon die Nadrider Spaziergänge übersetzt hatte, ist der wahre Ramón-Fan und Ramón -Kenner, der uns in einer eleganten, meisterlichen Version die Cirkus-Welt de la Sernas präsentiert.
350 Seiten Zirkus, das ist mehr als eine Abendvorstellung und das ist auch mehr als nur Zirkus pur. Ramón Gómez de la Serna erklärt denn auch:
"Viele Male ist meine Prosa seiltänzerisch genannt worden und man hat mich mit ehrenwerten Titeln bedacht, welche im Cirkus die höchsten Kategorien präsentieren. Ich bin bei aller Liebe davon überzeugt, daß das Leben eine groteske Sache ist, was sich am besten dort zeigt, wo das Groteske harmoniert und einen künstlerisch entzückenden Ausdruck bekommt: im Cirkus ...Man muß das Leben nehmen, gemäß der großen Lektion, die uns der Cirkus erteilt."
Wie also kann Ramón "die Literatur mit der Nacht des Cirkus vermählen"? Nun, zunächst schlüpft er in die Rolle des offiziellen Cirkuschronisten. Hoch willkommen ist er im Madrider "Amerikanischen Cirkus". Die Gebrüder Fratelli, das berühmte Clownspaar, attestieren ihm, er sei der "spanische Illusionist", der dem Cirkus die Schminke wegnehme. Dieser Cirkuschronist zündet nicht nur bengalische Illuminationsfeuer an, sondern er zeigt Licht und Schatten, Freude und Trauer, Lachen und Melancholie. Der Cirkus als Spiegel oder noch genauer: als ein Welt-Kaleidoskop, in dem sich die Gefühlsskala zwischen paradiesischer Erwartung und jähem Bangen bewegt, für den Chronisten jedenfalls zwischen Illusion und Desillusion, Geglücktem und weniger Geglücktem. Ramóns Cirkus besteht aus drei Teilen zu 44 Kapiteln, in der Cirkussprache natürlich Nummern geheißen, angefangen von der "Alljährigen Eröffnung" über die erste Nummer,die stille Nummer bis zu allen klassischen Nummern und Protagonisten, die der Cirkus kennt. Lassen wir uns erwartungsfroh gefangennehmen:
" Im Lichtpalast des Cirkus sind wir alle wie im Innern einer Voltasäule. Die Pailletten der Clowns funkeln wie wahnsinnig. Dies ist der Menschheit optimistischer Teil, der im Leben weiterkommt. Wir alle sind froh, geboren und nicht gestorben zu sein. Das Paradies auf Erden, es ist der Cirkus."
Doch die Erste Nummer im Programm, die Pantomime, wird vom Publikum nicht verstanden, ein Pfeifkonzert ertönt. Eine Kunst, die doch so viel Wohlwollen und Verständnis braucht. Und er Chronist fragt feinsinnig:
"Ob die überaus sensiblen Pantomimen, die alles hören und alles sehen, an dieser schrecklichen Peinlichkeit, ausgepfiffen zu werden leiden? Sicherlich. (Die stumme Dame, die sich von dem stummen Herrn den Hof machen ließ, war bestimmt interessant und anrührend ...Wie schade!) Nun geht die Aufführung weiter, doch wird uns vor allem am Schluß diese geheimnisvolle Nummer fehlen, in der vielleicht eine linkische und magere aber unvergeßliche Frau auf rührende Art gelächelt hat, reuevoll und unerklärlich, für ein Publikum, wo niemand ihr Lächeln haben wollte. Arme erste Nummer! Man hat sie an die erste Stelle gesetzt, weil sie unglaublich!- nach Meinung des Direktors die schwächste ist ...Wir wollen die Traurigkeit abschütteln, so als hätten wir auf dem Bahnhof einen Freund verabschieden wollen, als der Zug bereits unwiederbringlich abgefahren war..."
Jede Nummer, die der Cirkuschronist G6mes de la Serna vorführt, ist eine verschmitzte greguería. Das ist der Unterschied zu Kafkas doppelbödiger Unausweichlichkeit. Dessen "hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin" und "die schöne Dame, weiß und rot" , die zwei Seiten seiner Artistin, stehen unversöhnt, in schrillem Kontrast. Gómez de la Serna zeigt ebenfalls die zwei Seiten einer Cirkus-Welt, aber er ist der Humorist, der Luftschiffer über den Dingen, die die Unvereinbarkeit mittels seiner greguerla wieder zusammenführt. Clowns, Amazonen, Trapezkünstler, Radler, Illusionisten, Schlangenmänner, Japanesen, Robben und Seelöwen bevölkern, bestimmen den Cirkus. Doch in Ramóns Cirkus sind sie mehr. Er ist der Chronist mit dem Scheinwerfer im Auge, der sie zuerst in der Manege ausmacht und sie dann in seiner Sprachfindung zu neuem Leben erweckt. Etwa in der Beschreibungen des Trapezkünstlers und des Clowns:
" Wenn alle zur Kuppel schauen - wo sich der Trapezkünstler befindet-, machen einige Leute den Eindruck, als hätten sie einen Flieger gesehen und andere, als sähen sie eine Mondfinsternis. Oh die großen Münder der allerdümmsten Trottel könnten ihn retten, wenn er abstürzte, weil er in einem weichen Schlund fiele!"
"Der Clown ist es, der den Cirkus erhellt und vielleicht erhellt er das Leben, denn den meisten Trost gibt uns die Tatsache, daß sie nach dem Tod mit ihren Späßen fortfahren. Die Clowns sind einander so ähnlich, daß es den Anschein hat, es gebe nur zwei oder drei ewige Clowns ...Der Kopf eines Clowns ist so merkwürdig beschaffen, daß wenn man ihn guillotinierte, sein Gesicht weiter fröhliche und lustige Grimassen schnitten zuerst mit einem Auge blinzelnd, dann mit dem anderen, unaufhörlich...Die Clowns sind alles in allem eine Sorte mehlbestäubte Bäcker, die das Brot des Lachens für alle zubereiten. ...EntsetzlicheVorstellung, der Clown könnte nicht genial sein. Das würde das ganze Fest traurig stimmen..."
De la Sernas Verfahren ist überaus variationsreich. Er geht von der Grundfigur des Trapezkünstlers oder Clowns aus, setzt sie zur tatsächlichen oder vermeintlichen Publikumserwartung in Beziehung und wechselt von dort unmerklich zum eigenen Standpunkt; dies teilweise pro Figur zehn Seiten lang - ein Prozeß der ständigen Auflösung einer gerade getroffenen Feststellung oder Beschreibung! So entsteht die Ramónsche Cirkus-Betrachtung, seine teils heiter, teils tiefsinnige Cirkus- und Lebensphilosophie. Elf Seiten lang läßt sich der Cirkuschronist über die Amazone aus, obschon er so beginnt:
"Eine langweilige aber notwendige Nummer ist die Amazone. Ließe man sie weg, wie das aufgebrachte Publikum möchte, würden wir unser Leben lang die bildliche Schönheit, die Göttlichkeit und das Temperament unserer Nummer vermissen ...Die Amazone da im Reitkostüm zeigt nicht unbedingt bezaubernde Beine, aber eine große romantische Würde, wie die Erbprinzessin Marie Luise."
"Es sind die Metamorphosen der Frau zu Pferd, in die man sich nicht verlieben kann; denn: Es würde das geliebte Wesen aus uns den Mann mit der Peitsche machen, den Mann der das Pferd geißelt, und obgleich man vor Liebe zu ihr verrückt wäre, würde man eine miserable Rolle spielen, wie ein Kutscher zu Fuß. ...Diese Herren im Frack mit der Peitsche werden außerdem vom Publikum gehaßt, weil sie die eigentlichen Besitzer des Pferdes und der Amazone sind, über der sie ihre Peitsche entladen..."
Das sind voll funkelnder Bosheit und Ironie geschickt eingesetzte wechselnde Perspektiven ; zwischen vorgeblicher Publikumsmeinung und Ansicht des Cirkuschronisten lösen sich die alten Standards, was denn eine Amazone sei, auf. Wie unter der Hand erfahren wir bei Ramón Gómez de la Serna durch die so gewendete Rezeption etwas von den geheimen Ur-Gefühlen des Publikums, von Liebesfrustration, Masochismus, Sadismus. Gerade indem Ramón sich dezidiert in eigenen Nummern-Kapiteln über die innere Türe der Cirkus-Welt, das Publikum, sowie die Pause äußert, zeigt er an, wie sehr er die Totalität der Cirkuswelt nur in der lebensfähigen Koexistenz beider Welten erkennt, der äußeren des Publikums oder der Masse und ihrer Erwartung zum Cirkus.
Bei der Besprechung der französischen Ausgabe von Ramóns Cirkus-Buch, schrieb Walter Benjamin 1927:
"Ramóns Zirkus ist ein (etwas unheimlicher) Ort des Klassenfriedens. Aber er ist auch ein Ort des Friedens in anderem Sinne: mit Recht hat Serna in einer berühmten Rede, die er in einem Mailänder Zirkus vom Trapez herab hielt, gesagt, der wahre Völkerfriede werde dereinst in einem großen Zirkus besiegelt."
Die Prophezeihung von 1917 ist bedauerlicherweise nicht eingetroffen. Und unser Bild vom Cirkus mag heute durchs Fernsehen und die virtuelle Internetbildwelt ein anderes sein. Eines jedoch ist gewiß: die Lektüre dieser CirkusZauberwelt aus der Feder des ersten Cirkus-Chronisten weckt neben frühen Erinnerungen auch die Lust für eine Wiederbegegnung mit dieses Welt. Also, Manege frei für Ramón Gómez de la Serna.