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Der Dominoeffekt des Schuldenmachens

Während in Deutschland derzeit die Konjunktur wieder brummt, bereiten leere Kassen in Griechenland und Irland der EU Kopfzerbrechen. Kai Konrat und Holger Tschäpitz beleuchten in ihrem Werk verblüffende Vorgehensweisen und kommen zu überraschenden Einsichten.

Von Christoph Birnbaum | 15.11.2010
    Deutschland hat heute rund 1700 Milliarden Schulden. Das ist eine unvorstellbar große Zahl mit elf Nullen. Anschaulich wird sie, wenn sie auf jeden Deutschen umgerechnet wird. Einer, der dies gemacht hat, ist Professor Kai Konrad, Direktor am Max-Planck Institut für Wettbewerbs- und Steuerrecht - zusammen mit dem Journalisten Holger Zschäpitz. Ihr Ergebnis: Vom Neugeborenen bis zum Greis beträgt die Staatsverschuldung pro Kopf rund 20.000 Euro. Fast jeder vierte Euro wird allein in diesem und im nächsten Haushalt für Schuldzinsen ausgegeben.

    Warum aber macht der Staat, warum machen unsere Politiker Schulden? Kai Konrads Antwort:

    "Da fällt eine Asymmetrie auf zwischen Privatleuten, die sich verschulden und Politikern, die sich im öffentlichen Interesse verschulden. Wenn ich mich als Privatmann verschulde, um mir davon ein neues Auto zu kaufen, dann ist das zwar schön heute, aber ich weiß genau, die nächsten Jahre werde ich mich dann eben einschränken müssen. Und das ist für einen Politiker, der in der Regierung ist, ein wenig anders. Wenn ein Bundespolitiker zusätzliche Schulden macht, dann kann er damit Dinge umsetzen, die er ohne dieses zusätzliche Geld nicht umsetzen könnte."

    Und warum machen Politiker immer wieder aufs Neue Schulden? Was ist das geheime Bewegungsgesetz staatlicher Schuldenpolitik? Kai Konrad hat darauf eine verblüffend klare Antwort:

    "Als Politiker kann ich das Schuldeninstrument dazu nutzen, das ich mehr von dem heute machen kann, was ich gerne machen möchte, und ich muss nicht die volle Last tragen, sondern die tragen eben andere Politikergenerationen. Das hat sogar den Nebeneffekt, dass, wenn ich weiß, dass die Politikergeneration, die da kommt, irgendetwas machen will, was ich eigentlich gar nicht so möchte, und ich verschulde mich heute heftig, dann kann ich diese zukünftigen Politiker in ihrem Handeln sogar zusätzlich noch einschränken. Ich kann also heute bereits durch die Verschuldung vermeiden, dass die irgendwelche Projekte umsetzen, die mir gar nicht am Herzen liegen."

    Schuldenmachen als Politikverhinderung – es sind solche überraschenden Einsichten, die dieses Buch vor allem auszeichnen. Und dabei ist es auch noch leicht verständlich und vor allem auch anschaulich geschrieben. So kann auch ein Nicht-Volkswirtschaftler alles zum Thema Schulden verstehen. Beispielsweise die Frage, die schon im Titel des Buches anklingt: Gibt es Schulden ohne Sühne? Und wie gefährlich sind unsere Staatsschulden überhaupt?

    "Schulden in Maßen sind nicht wirklich gefährlich für einen Staat. Wichtig ist, dass die Schulden als Anteil dessen, was ich an Einnahmen zu erwarten habe, mir nicht über den Kopf wachsen. Gefährlich wird es dann, wenn ein Trend zu beobachten ist, dass der Schuldenstand als Anteil der Wirtschaftskraft immer weiter ansteigt. Dann kommt irgendwann der Punkt, wo diejenigen, die diese Kredite geben, nicht mehr glauben, dass diese Kredite auch wirklich einmal zurückgezahlt werden und bedient werden. Wenn sich die Erwartungshaltung durchsetzt, dass dieser Staat nicht mehr zurückzahlt, dann kriegt dieser Staat keinen Kredit mehr.""

    Und damit führen die Autoren ihre Leser zum nächsten Thema: dem bankrotten Griechenland und der gefährdeten Stabilität des Euros. Denn hier sehen die Autoren die eigentliche, sehr viel drängendere Gefahr der Schuldenspirale in Europa:

    ""Da gibt es einige Staaten, die in einer erheblich größeren Schieflage sind. Was auch nicht bedrohlich wäre, wenn diese Staaten, wenn sie zahlungsunfähig wären, einfach in die Umschuldung gehen. Wo es wirklich brenzlig wird, ist, wo die reichen Staaten innerhalb der Eurozone Hilfe an die Insolvenzkandidaten leisten. Wenn sich diese Hilfszahlungen perpetuieren, wenn das also zu einer Dauereinrichtung wird, dann sehe ich wirklich große Gefahren, dann kann das zu einem Kollaps der gesamten Eurozone werden, im Sinne eines europäischen Staatsbankrotts."

    Es ist dieser Dominoeffekt beim staatlichen Schuldenmachen, den die beiden Autoren als besonders bedrohlich ansehen: Wenn die kleinen Staaten die großen Staaten der Eurozone mit in den Abgrund ziehen, droht nicht nur ein finanzpolitisches Chaos, sondern eine Gefahr für das gesamte "Projekt Europa", und zwar dadurch, ...

    "... dass diese permanenten Hilfsleistungen, die dann fließen (...) zu erheblichen politischen Spannungen innerhalb der Europäischen Union führen würden. Und man kann sich gut vorstellen, dass solche Spannungen eine enorme Sprengkraft innerhalb der Gemeinschaft ausüben würden."

    Das Buch von Kai Konrad und Holger Zschäpitz sollte zur Pflichtlektüre für Politiker werden. Gerade eben ist im Bundestag der Haushalt 2011 verabschiedet worden: der erste Haushalt unter dem Diktat der "Schuldenbremse". Doch richtig gespart wird hier immer noch nicht. Stattdessen lobt sich die Regierung dafür, "weniger Schulden" aufgenommen zu haben. Doch Kai Konrad und Holger Zschäpitz zeigen: Schuldenmachen "ohne Sühne" gibt es eben nicht.

    Kai A. Konrad / Holger Tschäpitz: Schulden ohne Sühne? Warum der Absturz der Staatsfinanzen uns alle trifft.
    C.H. Beck Verlag, 240 Seiten, Euro 19,95
    ISBN 978-3-406-60688-5