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Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall

Es ist, wie alle Berichte von Aufstieg und Niedergang, eine beklemmende Lektüre, ob- wohl nichts an dieser so präzisen wie meinungsfreudigen Geschichte des deutschen Sozialstaats wirklich neu ist. Alle Daten und Zahlen liegen seit Jahren und Jahrzehnten auf dem Tisch, und in der Rückschau reibt man sich die Augen und fragt sich, warum Politik, Wirtschaft und die Verantwortlichen für Renten-, Kranken- und Arbeitslosenver-sicherung sich selbst und ihre Bürger so lange in falscher Sicherheit gehalten haben.

Renate Faerber-Husemann |
    Gabriele Metzler, Wissenschaftlerin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Tübingen, hat nichts anderes getan, als das allen zugängliche Material zu ordnen, in geschichtliche Zusammenhänge zu stellen und verständlich aufzubereiten. Ihr Buch ist gut zu lesen, setzt keine Kenntnisse voraus - ist also empfehlenswert für all die betroffenen Bürger, die sich heute unruhig fragen, wann denn was schief gegangen ist und wie der Sozialstaat in schwierigen Zeiten wieder krisenfest gemacht werden könnte. Jeder unter der Abgabenlast - bei stetig sinkenden Leistungen - stöhnende Arbeitnehmer fragt sich ja, warum das weltweit gepriesene und imitierte ‚Modell Deutschland’, dessen Fundamente vor 120 Jahren mit der bismarckschen Sozialgesetzgebung gelegt wurden, heute nicht mehr funktioniert. Natürlich gibt es darauf eine Vielzahl von Antworten. Greifen wir eines der vielen Beispiele Metzlers heraus: die Rente. Wie unter einem Brennglas wird deutlich, warum der Sozialstaat der Vergangenheit und Gegenwart in Zukunft vermutlich nicht mehr funktionieren kann. Als die Arbeiterrentenversicherung eingeführt wurde, gab es für über 70-jährige - ein Alter, das nur wenige erreichten - eine bescheidene Rente, die nicht mehr war als ein Zubrot zu den Lebenshaltungskosten und vor Altersarmut nicht schützen konnte.

    Heute ist die Rente Lohnersatzleistung, soll den Lebensstandard sichern, wird im Durchschnitt an knapp 60-jährige gezahlt, die dann statistisch noch mindestens 2o Jahre Leben vor sich haben. Der ‚Generationenvertrag’ war bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts kein Problem, denn es wurden stets mehr Kinder geboren als Menschen starben. Arbeitslosigkeit war kein Thema, die Lebensarbeitszeit war sehr viel länger als heute, das heißt, es flossen ausreichend Beiträge in die Kassen. Heute leben wir in einer stark alternden Gesellschaft. Die Zahl der Rentner wird zunehmen, die der Erwerbsbevölkerung sinkt dramatisch. Und doch klammern wir alle uns, verwöhnt durch die Vollkaskomentalität, die uns in den Boom-Jahren des Sozialstaates anerzogen wurde, an die Illusion, mit ein paar Korrekturen hier und da ließe sich die gute alte Zeit in die Zukunft verlängern. Sein Erfolg wurde ihm zum Verhängnis, schreibt Gabriele Metzler über den Sozialstaat, unter dessen Lasten heute das ganze Land ächzt:

    Der Erfolg des Sozialstaates ermöglichte gesellschaftlichen Wandel, der sich seit den 1960er Jahren besonders im Prozeß der Individualisierung von Lebensentwürfen, Zukunftserwartungen und Wertvorstellungen ausdrückt. Und der Erfolg des Sozialstaates nährte jene Revolution der Erwartungen, in welcher ältere Traditionen gesellschaftlicher Selbsthilfe, der Subsidiarität und der Solidarität scheinbar verloren gegangen sind.

    Warum, so fragen sich die verunsicherten Bürger angesichts täglich neuer Hiobsbotschaften heute, wurde nicht rechtzeitig umgesteuert? Warum wurden etwa die Vereinigungskosten von etwa 1,5 Billionen D-Mark bis Ende 1998 nicht aus Steuern, sondern übermäßig stark aus den Sozialkassen finanziert? Warum hat man nicht schon vor Jahrzehnten gesehen, dass die Forderungen an den Sozialstaat irgendwann unbezahlbar werden? Ganz einfach: weil alle glaubten, die vorhandenen Probleme ließen sich über eine andere Verteilung, über Steuern, über Sparmaßnahmen und Korrekturen hier und da in den Griff bekommen. Dass Massenarbeitslosigkeit trotz immer kürzerer Lebensarbeitszeit nicht nur ein Krisensymptom in konjunkturell schwachen Zeiten war, sondern auf einen tiefen Strukturwandel hindeutete, wurde von Politikern, die wiedergewählt werden wollen, viel zu lange verschwiegen. Es gibt mehrere Gründe für den tiefgreifenden Wandel, den die Menschen in den Industrieländern bewältigen müssen: Einmal ist es die alt werdende und gleichzeitig schrumpfende Gesellschaft. Zum anderen die fehlende Nachfrage nach Konsumgütern, die wohl wenig mit ‚Angstsparen’ zu tun hat, eher darauf hinweist, dass sich die Wohlstandsgesellschaft ihre Bedürfnisse weitgehend erfüllt hat. Zum dritten aber sind es die Folgen der Globalisierung, die dazu führen, dass den Nationalstaaten das Geld ausgeht. Gabriele Metzler beschreibt das so:

    Die Unternehmer haben, wenn sie ihre Produktionsstätten verlagern, die Risiken der Arbeitslosigkeit vollständig externalisiert und Arbeitnehmern und Staat überlassen. Vor allem aber entgehen dem Staat Steuereinkünfte, wenn Unternehmen auf dem globa-len Markt agieren und ihre Steuerpflicht dort ableisten, wo es für sie am günstigsten ist. Investitionsort, Produktionsort, Steuerort und Wohnort sind nicht mehr notwendigerweise identisch. Dies berührt den Lebensnerv von Staatlichkeit: das Recht auf Steuererhebung.

    Und das wird es auch so schwierig machen - selbst wenn der Wille zu grundlegenden Reformen vorhanden wäre - die derzeitigen Sozialversicherungssysteme umzulenken auf steuerfinanzierte Grundsicherungen für die Lebensrisiken Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Denn dafür fehlen die Steuereinnahmen - wie wir täglich hören und lesen. Der Zukunftsblick der Wissenschaftlerin ist entsprechend düster:

    Es steht zu befürchten, dass neue Unterklassen entstehen, in denen sich soziale Disparitäten und Nachteile bündeln und die, von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlos-sen, aus dem demokratischen Konsens ausscheren. Wenn das Selbstverständnis der Gesellschaft nicht mehr von einer an Solidarität ausgerichteten ‚Wir’-Identität geprägt ist, sondern eine tiefe Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern aktueller Entwicklungen entsteht: Dann droht die Gesellschaft auseinanderzufallen, ersetzt zu werden durch trans-nationale Gesellschaften der Gewinner und Verlierer der Globalisierung.

    Leider ist das Buch in der Beschreibung der Geschichte des Sozialstaates und der Analyse der gegenwärtigen Probleme sehr viel genauer als bei den Hinweisen für eine sinnvolle Umgestaltung. Mehr Geld für Bildung und Forschung trotz leerer Kassen - da herrscht Einigkeit, so lange nicht auf den Tisch muß, bei wem das Geld dafür eingespart werden soll. Steuerfinanzierte Grundsicherung, damit die Lohnnebenkosten sinken: Woher das Geld angesichts der leeren Staatskassen und der Steuerflucht der Wirtschaft nehmen? Eine europäische Sozialpolitik: Wie soll man die Bedürfnisse und Ansprüche von Portugal bis Polen unter einen Hut bekommen? Das Fazit nach der Lektüre dieses Buches ist deprimierend: Der nationale Sozialstaat mit all der Sicherheit, die er seinen Bürgern über viele Jahrzehnte gewährte, ist wohl am Ende. Eine Weile wird man sich noch mit Einschnitten und Umverteilungen über Wasser halten können, aber Reformen, die dem Land den sozialen Frieden erhalten könnten, die eine längerfristige Perspektive bieten, sind bisher nicht in Sicht. Die Epoche des ‚großen Booms’ scheint zumindest im sozialpolitischen Bereich vorbei zu sein.