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Der Doktorvater und das pädagogische Eros

Der Verfassungsjurist Peter Häberle, zu Guttenbergs Doktorvater an der Universität Bayreuth, offenbart in seinen "Pädagogischen Briefen" einen Hang zum Pathos, der ihn anfällig für die blenderischen Fähigkeiten seines Doktoranden gemacht haben muss.

Von Stephan Detjen | 07.03.2011
    Dieses Buch ist noch keine zwölf Wochen auf dem Markt, und schon liest es sich wie ein Dokument aus einer vergangenen Epoche. Auf erschütternde Weise vermitteln Peter Häberles "Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen" eine Ahnung davon, wie fürchterlich, verletzend und desillusionierend den Autor die Affäre um seinen prominenten Doktoranden getroffen haben muss.

    Der schmale Band ist ein in die Form von Briefen gegossenes Kompendium von Erfahrungen aus einer 40-jährigen akademischen Karriere im In- und Ausland. Häberle blickt auf Vorlesungen, Seminare, wissenschaftliche Tagungen und Gastaufenthalte in den renommiertesten Universitäten der Welt zurück, um daraus Lehren, Ratschläge und Empfehlungen für ein gutes akademisches Arbeiten abzuleiten.

    Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder das Verhältnis des Hochschullehrers zu seinem Schüler, dem Doktoranden oder Habilitanden. In einem Nebensatz erwähnt Häberle, dass dazu in seinem Seminar auch der junge Bundestagsabgeordnete "K.T. zu Guttenberg" gehört hatte. Schon als das Buch im Dezember letzten Jahres erschien, war es in weiten Teilen der Rückblick auf eine vergangene Welt: die Universität im Prä-Bologna-Zeitalter, die vermeintlich heile Welt der hehren Gemeinschaft von Forschenden, Lehrenden und Lernenden. Das akademische Seminar erscheint in der Tradition der großen philosophischen Schulen der Antike und Meisterwerkstätten der Kunstgeschichte:

    "Der Schüler ehrt den Meister wohl auch dadurch, dass er in dessen Geist oder darüber hinaus zu Neuem aufbricht. Der Meister muss lernen, dem Schüler beginnend bei der Dissertation Stück für Stück mehr Freiheiten zu geben und seine eigene Identität zu öffnen. In jedem Fall muss der Meister glücklich sein, wenn der Schüler selbst zum Meister wird."

    Guttenbergs Doktorvater markiert so auf eine geradezu tragische Weise die Fallhöhe, aus der er selbst ins schier Bodenlose gefallen sein muss, als er den tiefen Sturz seines Schülers verfolgte. Die akademische Dimension des Skandals erschließt sich vollständig erst vor dem Hintergrund des Werkes von Peter Häberle.

    Der Bayreuther Staatsrechtler steht in einer der großen Traditionslinien des deutschen Staatsrechts, die auf den Weimarer Verfassungsrechtler Rudolf Smend zurückgeht und in der neuartigen Grundrechte-Auslegung des Bundesverfassungsgerichts zum Durchbruch kam. Verfassung ist in diesem Verständnis nicht nur Staatsorganisation, sondern auch Ausdruck der kulturellen und sozialen Prägungen einer Gesellschaft.

    Peter Häberle leitet daraus sein Ideal einer "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" ab. Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet Häberle nicht bemerkte, dass er sich im Fall Guttenberg von einem zusammengeschusterten Verfassungsgeschwafel täuschen ließ?

    "Unerlässlich ist die regelmäßige Kontrolle des Fortschritts der Arbeit durch Vorlagen von Gliederungen, Textabschnitten und Zwischenberichten."

    Resümiert Häberle in seinen "Pädagogischen Briefen". 18 Monate solle der gemeinsame Weg von Doktorvater und Doktorand mindestens dauern, mahnt Häberle. Von einer Obergrenze ist nicht die Rede. Im Falle seines Schülers zu Guttenberg waren es mehr als vier Jahre, bis - wie Guttenberg in seinem schwülstigen Vorwort schrieb - "der Kairos der Fertigstellung" erreicht war.

    Hätte diese Zeitspanne nicht ebenso misstrauisch stimmen müssen wie das exorbitante Volumen der am Ende vorgelegten Arbeit? Dieser Doktorand, das lag doch mit 475 Seiten schwergewichtig auf der Hand, hatte sich offenkundig nicht die Zeit genommen, sich kurz zu fassen und seine Gedanken auf den Punkt zu bringen. Aber: Möglicherweise liegt gerade hier der Schlüssel zur Antwort auf die Frage, warum sich diese akademische Katastrophe ausgerechnet an diesem bedeutenden Lehrstuhl ereignen konnte.

    Häberle nämlich offenbart in seinen "Pädagogischen Briefen" einen Hang zum Pathos, der ihn anfällig für die blenderischen Fähigkeiten seines Doktoranden zu Guttenberg gemacht haben muss. Es ist ein Pathos, das ausgerechnet dieser weltoffene und grundliberale Verfassungsrechtler etwa in seinen Erinnerungen an die Tagungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer beschwört, auch das ein Teil jener vergangenen Hochschulwelt mit ihren durch und durch männlich geprägten Diskursen, informellen Hierarchien und Hahnenkämpfen der Ordinarien.

    Es ist dasselbe Pathos, mit dem Häberle ebenso wie zu Guttenberg im Vorwort seiner Dissertation das wissenschaftliche Seminar als Ort gemeinschaftlicher Glückserfahrungen überhöht. Häberle bezieht sich dabei ausdrücklich auf das Erbe der Reformpädagogik und den Begriff des "pädagogischen Eros". Im vergangenen Jahr haben die Enthüllungen über die systematischen Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule gezeigt, welche Abgründe sich hinter diesem Begriff auftun. Wo Eros die Beziehung von Lehrern und Schülern prägt, wird Überzeugungskraft leicht durch Verführungskunst ersetzt. Im Fall der Odenwaldschule haben Lehrer ihre Schüler missbraucht. Im Häberle-Seminar scheint der Lehrer das Opfer einer akademischen Vergewaltigung gewesen zu sein.

    Peter Häberle: "Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen". Mohr-Siebeck, 246 Seiten, 24 Euro