Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


Der Doktor für alle Fälle

Das Interesse am Medizinstudium ist ungebrochen. Auf einen Studienplatz kommen im Durchschnitt fünf Bewerber. Doch zu wenige Absolventen wollen später als Hausarzt arbeiten, vor allem nicht auf dem Land, erst recht nicht in Ostdeutschland. Ein Patenprogramm der Universität Leipzig will Abhilfe schaffen: Die Studenten gehen früh in Landarztpraxen und sollen erfahren, dass die Arbeit dort durchaus attraktiv sein kann.

Von Carsten Heckmann | 18.04.2006
    Wiesen und Felder prägen das Bild, frische Landluft steigt in die Nase. Dann kommt ein Kirchturm in Sicht und drumherum ein kleiner Ort. Beucha heißt er, nur 13 Kilometer von Leipzig entfernt – und doch Welten. Verkehrslärm kennt man hier nicht, die Sorgen des Nachbarn schon. Statt Einkaufstempeln gibt es die kleine Bäckerei um die Ecke und den Metzger des Vertrauens. Und gut gekocht wird nicht in "Auerbachs Keller", sondern im Gasthof "Zur Krone". Quer durch die Ortschaft zieht sich die Dorfstraße. Hier hat Dr. Rainer Arnold seine Praxis. Und einen knappen Kilometer weiter macht er an diesem sonnigen Mittag einen Hausbesuch bei Sieglinde Voigt.

    "Schönen guten Tag!"

    "Guten Tag, Dr. Arnold! Schön, dass Sie wieder mal kommen. Sie wissen ja, wo es langgeht."

    Der Weg führt ins Wohnzimmer. Die rüstige Rentnerin bietet dem Doktor erst mal einen Kaffee an. Es entspinnt sich zunächst ein Gespräch über den Apfelbaum im Garten, der eine Woche zuvor gefällt wurde. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, Frau Voigt habe ihren Sohn zu Gast. Und ihre Enkelin. Denn neben Dr. Arnold sitzt Gelja Kuschel. Die junge Frau mit den langen blonden Haaren studiert an der Universität Leipzig Medizin und geht bei Rainer Arnold in die Lehre. Für sie sind die Stunden, die sie in Beucha verbringt, eine willkommene Abwechslung.

    "Im Uni-Alltag hat man nur Vorlesungen, Seminare, man macht nur Praktika, und man ist eigentlich entfernt von der Wirklichkeit. Und hier kann man mal am Patienten was machen, mit dem Patienten reden, auch Fertigkeitstraining, eben Blut ziehen, mal was abhören und so ein bisschen. Mitarbeiten ist vielleicht zuviel gesagt, das nicht, aber so ein bisschen reinschnüffeln eben. Deshalb habe ich mich dafür entschieden."

    Die 21-Jährige nimmt ein besonderes Lehrangebot wahr, das die Selbständige Abteilung für Allgemeinmedizin den Leipziger Studierenden seit drei Jahren unterbreitet. Abteilungsleiter Professor Hagen Sandholzer hat es nach dem Vorbild ähnlicher Initiativen in Großbritannien und den Niederlanden konzipiert.

    "Wir haben parallel zum traditionellen Curriculum eine Art Karriereweg für Allgemeinärzte geschaffen. Das heißt, die Studierenden bekommen schon im ersten Semester Unterricht in Allgemeinmedizin, und sie werden auch schon im ersten Semester von niedergelassenen Allgemeinärzten betreut. Sie bekommen sozusagen zwei Paten. Einen Patenonkel, oder besser gesagt eine Patentante, das ist die Allgemeinärztin im Regelfall, und dann einen Patenonkel oder eine zweite Patentante, das ist ein chronisch kranker Patient, der nun von dem Studenten während seines ganzen Studiums immer wieder besucht wird."

    Jedes Jahr gibt es 60 Plätze für Erstsemestler, die schon zeitig Praxisluft schnuppern wollen. Zu Anfang war das Interesse größer als das Angebot, im vergangenen Oktober blieben jedoch erstmals Plätze frei. Wer teilnimmt und das Programm bis zum Studienende absolviert, kann dabei fünf Leistungsnachweise erwerben. Die Teilnehmer lernen, Diagnosen zu erheben und ihren Patienten zu beraten, ihm Blut abzunehmen und ein EKG zu schreiben. Nur stundenweise allerdings, mehr Zeit lässt der Studienplan nicht. Diese Stunden sollen Appetit machen auf mehr. Schließlich werden Hausärzte gebraucht, gerade in den neuen Bundesländern.

    Hier gibt es in 11 von 99 Planungsbezirken keine ausreichende hausärztliche Versorgung mehr, ergab eine Studie von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung. Und eine große Pensionierungswelle steht noch bevor. Vor diesem Hintergrund ist das Patenprogramm zu sehen. 90 Ärzte, die vor allem im Großraum Leipzig praktizieren, machen mit. Wie Rainer Arnold aus Beucha wollen sie den Studierenden vermitteln, dass Geld nicht alles und der Job als Hausarzt attraktiv ist, gerade auf dem Land.

    "Das Landarzt-Dasein macht besonders aus, dass die Patienten eigentlich fast mit allen Problemen und Angelegenheiten immer erst mal ihren Hausarzt aufsuchen und nicht primär gleich zum Facharzt für xyz streben, so dass sie eigentlich das gesamte Spektrum der Medizin zunächst erst mal angetragen bekommen. Das ist Anspruch, aber das ist auch Freude, dass man nicht bloß auf einem kleinen, engstirnigen Fachgebiet arbeitet."

    Das Patenprogramm zeigt bereits Wirkung. Im ersten Jahrgang hat sich der Anteil der Studierenden, die Hausarzt werden wollen, von anfangs 20 Prozent auf inzwischen 32 Prozent erhöht. Diese Zahl soll noch größer werden, dafür setzen Rainer Arnold und seine Kollegen sich ein. Und der 43-Jährige wirbt auch in eigener Sache: Er hat so viele Patienten, dass er einen Partner gut gebrauchen könnte. Gefunden hat er bislang keinen. Dumm, dass seine Patenstudentin Gelja Kuschel noch einige Jahre Studium vor sich hat. Denn sie ist bereits überzeugt von der Attraktivität des Lebens als Landarzt:

    "Hier ist man wer. Hier ist man der Hausarzt, hier ist man der Arzt vom Dorf. Man bekommt auch dieses Gefühl zurück, gebraucht zu werden, dass man hilft. Diese Rückbestätigung ist viel mehr da als im Krankenhaus."