Gunnar Decker hat sich dieser Frage gewidmet und man greift gern nach seinem Buch, nicht zuletzt in der Hoffnung, neues, ja entscheidendes über die meist ins Dunkel der Unbekanntheit abtretenden Geliebten des Dichters zu erfahren. Um es gleich zu sagen: Man wird mit dieser Erwartung bitter enttäuscht. Deckers Buch bietet eine unausgegorene Mixtur aus Biographie und Monographie, die nur und teils kraus zusammenfügt, was der Autor aus anderen Biographien und Briefausgaben Rilkes exzerpiert hat. Jedenfalls wird mit Namen nicht gegeizt, und schon der Umschlag lockt mit einer bunten Collage briefmarkengroßer Porträts der verschiedenen Frauen im Leben des Dichters, dessen Konterfei unter diese gemischt ist. Diese Präsentation ist immerhin Programm, denn die Miniaturisierung der Photographien soll schon ein Fingerzeig auf die Klischiertheit und Austauschbarkeit von Rilkes Frauenbild sein. Und klein ist auch der Dichter selbst in diesem Reigen, oder er wird klein in der Perspektive Deckers, der wie unter dem Motto zu schreiben scheint, das Gibbon in seiner berühmten Studie zum "Verfall und Untergang des römischen Reiches" leitete: "Nie ließ er ein gutes Motiv gelten, wenn ein niedriges sich finden ließ."
Dass Rilke Schwierigkeiten mit Frauen hatte, ist mittlerweile ein Gemeinplatz der Forschung. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Deckers Rekonstruktion von Rilkes "Erfindung der Liebe" mit dem Verhältnis zur Mutter und der frühkindlichen Erziehung zum Mädchen beginnt. Und sogleich bekommt die Lebensgeschichte des Menschen, dessen Dichter-Selbstbild schon auf der ersten Seite als "Klischee" bezeichnet wird und dessen angeblich zur Schau gestellte Melancholie der "Natürlichkeit von Schwerathletik" geziehen wird, eine Breitseite: Der Künstler habe im Weiblichen nur die elementare Schöpferkraft der Gebärfähigkeit gesucht, die er den Frauen neidete. Daher die Hassliebe zur eigenen Mutter und zu den Ersatzmüttern, Lou Andreas-Salomé und Marie von Thurn und Taxis. Daher das ewige Kindmann-Sein, das in der Ehe und Familiengründung mit der als Virago klassifizierten Clara Westhoff sogar in Konkurrenz zur eigenen Tochter getreten sei. Daher der unüberwindbare Narzissmus, der nur in der Ferne der Geliebten und in der Spiegelbildlichkeit einer Geschwisterlichkeit Befriedigung fand und im Brief das Medium par excellance erotischer Erregung. Aber was sagt diese psychopathologische Diagnose schon aus über die vielgestaltigen Facetten von Rilkes dichterischem Sagen, in dem all diese Motive gespiegelt und gebrochen werden! Von der Liebe der Romantiker zur Natur heißt es dort etwa, dass sie so gewesen sei wie die zum Mädchen Sophie, die ihrem Liebhaber am besten gefallen habe, "wenn ich saß und ihr den Rücken zuwendete, das heißt, ..., wenn ich sie im Geiste vor mir sah."
Rilke zitiert hier, und zwar Turgenieff, aber es ist auch viel Ironie in dieser Wendung vom abgewandten Liebenden. Und genau dieser Zug geht Deckers Studie gänzlich verloren. Der Zwang zur "Fernstenliebe", der Pathos der Distanz wird nur als Unfähigkeit dargestellt, aber von was? Über den Standpunkt, von dem aus gewertet wird, schweigt die Studie, stattdessen bedient sie alle Ressentiments:
Der Dichter spielt auf der Klaviatur von Annäherung und Abstoßung, von gespielter Nähe und kalter Ferne. Er wird dieses Spiel mehr als ein Vierteljahrhundert lang immer weiter perfektionieren – bis es ganz zu seiner zweiten Natur wird und er als Virtuose des Seelenfangs, als Ausbeuter fremder Gefühlswelten vor uns steht.
Oder will der Autor sich gar zum Rächer der entehrten Frauen um Rilke aufschwingen? Dafür bietet er zu wenig Material, das zudem ohne Chronologie in verwirrender Aneinanderreihung der vielen Namen präsentiert wird. Nur ab und an blitzt einsam ein Gedanke auf, der sich an einer Interpretation Rilkescher Verse versucht und dem Geheimnis der Frauen zum Beispiel als Engel, als Zwischenwesen poetischer Erlösungsphantasien nahe kommen will. Aber schon triumphiert wieder die Platitude nicht zuletzt in Gestalt des Dämons Eros, von dem es bezeichnenderweise heißt, dass "er zwischen Mann und Frau immer auf dem Sprung sitzt". Wie wahr, wie wahr, möchte der Leser da seufzen, aber was hat das mit Rilke zu tun? Da lohnt sich mehr der Griff zum gleichzeitig erschienenen Werk von Rüdiger Görner, das Rilke "Im Herzwerk der Sprache", will sagen: im Medium seiner Ausdruckskraft aufsucht und zum sprechen bringt. Bezeichnenderweise heißt es gleich am Anfang:
Es kostet einige Mühe, in unserem biographistischen Zeitalter, das sich an jeder dokumentierten oder kolportierten Lebensnuance weidet, zur Essenz des Rilkeschen Werkes vorzudringen, zwischen die glatten Reime zu hören, hinter das ‚Rühmen’, ‚Glühen’ und ‚Blühen’ und den Anschein gewisser ‚Helden’ zu blicken."
Der Weg, den Görner beschreitet, ist nicht von Frauenopfern gepflastert, sondern von intellektuellen Begegnungen mit Künstlern und Literaten der Zeit gesäumt, die auf Rilke Einfluß nahmen. Und es geht vor allem um eins, nämlich die Kunstmittel des Dichterischen, das Ausgesetztsein auf den Gipfeln der Sprache angesichts der Krisen, die das Künstlertum um 1900 durchlebt. Rilke geht es in herausragender Weise um eine Präsenz im Wort, um eine Erneuerung des Erzählens, das den Dingen und ihrer anderen Sprache gerecht werden will. Dazu gehört auch das Eintauchen in die Vielzahl der nationalen Sprachen und ihre Übersetzungen, für die der vielreisende Dichter besonders offen war. Görner gelingt so das überzeugende Bild eines Rilke, der, mag er auch in libidinösen Dingen an den Dämonen der Kindheit gefesselt sein, in seiner dichterischen Sprachgewalt ins Offene, Freie und Zukünftig strebte.
Gunnar Decker
Rilkes Frauen oder die Erfindung der Liebe
Reclam Leipzig, 313 S., EUR 19,90
Rüdiger Görner
Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache
Paul Zsolnay Verlag, S. EUR 24,90