In den letzten Jahren wurden die Mitgliedsstaaten der EU mit einer Reihe neuer Herausforderungen konfrontiert. Die im Mai 2004 abgeschlossene, bislang größte Erweiterung der EU um zehn Staaten wird zu einer gesteigerten Heterogenität innerhalb der Union führen und dürfte damit den Integrationsdruck weiter erhöhen. Um die Handlungsfähigkeit der EU-25 zu sichern wurde eine weit reichende Reform des institutionellen Systems notwendig, welche der Konvent durch die Erarbeitung einer Europäischen Verfassungsvertrages gewährleisten sollte. Eine weitere, "von außen" kommende Herausforderung an die Staaten der EU stellt der internationale Terrorismus nach dem 11. September 2001 dar. Die Anschläge vom 11. März 2004 in Madrid haben verdeutlicht, dass diese Bedrohung auch in Europa angekommen ist. Hinzu tritt eine weitere, "von innen" wirkende Problematik: Die wirtschaftliche Sklerose im europäischen Wirtschaftsraum. Gerade der Elan der deutschen Europapolitik scheint in der jüngsten Vergangenheit vor dem Hintergrund der anhaltenden wirtschaftliche Schwäche der Bundesrepublik deutlich nachgelassen zu haben.
Inwiefern kann es Deutschland angesichts dieser neuen Herausforderungen noch gelingen, seinen Status als "Vorreiter" der europäischen Integration aufrecht zu erhalten? Die insbesondere von kleineren Mitgliedstaaten vorgetragenen Ängste vor einem europäischen "Direktorium" während der Verhandlungen über eine europäische Verfassung haben diese Frage in aller Deutlichkeit aufgeworfen. Gleiches gilt für noch offene Streitpunke im Zusammenhang mit der jüngsten Erweiterung sowie für die EU-weit kritisierte deutsche Politik gegenüber dem Wachstums- und Stabilitätspakt.
Deutschlands Position im Verfassungskonvent
Der Europäische Verfassungskonvent geht auf einen Vorschlag des deutschen Außenministers Joschka Fischer zurück. In seinem Vortrag vom Mai 2000 an der Berliner Humboldt-Universität gab Fischer die erste Anregung dazu, einen europäischen Verfassungsvertrag zu erarbeiten. Der Konvent nahm seine Arbeit – die am Ende fast anderthalb Jahre dauern sollte - Anfang 2002 unter Federführung seines Präsidenten, Valéry Giscard d’Estaing, auf. Erfolgreich abgeschlossen wurden die Verhandlungen zu einer Europäischen Verfassung von den Staats- und Regierungschefs mit der Einigung unter der irischen Ratspräsidentschaft im Juni 2004. Nun muss der Vertragstext noch in den 25 Mitgliedstaaten ratifiziert werden.
Nachdem das Konventspräsidium im Oktober 2002 einen ersten Gerüstentwurf zur Europäischen Verfassung vorgelegt hatte, brachten Außenminister Fischer und sein französischer Kollege de Villepin am 15. Januar 2003 einen gemeinsamen Beitrag ein, in dem sie ihre Vorstellungen von der "institutionellen Architektur" der zukünftigen EU darlegten. Dieser Beitrag stellte die bedeutendste Initiative der Bundesrepublik in der frühen Phase der Konventsverhandlungen dar. Der Beitrag enthält den Vorschlag, eine Doppelspitze zur Führung der Europäischen Union zu schaffen. Daher war neben der Stärkung des Kommissionspräsidenten vorgesehen, einen ständigen Präsidenten des Europäischen Rates einzusetzen. Die vorgesehene Doppelspitze ergab sich dabei als ein Kompromiss zwischen der französischen und der deutschen Position: Während Deutschland vor allem die Stärkung der Europäischen Kommission als Gemeinschaftsinstitution befürwortete, wollte Frankreich die permanente Ratspräsidentschaft (anstelle der halbjährlich rotierenden) ins Leben rufen. Dieser Schritt zielte auf die Stärkung der Mitgliedstaaten gegenüber der Gemeinschaft ab. Darüber hinaus enthielt das gemeinsame Papier den (ursprünglich deutschen) Vorschlag, den Posten eines europäischen Außenministers zu schaffen, der die bisher getrennten Funktionen des Hohen Vertreters für die GASP und des Kommissars für externe Beziehungen verschmelzen sollte. Damit, so die Absicht, würde die EU ein noch klareres "Gesicht" nach außen bekommen. Im Bereich der GASP war zudem vorgesehen, Beschlüsse künftig mit qualifizierter Mehrheit zu fassen. Für den Bereich der ESVP sollte die verstärkte Zusammenarbeit einer Gruppe von Staaten ermöglicht werden (vgl. das Hintergrundpapier zur deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik). Schließlich sollte auch das europäische Parlament deutlich in seinen Rechten gestärkt werden.
Viele der gemeinsamen deutsch-französischen Vorschläge fanden sich im späteren Verfassungsentwurf wieder. Nicht durchsetzen konnte sich Deutschland jedoch mit der Forderung nach qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Da Berlin im Bereich der Einwanderungspolitik selbst am Einstimmigkeitsprinzip festhielt, büßte Deutschland auch an europapolitischer Glaubwürdigkeit in anderen Bereichen ein.
Am 18. Juli 2003 wurde der Verfassungsentwurf des Konvents in Rom der italienischen Ratspräsidentschaft überreicht. Schon im Vorfeld hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder davor gewarnt, das erarbeitete Paket wieder aufzuschnüren. Auch Fischer hatte in einer Regierungserklärung seine Zufriedenheit mit dem Konventsergebnis bekundet, auch wenn nicht alle deutschen Wünsche durchgesetzt werden konnten. Er bewertete das Konventsergebnis als bedeutenden Integrationssprung.
Deutschlands Position in den Regierungskonferenzen
Während der am 4. Oktober 2003 eröffneten Regierungskonferenz zeichneten sich deutliche Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich auf der einen Seite sowie Spanien und Polen auf der anderen Seite über die Ausgestaltung des zukünftigen Stimmverfahrens im Ministerrat ab. Die beiden letztgenannten Länder bestanden darauf, die im Nizza-Vertrag festgelegte Stimmengewichtung beizubehalten, da diese ihnen gemessen an ihrer Bevölkerungsgröße überproportionalen Einfluss sichert. Dagegen trat die Bundesregierung vehement für das Prinzip der "doppelten Mehrheit" ein, welches die Größe der nationalen Bevölkerungen mit in die Stimmgewichtung einbezog. Dieser Dissenz führte maßgeblich zum Scheitern der Verhandlungen beim Gipfel des Europäischen Rates in Brüssel im Dezember 2003. Die Bundesregierung zog nach eigenem Bekunden den "heilsamen Schock" des Scheiterns dem Beschluss von verwässerten Formelkompromissen vor.
Schwieriger Weg zur Einigung: Berlin erprobt sein Drohpotenzial
Im Anschluss an die Brüsseler Verhandlungen drohte Deutschland gemeinsam mit den fünf weiteren "Nettozahlern" der EU, die Ausgaben der Europäischen Union in der bevorstehenden Haushaltsperiode von 2007 bis 2013 auf maximal ein Prozent des EU-weiten Bruttosozialprodukts zu begrenzen. Diese Drohung richtete sich recht unverhohlen gegen Spanien und Polen. Als weiteres Druckmittel brachte die Bundeskanzler Schröder erneut die Idee eines "Kerneuropas" in die Debatte. Wenn die EU unfähig sei, sich mit der Verfassung an die Gegebenheiten der Erweiterung anzupassen, dann müsse es einer Gruppe von besonders kooperationswilligen Staaten gestattet sein, auch alleine voranzuschreiten. De facto wurde eine verstärkte Zusammenarbeit seit einiger Zeit bereits von Deutschland, Frankreich und Großbritannien betrieben. Diese engere Kooperation erfolgte vor allem durch regelmäßig stattfindende "Dreiergipfel". Einem solchen im Februar 2004 abgehaltenen Minigipfel wurde die harsche Kritik kleinerer Mitgliedsstaaten sowie Italiens zuteil. Die Vertreter dieser Staaten befürchteten die Bildung eines Direktoriums der "Großen Drei", welches sie kategorisch ablehnten. Die Bundesregierung handelte in dieser Frage jedoch nicht geschlossen. Außenminister Fischer distanzierte sich Anfang März 2004 von der Kerneuropa-Konzeption, die er selbst noch in der erwähnten Humboldtrede unterstützt hatte. Als Hintergrund dieses Positionswandels, den Fischer in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Zeitung offen legte, wird vermutet, dass Fischer den Glauben an ein funktionierendes, homogenes Gravitationszentrum in der EU aufgab hat und stattdessen den Zerfall in lose, wechselnde Koalitionen befürchtete. Als sich nach der Wahl in Spanien (in Madrid kam unter dem Sozialisten Zapatero überraschend eine integrationsfreundlichere Regierung an die Macht) dann doch ein Kompromiss über die Verfassung unter der irischen Ratspräsidentschaft abzuzeichnen begann, setzte auch der Bundeskanzler wieder verstärkt auf ein gemeinsames Voranschreiten der EU-25.
Obwohl weiterhin von verschiedenen Ländern so genannte "rote Linien" öffentlichkeitswirksam vertreten wurden (so bspw. von Großbritannien in der Sozialpoltik), konnte auf dem Europäischen Ratsgipfel in Dublin am 18. Juni eine Einigung erzielt werden. Hinsichtlich der doppelten Mehrheit kam man überein, dass diese gegeben sei, wenn eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsstaaten sowie gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmten, was eine Aufweichung von der im Konventsentwurf festgehaltenen 50/60-Formel darstellt. Die Zukunft des Verfassungsvertrages liegt nun in den Händen der Mitgliedsstaaten, die diesen nun zu ratifizieren haben.
Die Erweiterung der Europäischen Union - Offene Fragen der abgeschlossenen Runde
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts vertrat Deutschland gegenüber den mittelosteuropäischen Ländern stets einen Kurs, der auf einen möglichst raschen Beitritt zur EU abzielt. Am 1. Mai 2004 konnte mit dem Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn und Zypern nach Jahren der Vorbereitung die größte aller bisherigen Erweiterungen abgeschlossen werden. Doch mit diesem Schritt ist die Erweiterungsthematik innerhalb der EU noch nicht vom Tisch, da eine Reihe weiterer Staaten (Bulgarien, Rumänien, Staaten des westlichen Balkans, Türkei) den EU-Beitritt ansteuert.
Die bis Ende 2002 offen gebliebene Frage der Finanzierung des Beitritts der ersten zehn Staaten konnte auf dem Kopenhagener Ratsgipfel im Dezember 2002 durch einen Kompromiss zwischen Deutschland und Frankreich gelöst werden. Das besondere Anliegen Deutschlands, die Agrarausgaben zu stabilisieren, wurde von den Staats- und Regierungschefs angenommen. Die Ausgaben für den Bereich Landwirtschaft werden daher ab 2007 nur noch im Sinne des Inflationsausgleichs steigen.
Kaum ein wichtiger deutscher Politiker hat es seither versäumt, die historische Bedeutung der Aufnahme der neuen Mitgliedstaaten in die EU hervorzuheben. So auch Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung am 30. April 2004. Dennoch bleiben noch eine Reihe konkreter Probleme bestehen. Dazu zählt insbesondere die Frage der mittelfristigen Finanzplanung bis 2013. Die nach dem vorläufigen Scheitern der Verfassungsverhandlungen im Januar ins Spiel gebrachte "Deckelung" des Haushalts ist noch immer im Gespräch. Der Abschluss der Finanzverhandlungen wird als sehr schwierig eingeschätzt. Die Bundesregierung will verhindern, dass die Aufnahme zumeist strukturschwacher neuer Regionen in die EU bei gleichzeitig fortdauernder Förderung der "alten" Förderregionen einzig auf Kosten der Nettobeitragszahler erfolgen wird. In jüngster Zeit warfen darüber hinaus insbesondere deutsche Regierungsvertreter den neuen EU-Mitgliedstaaten Steuerdumping vor. Ein Verzicht auf Steuereinnahmen bei gleichzeitiger Verwendung von EU-Geldern zum Aufbau von Infrastruktur könne von den EU-Nettozahlern nicht mitgetragen werden, so das offizielle Berlin. Die Verhinderung von Steuerdumping ist auch der Kern einer geplanten deutsch-französischen Initiative, welche auf eine langfristige Einführung einheitlicher Mindeststeuersätze abzielt.
Zukünftige Erweiterungen: Rumänien, Bulgarien und westlicher Balkan
Auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002 wurde auch ein positives Signal an die weiteren Beitrittsanwärter Rumänien und Bulgarien gesandt: Unter Kenntnisnahme ihrer Reformfortschritte wurde das anzustrebende Beitrittsdatum auf 2007 festgelegt. Außenminister Fischer hatte sich im Vorfeld des Gipfels für diesen Zeitpunkt sowie für eine verstärkte Heranführungsstrategie ausgesprochen. Auf dem Brüsseler Gipfel von Dezember 2003 wurde die Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit Rumänien und Bulgarien auf spätestens Ende 2005 terminiert, so dass der Beitritt spätestens im Januar 2007 erfolgen kann. Auf dem Dubliner Gipfel im Juni 2004 wurde dieses Datum bekräftigt und der Abschluss der Verhandlungen mit Bulgarien bekannt gegeben.
Doch hiermit schließt sich die Liste der Beitrittsanwärter noch nicht: Im Februar 2003 richtete Kroatien einen Antrag auf Mitgliedschaft an die EU-Kommission. Dass die Bundesregierung weitere Erweiterungen anstrebt, zeigte sich bei Schröders Balkan-Besuch Ende Oktober 2003. Der Bundeskanzler würdigte die Reformanstrengungen des damaligen kroatischen Premiers Racan und stellte Kroatiens Entwicklung auf eine Stufe mit jener Bulgariens und Rumäniens. Daher sicherte Schröder Kroatien Unterstützung für das Beitrittsgesuch zu. Auch in Serbien und Montenegro lobte er den jeweils eingeschlagenen Stabilisierungsprozess. Mit dem serbischen Präsidenten Zirkovic kam er überein, dass eine Heranführung des Landes an die EU notwendig sei und sicherte ihm seine Unterstützung zu. Kurzfristig wird nun ein Assoziierungsabkommen angestrebt. Aus Sicht der Bundesregierung wäre ein Beitritt Kroatiens wesentlicher Baustein einer Gesamtstrategie zur Stabilisierung des westlichen Balkans. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit Kroatien wurde im Juni 2004 in Dublin beschlossen.
Innenpolitisch äußerst umstritten: Die Beitrittsperspektive der Türkei
Bereits im 1963 zwischen der EG und der Türkei abgeschlossenen Assoziierungsabkommen wurde dem islamisch geprägten Staat die Perspektive der späteren Vollmitgliedschaft in der EG/EU eröffnet. Seit 1999 besitzt die Türkei offiziell den Status eines Beitrittkandidaten. Wenngleich schon Altbundeskanzler Kohl die Annäherung der Türkei an die EU förderte, hegte er doch die Vorstellung von einer christlichen Wertegemeinschaft der EU. Die rot-grüne Koalition hingegen unterstützt einen türkischen EU-Beitritt mit bislang ungekannter Deutlichkeit. Der "türkeifreundliche" Kurs der derzeitigen Bundesregierung hängt auch mit dem gesteigerten strategischen Gewicht der Türkei zusammen, welches sich aus den Terroranschlägen des 11. September 2001 ergeben hatte.
Auf dem EU-Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002 eröffneten die Staats- und Regierungschef der Türkei die Perspektive, im Jahre 2005 Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Ende 2004 wird der Europäische Rat auf der Grundlage eines Berichtes der Kommission über die Reformfortschritte Ankaras darüber zu befinden haben, ob die Verhandlungsphase tatsächlich zu diesem Zeitpunkt eröffnet werden kann. Der Kopenhagener Beschluss beruht auf einem gemeinsamen Vorschlag Deutschlands und Frankreichs, welche auch im unmittelbaren Vorfeld der Regierungskonferenz auf ein positives Signal an die Türkei hingearbeitet hatten. Bundeskanzler Gerhard Schröder vertrat öffentlich stets die Auffassung, dass sich der Beitritt der Türkei ausschließlich am Maßstab der Erfüllung der 1993 formulierten Kopenhagener Kriterien zu entscheiden habe. Dagegen hat die CDU/CSU gegenwärtig eine deutlich ablehnende Position bezogen. Mit Hinweis auf eine Überdehnung der EU sowie der Betonung kultureller Grenzen stellte die CDU/CSU einer Vollmitgliedschaft der Türkein das nachrangige Konzept einer "privilegierten Partnerschaft" als Maximalziel gegenüber. Schröder hingegen stellte sich im September 2003 bei einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Berlin wiederholt deutlich hinter die türkischen Beitrittsforderungen. Die Regierung erklärt ihre Position mit sicherheitspolitischen Erwägungen sowie nationalen Interessen. Mit einem Beitritt der Türkei sei die Chance verbunden, die ohnehin engen Wirtschaftsbeziehungen noch zu vertiefen. Die im November 2003 in Istanbul verübten Terroranschläge veranlassten insbesondere Innenminister Otto Schily dazu, sich nachdrücklich für einen Beitritt des Landes auszusprechen. Auch Außenminister Fischer bezeichnete den Beitritt in diesem Zusammenhang als "fast wichtiger als ein Raketenabwehrsystem".
Bei ihrem Besuch in Ankara Mitte Februar diesen Jahres stieß die CDU-Vorsitzende Angela Merkel mit ihrem Konzept der "privilegierten Partnerschaft" auf die Ablehnung der türkischen Regierung. Das selbst unter Christdemokraten nicht unumstrittene Konzept wird von allen übrigen im deutschen Bundestag vertretenen Parteien abgelehnt. Bundeskanzler Schröder, der wenige Tage nach Merkel in die Türkei reiste, unterstrich die Notwendigkeit einer Heranführung der Türkei an die EU mit dem Ziel eines späteren Beitritts. Auch die Bundesregierung geht jedoch davon aus, dass ein solcher erst mittel- bis langfristig (in mehr als 10 Jahren) vollzogen werden kann.
Deutschland und der Euro-Stabilitätspakt: Vom Erfinder zum Totengräber?
Die Forderung nach einem europäischen Pakt für Stabilität und Wachstum wurde 1995 durch den damaligen deutschen Finanzminister Theo Waigel lanciert. Waigels Absicht bestand darin, angesichts der bevorstehenden Währungsunion für die notwendige geldpolitische Stabilität der EU-Mitgliedsstaaten zu sorgen. Der schließlich beschlossene "Stabilitäts- und Wachstumspakt" blieb gar hinter den damals weitergehenden deutschen Forderungen zurück.
In den letzten Jahren war die deutsche Wirtschaft durch eine anhaltende Konjunkturschwäche gekennzeichnet. Aufgestaute Reformen führten zu Lähmungserscheinungen der deutschen Ökonomie. Wie Frankreich wird Deutschland daher im Jahre 2004 zum dritten Mal die Defizitobergrenze des Stabilitätspaktes (maximal 3 Prozent des Bruttosozialproduktes) verletzen. Die haushaltspolitische Glaubwürdigkeit der Bundesregierung wurde von anderen EU-Mitgliedern zunehmend bezweifelt, da Deutschland sich in Kooperation mit Frankreich seit Herbst 2002 um die Aufweichung der einst selbst forcierten Ziele bemüht.
Entgegen anders lautender Versicherungen während des Bundestagswahlkampfs 2002, musste Finanzminister Hans Eichel im Oktober 2002 eingestehen, dass Deutschland im Jahre 2002 erstmals gegen das Defizitkriterium verstoßen würde. Die Brüsseler Reaktion auf die Ankündigung Eichels löste vielerorts Erstaunen aus, da Kommissionspräsident Prodi die Meinung vertrat, dass die Regelungen des Paktes ohnehin zu starr seien.
Ein erster Schritt zur Aufweichung des Defizitkriteriums wurde Anfang November 2002 unternommen. Damals legte Eichel gemeinsam mit dem französischen Finanzminister Vorstellungen zur Verbesserung der Stabilitätspolitik vor. Der Vorschlag zielte darauf ab, dem Defizitkriterium weniger Bedeutung zuzumessen und stattdessen andere Kriterien wie Inflation, Beschäftigung, Schuldenstand und Maßnahmen zur Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme stärker zu berücksichtigen. Jedoch erschien diese Initiative anderen EU-Mitgliedern als "aus der Not heraus" formuliert, da sich in Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits ein zu hohes Haushaltsdefizit abzeichnete und Frankreich ebenfalls in diese Richtung steuerte.
Mitte November 2002 leitete die Europäische Kommission ein Defizitverfahren gegen Deutschland ein. Nachdem im Januar 2003 die zweite Verfahrensstufe eingeleitet worden war, nahm die Bundesregierung wegen des bevorstehenden Irak-Krieges Gespräche mit Frankreich und Großbritannien auf: Auch hier stand wiederum die angestrebte flexible Handhabung des Defizitkriteriums im Mittelpunkt. Schröders Vorschlag lief darauf hinaus, bei derartigen "außergewöhnlichen Ereignissen" dieses Herzstück des Stabilitätspakts vorübergehend auszusetzen.
Da Eichels Budgetkonsolidierungen gescheitert waren, kündigte er im Mai 2003 an, dass Deutschland die Regeln des Paktes 2003 zum zweiten Mal verletzen würde. Zudem sei das Ziel, bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt aufzuweisen, nicht mehr erreichbar. Der damalige Währungskommissar Solbes zeigte sich über die Entwicklung besorgt und forderte von Berlin tiefere Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme.
Wiederholt wurde die Forderung nach einer flexiblen Interpretation des Stabilitätspakts bei einem Treffen von Kommissionspräsident Prodi und Bundeskanzler Schröder im Juli 2003. Jedoch lehnte Prodi es ab, den Pakt einzufrieren oder gar auszusetzen. Gleichsam sprach sich Jacques Chirac im Oktober mit Schröder gegen die "starren" Defizitregeln aus. Die Sparmaßnahmen dürften nicht so weit gehen, dass dadurch der wirtschaftliche Aufschwung in den beiden Ländern gehemmt würde. Somit entstand in einigen EU-Mitgliedstaaten bald der Eindruck einer deutsch-französischen Koalition gegen die fiskalpolitische Disziplin des Paktes.
Anfang November 2003 kam es zur direkten Konfrontation zwischen Berlin und der Kommission. Die Bundesregierung forderte, in konjunkturellen Flautezeiten auf Zwangsmaßnahmen seitens der Kommission zu verzichten und stattdessen Wachstumsinitiativen sowie auch größere Defizite zu erlauben. Ungeachtet dessen drängte die Europäische Kommission Mitte November auf neue Sparauflagen und forderte Berlin zu zusätzlichen Einsparungen in Höhe von mehr als vier Milliarden Euro auf. Der Bundesregierung gelang es jedoch mit Zuckerbrot und Peitsche – und Dank des Umstandes, dass auch andere Länder in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckten – eine hinreichend große Koalition von Staaten gegen Brüssel zu mobilisieren. Am Ende erfuhr die Kommission eine ihrer größten Niederlagen, als der Rat der Finanzminister (ECOFIN) sich den deutschen Forderungen anschloss, Sanktionen gegen Berlin (zumindest vorläufig) auszuschließen und das Defizitverfahren auszusetzen. Frankreich und Deutschland werden 2004 nun schon zum dritten Mal das Defizitkriterium verletzen. Mit dieser Entscheidung ist der Streit jedoch keineswegs beendet. Mitte Januar 2004 beschloss die EU-Kommission, beim EuGH Klage gegen den Ecofin-Rat zu erheben während die bisher bestehenden unterschiedlichen Auffassungen zur Auslegung des Paktes nicht beseitigt wurden. Insbesondere einige kleinere EU-Staaten haben das vorgehen Frankreichs und Deutschlands heftig kritisiert. Auch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber kritisierte den Rollenwandel Deutschlands "vom Erfinder des Stabilitätspakts zum Totengräber". Nachdem mit dem Urteil des EuGH der Beschluss des Ministerrats annulliert wurde, wird sich in einer neuen Diskussion zeigen müssen, ob sich der Stabilitätspakt wiederbeleben lässt.
Eine neue Qualität in der Justiz- und Innenpolitik
Die Terroranschläge des 11. September rückten die bisher eher bescheidenen gemeinsamen europäischen Ansätze im Bereich Justiz und Inneres ins öffentliche Rampenlicht. Bereits unmittelbar nach den Anschlägen verabschiedeten die EU-Staaten einen gemeinsamen Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung. Dieser Aktionsplan stellte zugleich den ersten substantiellen Schritt zu einer europäischen Anti-Terrorpolitik dar (wenngleich die deutsche Anti-Terrorpolitik bereits zuvor auf die europäische Kooperation ausgerichtet war). Der Aktionsplan sieht im Kern einen umfassenden Katalog von Maßnahmen vor, welche die Mitgliedsstaaten umzusetzen haben. Die Umsetzung erfolgte jedoch lange Zeit sehr schleppend. Erst die Anschläge auf die Madrider Züge am 11. März 2004 erzeugten den nötigen Handlungsdruck um die gemeinsamen Maßnahmen weiter voran zu treiben. Neben den unmittelbaren Maßnahmen gegen den Terrorismus wurde auch die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik von den Ereignissen des 11. September 2001 stark beeinflusst. Während die Bundesregierung die Herausbildung einer europäischen Anti-Terrorpolitik auch mit eigenen Initiativen stark unterstützte, zog sie – gerade auch vor dem Hintergrund der teilweise emotional geführten innenpolitischen Debatte - im Bereich der Einwanderungspolitik eigene "rote Linien", die auf der EU-Ebene nach Ansicht Berlins nicht überschritten werden durften.
Deutsche Unterstützung für die europäische Anti-Terrorpolitik
Nach den Terroranschlägen von Madrid fand auf Initiative des deutschen Innenministers Otto Schily am 19. März diesen Jahres eine Eilkonferenz der EU-Innenminister statt. Schily drängte bei diesem Gipfel darauf, nicht nur die alten, nach den Anschlägen des 11. Septembers gefassten Beschlüsse zu bekräftigen, sondern auch weitere, neue Maßnahmen zu initiieren. So unterstützte der Innenminister etwa das Vorhaben, einen Anti-Terror-Beauftragten der EU einzusetzen. Der weitgehende belgisch-österreichische Vorschlag zur Schaffung eines europäischen Geheimdienstes wurde jedoch von Berlin abgelehnt, da die vollständige Übergabe deutscher Geheimdienstinformationen an die EU-Ebene nicht unterstützt wird. Am 25. März verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs einen neuen Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung. Dieser zielt primär auf eine bessere Nutzung schon bestehender Strukturen ab (sah jedoch auch die Einsetzung eines Anti-Terror-Beauftragten der EU vor). Weiterhin kam Schily Ende Mai 2004 mit den Innenministern Österreichs, Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande überein, in den Bereichen der Terrorismusbekämpfung, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Immigration enger zu kooperieren. Eine entsprechende Konvention über die engere Zusammenarbeit soll noch in diesem Jahr unterzeichnet werden, wobei diese "Kooperation der Fünf" ausdrücklich offen für den Anschluss der übrigen EU-Staaten sein soll.
Auch auf nationaler Ebene zeigte der 11. März Wirkung: So konnte etwa im Frühjahr 2004 eine Einigung über den Europäischen Haftbefehl erzielt werden. Die als Reaktion auf die Anschläge des 11. September beschlossene Regelung sollte ursprünglich zum 1. Januar 2004 EU-weit in Kraft treten. Deutschland sowie sechs weitere Mitgliedsstaaten jedoch verfehlten diese Vorgabe. Obgleich der Rahmenbeschluss des Ministerrats zum Europäischen Haftbefehl bereits im Juni 2002 ergangen war, kam es in Deutschland erst nach den Madrider Anschlägen wieder zu einer verstärkten Diskussion. Nachdem der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat die Materie am Tag der Madrider Anschläge überwiesen bekommen hatte, wurde das Gesetz zur Umsetzung der europäischen Vorgabe am 16. Juni diesen Jahres verabschiedet.
EU-Asylrecht: Verabschiedung trotz deutscher Vorbehalte
Nach mehrjähriger Diskussion wurde am 28. April 2004 eine gemeinsame europäische Asylpolitik verabschiedet. Der 28. April stellt den vorläufigen Schlusspunkt eines hindernisreichen Prozesses dar, der 1999 in Helsinki begonnen hatte. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einem europäischen Asylrecht war die im Juni 2003 auf dem Ratsgipfel von Thessaloniki erzielte Einigung auf ein Visa-Informationssystem (VIS) sowie auf die Aufstockung der finanziellen Mittel in diesem Politikbereich um mehr als 100 Millionen Euro. Durch die gemeinsame Datenbank für Visumsanträge soll Betrug bei Einreisegenehmigungen mit Hilfe biometrischer Daten bekämpft werden. Auch wurde die striktere Überwachung der EU-Außengrenzen beschlossen. Im November 2003 konkretisierten die EU-Innenminister diesen Beschluss und einigten sich auf die von Innenminister Schily initiierte "Grenzschutzagentur", welche neben Europol die zweite europäische polizeiliche Sicherheitsbehörde sein wird.
Ein weiterer Schritt in Richtung eines gemeinsamen Asylrechts konnte Ende März 2004 mit der Einigung auf einen gemeinsamen Flüchtlingsbegriff erzielt werden. Der im Brüsseler Entwurf verankerte Asylgrund der "nichtstaatlichen Verfolgung" gehört bislang nicht zum deutschen Recht, weshalb sich Innenminister Schily zunächst gegen eine solche Regelung gesperrt hatte, später jedoch einlenkte. Was den Zugang von Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt betrifft, so entschieden die EU-Innenminister im Sinne der Bundesregierung, die Bestimmungen darüber in nationaler Hand zu belassen. Der Schutz des nationalen Arbeitsmarktes zählt zu den Hauptanliegen Berlins in der Einwanderungspolitik. In den übrigen Bereichen wird mit Inkrafttreten des gemeinsamen Asylrechts im Rat mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden.
Letztlich konnte die Einigung auf das gemeinsame Asylrecht jedoch erst nach der Übereinkunft über die so genannte Drittstaatenregelung erzielt werden. Auch bei diesem letzten Baustein zeigte sich die Bundesregierung sehr bestimmt in ihren Forderungen. Die Einführung dieser Regelung ermöglicht es den Behörden, Asylbewerber abzuweisen, ohne sich überhaupt mit deren Antrag zu befassen, falls sich die Antragssteller in einem als sicherem Drittstaat definierten Land befinden. Die erwünschte Festlegung einer Liste von sicheren Drittstaaten, wie sie im deutschen Asylrecht vorzufinden ist, war jedoch nicht durchsetzbar. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl haben die neuen gemeinsamen europäischen Asylrechtsbestimmungen heftig kritisiert, da sie eine Aufweichung bestehender nationaler Schutzstandards über den europäischen "Umweg" befürchten.
Fazit
Deutsch-französische Initiativen stellen nach wie vor ein prägendes Element des europäischen Integrationsprozesses dar. Dies zeigte sich in den vergangenen zwei Jahren insbesondere während der Verhandlungen um einen Verfassungsvertrag, in der Erweiterungspolitik sowie auch im Zusammenhang mit dem Euro-Stabilitätspakt. Im Verhandlungsprozess zu einer Europäischen Verfassung war die Bundesregierung v.a. unter der Ägide des deutschen Außenministers darum bemüht, die institutionelle Handlungsfähigkeit der EU auch unter den Bedingungen der Erweiterung zu gewährleisten. Auch mit der expliziten Unterstützung der Beitritte Bulgariens, Rumäniens, Kroatiens und der Türkei spielt Deutschland weiterhin der Rolle des "Anwaltes" der Beitrittsstaaten (auch der kleineren). Schließlich trat die Bundesrepublik unter rot-grün als Motor einer gemeinschaftlichen Anti-Terrorpolitik in Erscheinung.
Gleichzeitig wurde in den vergangenen zwei bis drei Jahren deutlich, wie sehr insbesondere der deutsch-französische Integrationsmotor im vergleich zu früheren Zeiten an Kraft verloren hat. Seit den Vorwehen der Irak-Krise ist eine Proliferation von Koalitionen und Gegenkoalitionen (zu zweit, zu dritt oder in anderen 'minilateralen’ Formationen) in der Europäischen Union zu beobachten. Berlin und Paris sind offensichtlich immer weniger in der Lage, gemeinsam eine Führerschaft zu übernehmen, der andere – gerade auch die kleinen Mitgliedsstaaten – folgen wollen. Die deutschen Drohungen mit "Kerneuropa" und "Haushaltsdeckelung" haben in dieser Hinsicht eher kontraproduktiv gewirkt. Stattdessen haben sowohl Deutschland als auch Frankreich durch ihre Politik gegenüber dem Euro-Stabilitätspakt an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Es erschiene verfrüht, daraus gleich die Abkehr der bundesdeutschen Europapolitik von ihrem traditionell integrationsfreundlichen Kurs zu konstatieren. Deutschland muss seine Position im erweiterten Europa jedoch erst noch (wieder-)finden.
Inwiefern kann es Deutschland angesichts dieser neuen Herausforderungen noch gelingen, seinen Status als "Vorreiter" der europäischen Integration aufrecht zu erhalten? Die insbesondere von kleineren Mitgliedstaaten vorgetragenen Ängste vor einem europäischen "Direktorium" während der Verhandlungen über eine europäische Verfassung haben diese Frage in aller Deutlichkeit aufgeworfen. Gleiches gilt für noch offene Streitpunke im Zusammenhang mit der jüngsten Erweiterung sowie für die EU-weit kritisierte deutsche Politik gegenüber dem Wachstums- und Stabilitätspakt.
Deutschlands Position im Verfassungskonvent
Der Europäische Verfassungskonvent geht auf einen Vorschlag des deutschen Außenministers Joschka Fischer zurück. In seinem Vortrag vom Mai 2000 an der Berliner Humboldt-Universität gab Fischer die erste Anregung dazu, einen europäischen Verfassungsvertrag zu erarbeiten. Der Konvent nahm seine Arbeit – die am Ende fast anderthalb Jahre dauern sollte - Anfang 2002 unter Federführung seines Präsidenten, Valéry Giscard d’Estaing, auf. Erfolgreich abgeschlossen wurden die Verhandlungen zu einer Europäischen Verfassung von den Staats- und Regierungschefs mit der Einigung unter der irischen Ratspräsidentschaft im Juni 2004. Nun muss der Vertragstext noch in den 25 Mitgliedstaaten ratifiziert werden.
Nachdem das Konventspräsidium im Oktober 2002 einen ersten Gerüstentwurf zur Europäischen Verfassung vorgelegt hatte, brachten Außenminister Fischer und sein französischer Kollege de Villepin am 15. Januar 2003 einen gemeinsamen Beitrag ein, in dem sie ihre Vorstellungen von der "institutionellen Architektur" der zukünftigen EU darlegten. Dieser Beitrag stellte die bedeutendste Initiative der Bundesrepublik in der frühen Phase der Konventsverhandlungen dar. Der Beitrag enthält den Vorschlag, eine Doppelspitze zur Führung der Europäischen Union zu schaffen. Daher war neben der Stärkung des Kommissionspräsidenten vorgesehen, einen ständigen Präsidenten des Europäischen Rates einzusetzen. Die vorgesehene Doppelspitze ergab sich dabei als ein Kompromiss zwischen der französischen und der deutschen Position: Während Deutschland vor allem die Stärkung der Europäischen Kommission als Gemeinschaftsinstitution befürwortete, wollte Frankreich die permanente Ratspräsidentschaft (anstelle der halbjährlich rotierenden) ins Leben rufen. Dieser Schritt zielte auf die Stärkung der Mitgliedstaaten gegenüber der Gemeinschaft ab. Darüber hinaus enthielt das gemeinsame Papier den (ursprünglich deutschen) Vorschlag, den Posten eines europäischen Außenministers zu schaffen, der die bisher getrennten Funktionen des Hohen Vertreters für die GASP und des Kommissars für externe Beziehungen verschmelzen sollte. Damit, so die Absicht, würde die EU ein noch klareres "Gesicht" nach außen bekommen. Im Bereich der GASP war zudem vorgesehen, Beschlüsse künftig mit qualifizierter Mehrheit zu fassen. Für den Bereich der ESVP sollte die verstärkte Zusammenarbeit einer Gruppe von Staaten ermöglicht werden (vgl. das Hintergrundpapier zur deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik). Schließlich sollte auch das europäische Parlament deutlich in seinen Rechten gestärkt werden.
Viele der gemeinsamen deutsch-französischen Vorschläge fanden sich im späteren Verfassungsentwurf wieder. Nicht durchsetzen konnte sich Deutschland jedoch mit der Forderung nach qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Da Berlin im Bereich der Einwanderungspolitik selbst am Einstimmigkeitsprinzip festhielt, büßte Deutschland auch an europapolitischer Glaubwürdigkeit in anderen Bereichen ein.
Am 18. Juli 2003 wurde der Verfassungsentwurf des Konvents in Rom der italienischen Ratspräsidentschaft überreicht. Schon im Vorfeld hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder davor gewarnt, das erarbeitete Paket wieder aufzuschnüren. Auch Fischer hatte in einer Regierungserklärung seine Zufriedenheit mit dem Konventsergebnis bekundet, auch wenn nicht alle deutschen Wünsche durchgesetzt werden konnten. Er bewertete das Konventsergebnis als bedeutenden Integrationssprung.
Deutschlands Position in den Regierungskonferenzen
Während der am 4. Oktober 2003 eröffneten Regierungskonferenz zeichneten sich deutliche Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich auf der einen Seite sowie Spanien und Polen auf der anderen Seite über die Ausgestaltung des zukünftigen Stimmverfahrens im Ministerrat ab. Die beiden letztgenannten Länder bestanden darauf, die im Nizza-Vertrag festgelegte Stimmengewichtung beizubehalten, da diese ihnen gemessen an ihrer Bevölkerungsgröße überproportionalen Einfluss sichert. Dagegen trat die Bundesregierung vehement für das Prinzip der "doppelten Mehrheit" ein, welches die Größe der nationalen Bevölkerungen mit in die Stimmgewichtung einbezog. Dieser Dissenz führte maßgeblich zum Scheitern der Verhandlungen beim Gipfel des Europäischen Rates in Brüssel im Dezember 2003. Die Bundesregierung zog nach eigenem Bekunden den "heilsamen Schock" des Scheiterns dem Beschluss von verwässerten Formelkompromissen vor.
Schwieriger Weg zur Einigung: Berlin erprobt sein Drohpotenzial
Im Anschluss an die Brüsseler Verhandlungen drohte Deutschland gemeinsam mit den fünf weiteren "Nettozahlern" der EU, die Ausgaben der Europäischen Union in der bevorstehenden Haushaltsperiode von 2007 bis 2013 auf maximal ein Prozent des EU-weiten Bruttosozialprodukts zu begrenzen. Diese Drohung richtete sich recht unverhohlen gegen Spanien und Polen. Als weiteres Druckmittel brachte die Bundeskanzler Schröder erneut die Idee eines "Kerneuropas" in die Debatte. Wenn die EU unfähig sei, sich mit der Verfassung an die Gegebenheiten der Erweiterung anzupassen, dann müsse es einer Gruppe von besonders kooperationswilligen Staaten gestattet sein, auch alleine voranzuschreiten. De facto wurde eine verstärkte Zusammenarbeit seit einiger Zeit bereits von Deutschland, Frankreich und Großbritannien betrieben. Diese engere Kooperation erfolgte vor allem durch regelmäßig stattfindende "Dreiergipfel". Einem solchen im Februar 2004 abgehaltenen Minigipfel wurde die harsche Kritik kleinerer Mitgliedsstaaten sowie Italiens zuteil. Die Vertreter dieser Staaten befürchteten die Bildung eines Direktoriums der "Großen Drei", welches sie kategorisch ablehnten. Die Bundesregierung handelte in dieser Frage jedoch nicht geschlossen. Außenminister Fischer distanzierte sich Anfang März 2004 von der Kerneuropa-Konzeption, die er selbst noch in der erwähnten Humboldtrede unterstützt hatte. Als Hintergrund dieses Positionswandels, den Fischer in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Zeitung offen legte, wird vermutet, dass Fischer den Glauben an ein funktionierendes, homogenes Gravitationszentrum in der EU aufgab hat und stattdessen den Zerfall in lose, wechselnde Koalitionen befürchtete. Als sich nach der Wahl in Spanien (in Madrid kam unter dem Sozialisten Zapatero überraschend eine integrationsfreundlichere Regierung an die Macht) dann doch ein Kompromiss über die Verfassung unter der irischen Ratspräsidentschaft abzuzeichnen begann, setzte auch der Bundeskanzler wieder verstärkt auf ein gemeinsames Voranschreiten der EU-25.
Obwohl weiterhin von verschiedenen Ländern so genannte "rote Linien" öffentlichkeitswirksam vertreten wurden (so bspw. von Großbritannien in der Sozialpoltik), konnte auf dem Europäischen Ratsgipfel in Dublin am 18. Juni eine Einigung erzielt werden. Hinsichtlich der doppelten Mehrheit kam man überein, dass diese gegeben sei, wenn eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsstaaten sowie gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmten, was eine Aufweichung von der im Konventsentwurf festgehaltenen 50/60-Formel darstellt. Die Zukunft des Verfassungsvertrages liegt nun in den Händen der Mitgliedsstaaten, die diesen nun zu ratifizieren haben.
Die Erweiterung der Europäischen Union - Offene Fragen der abgeschlossenen Runde
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts vertrat Deutschland gegenüber den mittelosteuropäischen Ländern stets einen Kurs, der auf einen möglichst raschen Beitritt zur EU abzielt. Am 1. Mai 2004 konnte mit dem Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn und Zypern nach Jahren der Vorbereitung die größte aller bisherigen Erweiterungen abgeschlossen werden. Doch mit diesem Schritt ist die Erweiterungsthematik innerhalb der EU noch nicht vom Tisch, da eine Reihe weiterer Staaten (Bulgarien, Rumänien, Staaten des westlichen Balkans, Türkei) den EU-Beitritt ansteuert.
Die bis Ende 2002 offen gebliebene Frage der Finanzierung des Beitritts der ersten zehn Staaten konnte auf dem Kopenhagener Ratsgipfel im Dezember 2002 durch einen Kompromiss zwischen Deutschland und Frankreich gelöst werden. Das besondere Anliegen Deutschlands, die Agrarausgaben zu stabilisieren, wurde von den Staats- und Regierungschefs angenommen. Die Ausgaben für den Bereich Landwirtschaft werden daher ab 2007 nur noch im Sinne des Inflationsausgleichs steigen.
Kaum ein wichtiger deutscher Politiker hat es seither versäumt, die historische Bedeutung der Aufnahme der neuen Mitgliedstaaten in die EU hervorzuheben. So auch Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung am 30. April 2004. Dennoch bleiben noch eine Reihe konkreter Probleme bestehen. Dazu zählt insbesondere die Frage der mittelfristigen Finanzplanung bis 2013. Die nach dem vorläufigen Scheitern der Verfassungsverhandlungen im Januar ins Spiel gebrachte "Deckelung" des Haushalts ist noch immer im Gespräch. Der Abschluss der Finanzverhandlungen wird als sehr schwierig eingeschätzt. Die Bundesregierung will verhindern, dass die Aufnahme zumeist strukturschwacher neuer Regionen in die EU bei gleichzeitig fortdauernder Förderung der "alten" Förderregionen einzig auf Kosten der Nettobeitragszahler erfolgen wird. In jüngster Zeit warfen darüber hinaus insbesondere deutsche Regierungsvertreter den neuen EU-Mitgliedstaaten Steuerdumping vor. Ein Verzicht auf Steuereinnahmen bei gleichzeitiger Verwendung von EU-Geldern zum Aufbau von Infrastruktur könne von den EU-Nettozahlern nicht mitgetragen werden, so das offizielle Berlin. Die Verhinderung von Steuerdumping ist auch der Kern einer geplanten deutsch-französischen Initiative, welche auf eine langfristige Einführung einheitlicher Mindeststeuersätze abzielt.
Zukünftige Erweiterungen: Rumänien, Bulgarien und westlicher Balkan
Auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002 wurde auch ein positives Signal an die weiteren Beitrittsanwärter Rumänien und Bulgarien gesandt: Unter Kenntnisnahme ihrer Reformfortschritte wurde das anzustrebende Beitrittsdatum auf 2007 festgelegt. Außenminister Fischer hatte sich im Vorfeld des Gipfels für diesen Zeitpunkt sowie für eine verstärkte Heranführungsstrategie ausgesprochen. Auf dem Brüsseler Gipfel von Dezember 2003 wurde die Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit Rumänien und Bulgarien auf spätestens Ende 2005 terminiert, so dass der Beitritt spätestens im Januar 2007 erfolgen kann. Auf dem Dubliner Gipfel im Juni 2004 wurde dieses Datum bekräftigt und der Abschluss der Verhandlungen mit Bulgarien bekannt gegeben.
Doch hiermit schließt sich die Liste der Beitrittsanwärter noch nicht: Im Februar 2003 richtete Kroatien einen Antrag auf Mitgliedschaft an die EU-Kommission. Dass die Bundesregierung weitere Erweiterungen anstrebt, zeigte sich bei Schröders Balkan-Besuch Ende Oktober 2003. Der Bundeskanzler würdigte die Reformanstrengungen des damaligen kroatischen Premiers Racan und stellte Kroatiens Entwicklung auf eine Stufe mit jener Bulgariens und Rumäniens. Daher sicherte Schröder Kroatien Unterstützung für das Beitrittsgesuch zu. Auch in Serbien und Montenegro lobte er den jeweils eingeschlagenen Stabilisierungsprozess. Mit dem serbischen Präsidenten Zirkovic kam er überein, dass eine Heranführung des Landes an die EU notwendig sei und sicherte ihm seine Unterstützung zu. Kurzfristig wird nun ein Assoziierungsabkommen angestrebt. Aus Sicht der Bundesregierung wäre ein Beitritt Kroatiens wesentlicher Baustein einer Gesamtstrategie zur Stabilisierung des westlichen Balkans. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit Kroatien wurde im Juni 2004 in Dublin beschlossen.
Innenpolitisch äußerst umstritten: Die Beitrittsperspektive der Türkei
Bereits im 1963 zwischen der EG und der Türkei abgeschlossenen Assoziierungsabkommen wurde dem islamisch geprägten Staat die Perspektive der späteren Vollmitgliedschaft in der EG/EU eröffnet. Seit 1999 besitzt die Türkei offiziell den Status eines Beitrittkandidaten. Wenngleich schon Altbundeskanzler Kohl die Annäherung der Türkei an die EU förderte, hegte er doch die Vorstellung von einer christlichen Wertegemeinschaft der EU. Die rot-grüne Koalition hingegen unterstützt einen türkischen EU-Beitritt mit bislang ungekannter Deutlichkeit. Der "türkeifreundliche" Kurs der derzeitigen Bundesregierung hängt auch mit dem gesteigerten strategischen Gewicht der Türkei zusammen, welches sich aus den Terroranschlägen des 11. September 2001 ergeben hatte.
Auf dem EU-Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002 eröffneten die Staats- und Regierungschef der Türkei die Perspektive, im Jahre 2005 Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Ende 2004 wird der Europäische Rat auf der Grundlage eines Berichtes der Kommission über die Reformfortschritte Ankaras darüber zu befinden haben, ob die Verhandlungsphase tatsächlich zu diesem Zeitpunkt eröffnet werden kann. Der Kopenhagener Beschluss beruht auf einem gemeinsamen Vorschlag Deutschlands und Frankreichs, welche auch im unmittelbaren Vorfeld der Regierungskonferenz auf ein positives Signal an die Türkei hingearbeitet hatten. Bundeskanzler Gerhard Schröder vertrat öffentlich stets die Auffassung, dass sich der Beitritt der Türkei ausschließlich am Maßstab der Erfüllung der 1993 formulierten Kopenhagener Kriterien zu entscheiden habe. Dagegen hat die CDU/CSU gegenwärtig eine deutlich ablehnende Position bezogen. Mit Hinweis auf eine Überdehnung der EU sowie der Betonung kultureller Grenzen stellte die CDU/CSU einer Vollmitgliedschaft der Türkein das nachrangige Konzept einer "privilegierten Partnerschaft" als Maximalziel gegenüber. Schröder hingegen stellte sich im September 2003 bei einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Berlin wiederholt deutlich hinter die türkischen Beitrittsforderungen. Die Regierung erklärt ihre Position mit sicherheitspolitischen Erwägungen sowie nationalen Interessen. Mit einem Beitritt der Türkei sei die Chance verbunden, die ohnehin engen Wirtschaftsbeziehungen noch zu vertiefen. Die im November 2003 in Istanbul verübten Terroranschläge veranlassten insbesondere Innenminister Otto Schily dazu, sich nachdrücklich für einen Beitritt des Landes auszusprechen. Auch Außenminister Fischer bezeichnete den Beitritt in diesem Zusammenhang als "fast wichtiger als ein Raketenabwehrsystem".
Bei ihrem Besuch in Ankara Mitte Februar diesen Jahres stieß die CDU-Vorsitzende Angela Merkel mit ihrem Konzept der "privilegierten Partnerschaft" auf die Ablehnung der türkischen Regierung. Das selbst unter Christdemokraten nicht unumstrittene Konzept wird von allen übrigen im deutschen Bundestag vertretenen Parteien abgelehnt. Bundeskanzler Schröder, der wenige Tage nach Merkel in die Türkei reiste, unterstrich die Notwendigkeit einer Heranführung der Türkei an die EU mit dem Ziel eines späteren Beitritts. Auch die Bundesregierung geht jedoch davon aus, dass ein solcher erst mittel- bis langfristig (in mehr als 10 Jahren) vollzogen werden kann.
Deutschland und der Euro-Stabilitätspakt: Vom Erfinder zum Totengräber?
Die Forderung nach einem europäischen Pakt für Stabilität und Wachstum wurde 1995 durch den damaligen deutschen Finanzminister Theo Waigel lanciert. Waigels Absicht bestand darin, angesichts der bevorstehenden Währungsunion für die notwendige geldpolitische Stabilität der EU-Mitgliedsstaaten zu sorgen. Der schließlich beschlossene "Stabilitäts- und Wachstumspakt" blieb gar hinter den damals weitergehenden deutschen Forderungen zurück.
In den letzten Jahren war die deutsche Wirtschaft durch eine anhaltende Konjunkturschwäche gekennzeichnet. Aufgestaute Reformen führten zu Lähmungserscheinungen der deutschen Ökonomie. Wie Frankreich wird Deutschland daher im Jahre 2004 zum dritten Mal die Defizitobergrenze des Stabilitätspaktes (maximal 3 Prozent des Bruttosozialproduktes) verletzen. Die haushaltspolitische Glaubwürdigkeit der Bundesregierung wurde von anderen EU-Mitgliedern zunehmend bezweifelt, da Deutschland sich in Kooperation mit Frankreich seit Herbst 2002 um die Aufweichung der einst selbst forcierten Ziele bemüht.
Entgegen anders lautender Versicherungen während des Bundestagswahlkampfs 2002, musste Finanzminister Hans Eichel im Oktober 2002 eingestehen, dass Deutschland im Jahre 2002 erstmals gegen das Defizitkriterium verstoßen würde. Die Brüsseler Reaktion auf die Ankündigung Eichels löste vielerorts Erstaunen aus, da Kommissionspräsident Prodi die Meinung vertrat, dass die Regelungen des Paktes ohnehin zu starr seien.
Ein erster Schritt zur Aufweichung des Defizitkriteriums wurde Anfang November 2002 unternommen. Damals legte Eichel gemeinsam mit dem französischen Finanzminister Vorstellungen zur Verbesserung der Stabilitätspolitik vor. Der Vorschlag zielte darauf ab, dem Defizitkriterium weniger Bedeutung zuzumessen und stattdessen andere Kriterien wie Inflation, Beschäftigung, Schuldenstand und Maßnahmen zur Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme stärker zu berücksichtigen. Jedoch erschien diese Initiative anderen EU-Mitgliedern als "aus der Not heraus" formuliert, da sich in Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits ein zu hohes Haushaltsdefizit abzeichnete und Frankreich ebenfalls in diese Richtung steuerte.
Mitte November 2002 leitete die Europäische Kommission ein Defizitverfahren gegen Deutschland ein. Nachdem im Januar 2003 die zweite Verfahrensstufe eingeleitet worden war, nahm die Bundesregierung wegen des bevorstehenden Irak-Krieges Gespräche mit Frankreich und Großbritannien auf: Auch hier stand wiederum die angestrebte flexible Handhabung des Defizitkriteriums im Mittelpunkt. Schröders Vorschlag lief darauf hinaus, bei derartigen "außergewöhnlichen Ereignissen" dieses Herzstück des Stabilitätspakts vorübergehend auszusetzen.
Da Eichels Budgetkonsolidierungen gescheitert waren, kündigte er im Mai 2003 an, dass Deutschland die Regeln des Paktes 2003 zum zweiten Mal verletzen würde. Zudem sei das Ziel, bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt aufzuweisen, nicht mehr erreichbar. Der damalige Währungskommissar Solbes zeigte sich über die Entwicklung besorgt und forderte von Berlin tiefere Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme.
Wiederholt wurde die Forderung nach einer flexiblen Interpretation des Stabilitätspakts bei einem Treffen von Kommissionspräsident Prodi und Bundeskanzler Schröder im Juli 2003. Jedoch lehnte Prodi es ab, den Pakt einzufrieren oder gar auszusetzen. Gleichsam sprach sich Jacques Chirac im Oktober mit Schröder gegen die "starren" Defizitregeln aus. Die Sparmaßnahmen dürften nicht so weit gehen, dass dadurch der wirtschaftliche Aufschwung in den beiden Ländern gehemmt würde. Somit entstand in einigen EU-Mitgliedstaaten bald der Eindruck einer deutsch-französischen Koalition gegen die fiskalpolitische Disziplin des Paktes.
Anfang November 2003 kam es zur direkten Konfrontation zwischen Berlin und der Kommission. Die Bundesregierung forderte, in konjunkturellen Flautezeiten auf Zwangsmaßnahmen seitens der Kommission zu verzichten und stattdessen Wachstumsinitiativen sowie auch größere Defizite zu erlauben. Ungeachtet dessen drängte die Europäische Kommission Mitte November auf neue Sparauflagen und forderte Berlin zu zusätzlichen Einsparungen in Höhe von mehr als vier Milliarden Euro auf. Der Bundesregierung gelang es jedoch mit Zuckerbrot und Peitsche – und Dank des Umstandes, dass auch andere Länder in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckten – eine hinreichend große Koalition von Staaten gegen Brüssel zu mobilisieren. Am Ende erfuhr die Kommission eine ihrer größten Niederlagen, als der Rat der Finanzminister (ECOFIN) sich den deutschen Forderungen anschloss, Sanktionen gegen Berlin (zumindest vorläufig) auszuschließen und das Defizitverfahren auszusetzen. Frankreich und Deutschland werden 2004 nun schon zum dritten Mal das Defizitkriterium verletzen. Mit dieser Entscheidung ist der Streit jedoch keineswegs beendet. Mitte Januar 2004 beschloss die EU-Kommission, beim EuGH Klage gegen den Ecofin-Rat zu erheben während die bisher bestehenden unterschiedlichen Auffassungen zur Auslegung des Paktes nicht beseitigt wurden. Insbesondere einige kleinere EU-Staaten haben das vorgehen Frankreichs und Deutschlands heftig kritisiert. Auch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber kritisierte den Rollenwandel Deutschlands "vom Erfinder des Stabilitätspakts zum Totengräber". Nachdem mit dem Urteil des EuGH der Beschluss des Ministerrats annulliert wurde, wird sich in einer neuen Diskussion zeigen müssen, ob sich der Stabilitätspakt wiederbeleben lässt.
Eine neue Qualität in der Justiz- und Innenpolitik
Die Terroranschläge des 11. September rückten die bisher eher bescheidenen gemeinsamen europäischen Ansätze im Bereich Justiz und Inneres ins öffentliche Rampenlicht. Bereits unmittelbar nach den Anschlägen verabschiedeten die EU-Staaten einen gemeinsamen Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung. Dieser Aktionsplan stellte zugleich den ersten substantiellen Schritt zu einer europäischen Anti-Terrorpolitik dar (wenngleich die deutsche Anti-Terrorpolitik bereits zuvor auf die europäische Kooperation ausgerichtet war). Der Aktionsplan sieht im Kern einen umfassenden Katalog von Maßnahmen vor, welche die Mitgliedsstaaten umzusetzen haben. Die Umsetzung erfolgte jedoch lange Zeit sehr schleppend. Erst die Anschläge auf die Madrider Züge am 11. März 2004 erzeugten den nötigen Handlungsdruck um die gemeinsamen Maßnahmen weiter voran zu treiben. Neben den unmittelbaren Maßnahmen gegen den Terrorismus wurde auch die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik von den Ereignissen des 11. September 2001 stark beeinflusst. Während die Bundesregierung die Herausbildung einer europäischen Anti-Terrorpolitik auch mit eigenen Initiativen stark unterstützte, zog sie – gerade auch vor dem Hintergrund der teilweise emotional geführten innenpolitischen Debatte - im Bereich der Einwanderungspolitik eigene "rote Linien", die auf der EU-Ebene nach Ansicht Berlins nicht überschritten werden durften.
Deutsche Unterstützung für die europäische Anti-Terrorpolitik
Nach den Terroranschlägen von Madrid fand auf Initiative des deutschen Innenministers Otto Schily am 19. März diesen Jahres eine Eilkonferenz der EU-Innenminister statt. Schily drängte bei diesem Gipfel darauf, nicht nur die alten, nach den Anschlägen des 11. Septembers gefassten Beschlüsse zu bekräftigen, sondern auch weitere, neue Maßnahmen zu initiieren. So unterstützte der Innenminister etwa das Vorhaben, einen Anti-Terror-Beauftragten der EU einzusetzen. Der weitgehende belgisch-österreichische Vorschlag zur Schaffung eines europäischen Geheimdienstes wurde jedoch von Berlin abgelehnt, da die vollständige Übergabe deutscher Geheimdienstinformationen an die EU-Ebene nicht unterstützt wird. Am 25. März verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs einen neuen Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung. Dieser zielt primär auf eine bessere Nutzung schon bestehender Strukturen ab (sah jedoch auch die Einsetzung eines Anti-Terror-Beauftragten der EU vor). Weiterhin kam Schily Ende Mai 2004 mit den Innenministern Österreichs, Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande überein, in den Bereichen der Terrorismusbekämpfung, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Immigration enger zu kooperieren. Eine entsprechende Konvention über die engere Zusammenarbeit soll noch in diesem Jahr unterzeichnet werden, wobei diese "Kooperation der Fünf" ausdrücklich offen für den Anschluss der übrigen EU-Staaten sein soll.
Auch auf nationaler Ebene zeigte der 11. März Wirkung: So konnte etwa im Frühjahr 2004 eine Einigung über den Europäischen Haftbefehl erzielt werden. Die als Reaktion auf die Anschläge des 11. September beschlossene Regelung sollte ursprünglich zum 1. Januar 2004 EU-weit in Kraft treten. Deutschland sowie sechs weitere Mitgliedsstaaten jedoch verfehlten diese Vorgabe. Obgleich der Rahmenbeschluss des Ministerrats zum Europäischen Haftbefehl bereits im Juni 2002 ergangen war, kam es in Deutschland erst nach den Madrider Anschlägen wieder zu einer verstärkten Diskussion. Nachdem der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat die Materie am Tag der Madrider Anschläge überwiesen bekommen hatte, wurde das Gesetz zur Umsetzung der europäischen Vorgabe am 16. Juni diesen Jahres verabschiedet.
EU-Asylrecht: Verabschiedung trotz deutscher Vorbehalte
Nach mehrjähriger Diskussion wurde am 28. April 2004 eine gemeinsame europäische Asylpolitik verabschiedet. Der 28. April stellt den vorläufigen Schlusspunkt eines hindernisreichen Prozesses dar, der 1999 in Helsinki begonnen hatte. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einem europäischen Asylrecht war die im Juni 2003 auf dem Ratsgipfel von Thessaloniki erzielte Einigung auf ein Visa-Informationssystem (VIS) sowie auf die Aufstockung der finanziellen Mittel in diesem Politikbereich um mehr als 100 Millionen Euro. Durch die gemeinsame Datenbank für Visumsanträge soll Betrug bei Einreisegenehmigungen mit Hilfe biometrischer Daten bekämpft werden. Auch wurde die striktere Überwachung der EU-Außengrenzen beschlossen. Im November 2003 konkretisierten die EU-Innenminister diesen Beschluss und einigten sich auf die von Innenminister Schily initiierte "Grenzschutzagentur", welche neben Europol die zweite europäische polizeiliche Sicherheitsbehörde sein wird.
Ein weiterer Schritt in Richtung eines gemeinsamen Asylrechts konnte Ende März 2004 mit der Einigung auf einen gemeinsamen Flüchtlingsbegriff erzielt werden. Der im Brüsseler Entwurf verankerte Asylgrund der "nichtstaatlichen Verfolgung" gehört bislang nicht zum deutschen Recht, weshalb sich Innenminister Schily zunächst gegen eine solche Regelung gesperrt hatte, später jedoch einlenkte. Was den Zugang von Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt betrifft, so entschieden die EU-Innenminister im Sinne der Bundesregierung, die Bestimmungen darüber in nationaler Hand zu belassen. Der Schutz des nationalen Arbeitsmarktes zählt zu den Hauptanliegen Berlins in der Einwanderungspolitik. In den übrigen Bereichen wird mit Inkrafttreten des gemeinsamen Asylrechts im Rat mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden.
Letztlich konnte die Einigung auf das gemeinsame Asylrecht jedoch erst nach der Übereinkunft über die so genannte Drittstaatenregelung erzielt werden. Auch bei diesem letzten Baustein zeigte sich die Bundesregierung sehr bestimmt in ihren Forderungen. Die Einführung dieser Regelung ermöglicht es den Behörden, Asylbewerber abzuweisen, ohne sich überhaupt mit deren Antrag zu befassen, falls sich die Antragssteller in einem als sicherem Drittstaat definierten Land befinden. Die erwünschte Festlegung einer Liste von sicheren Drittstaaten, wie sie im deutschen Asylrecht vorzufinden ist, war jedoch nicht durchsetzbar. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl haben die neuen gemeinsamen europäischen Asylrechtsbestimmungen heftig kritisiert, da sie eine Aufweichung bestehender nationaler Schutzstandards über den europäischen "Umweg" befürchten.
Fazit
Deutsch-französische Initiativen stellen nach wie vor ein prägendes Element des europäischen Integrationsprozesses dar. Dies zeigte sich in den vergangenen zwei Jahren insbesondere während der Verhandlungen um einen Verfassungsvertrag, in der Erweiterungspolitik sowie auch im Zusammenhang mit dem Euro-Stabilitätspakt. Im Verhandlungsprozess zu einer Europäischen Verfassung war die Bundesregierung v.a. unter der Ägide des deutschen Außenministers darum bemüht, die institutionelle Handlungsfähigkeit der EU auch unter den Bedingungen der Erweiterung zu gewährleisten. Auch mit der expliziten Unterstützung der Beitritte Bulgariens, Rumäniens, Kroatiens und der Türkei spielt Deutschland weiterhin der Rolle des "Anwaltes" der Beitrittsstaaten (auch der kleineren). Schließlich trat die Bundesrepublik unter rot-grün als Motor einer gemeinschaftlichen Anti-Terrorpolitik in Erscheinung.
Gleichzeitig wurde in den vergangenen zwei bis drei Jahren deutlich, wie sehr insbesondere der deutsch-französische Integrationsmotor im vergleich zu früheren Zeiten an Kraft verloren hat. Seit den Vorwehen der Irak-Krise ist eine Proliferation von Koalitionen und Gegenkoalitionen (zu zweit, zu dritt oder in anderen 'minilateralen’ Formationen) in der Europäischen Union zu beobachten. Berlin und Paris sind offensichtlich immer weniger in der Lage, gemeinsam eine Führerschaft zu übernehmen, der andere – gerade auch die kleinen Mitgliedsstaaten – folgen wollen. Die deutschen Drohungen mit "Kerneuropa" und "Haushaltsdeckelung" haben in dieser Hinsicht eher kontraproduktiv gewirkt. Stattdessen haben sowohl Deutschland als auch Frankreich durch ihre Politik gegenüber dem Euro-Stabilitätspakt an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Es erschiene verfrüht, daraus gleich die Abkehr der bundesdeutschen Europapolitik von ihrem traditionell integrationsfreundlichen Kurs zu konstatieren. Deutschland muss seine Position im erweiterten Europa jedoch erst noch (wieder-)finden.