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Der Doppelklick im Gehirn

Wie das Internet zunehmend unser Gehirn verändert, zeigt der Bestsellerautor Nicholas Carr. Dessen Buch wird seit Erscheinen der Originalausgabe vor vier Monaten in den USA heiß diskutiert. Jetzt ist die deutsche Ausgabe erschienen, mit dem Titel "Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange?".

Von Rebecca Hillauer | 21.10.2010
    "Ein Grund, warum wir so zwanghaft in unserem Gebrauch des Internets sein können und uns darin so verlieren, ist unser tief sitzendes primitives Verlangen nach immer neuen Informationen. Indem das Internet dieses Verlangen stillt, lässt es uns ständig auf Links klicken, E-Mails checken, Facebook checken. Es absorbiert unsere Aufmerksamkeit - zersplittert sie aber auch.", sagt Nicholas Carr.

    Dieses beständige Zerstreuen unserer Aufmerksamkeit hat gravierende Konsequenzen, wie Nicholas Carr in seinem Buch mit vielen spannenden und teils verstörenden Forschungsergebnissen belegt. Mit seinem Artikel "Macht Google uns dumm?" in der Zeitschrift "The Atlantic" war der renommierte Wissenschaftsautor vor zwei Jahren der Erste, der die negativen Seiten des Internets thematisierte.

    Nicholas Carr
    "Der einzige Weg für uns, komplexe Zusammenhänge zu begreifen und tiefgründige Gedanken zu formen, ist, Informationen von unserem Kurzzeitgedächtnis in unser Langzeitgedächtnis weiter zu leiten. Wenn wir aber beständig abgelenkt sind, leiden wir unter einer "kognitiven Überlastung", wie Psychologen es nennen. Das heißt, Informationen passieren unser Kurzzeitgedächtnis zu schnell, um ins Langzeitgedächtnis zu gelangen. In Folge bleiben unser Denken, Wissen und Verstehen seicht und erreichen keine Tiefe."
    Auch die Sprachwissenschaftlerin Maryanne Wolf befürchtet, wir könnten durch das viele Surfen im Internet und das damit verbundene häppchenweise Lesen unsere Fähigkeit zum - wie sie es nennt - "tiefgründigen Lesen" verlieren. Diese Fähigkeit ist uns nicht angeboren. Denn in unserem Körper haben wir kein einziges Gen für das Lesen. Anders als Hören und Sprechen, für die wir ein genetisches Programm besitzen, müssen wir das Lesen erst lernen. Ebenso können wir es wieder verlernen – oder nie lernen. In ihrem Buch beschreibt Maryanne Wolf mit vielen Beispielen aus dem Alltag und der Literatur, welche komplexen neuronalen Vorgänge uns das Lesen erst ermöglichen:

    "Das Lesen zeigt uns, dass das menschliche Gehirn eine einzigartige Fähigkeit besitzt, über sich hinaus zu denken und durch seine Plastizität etwas Neues zu lernen. Diese Plastizität erlaubt es dem Gehirn, quasi neue Schaltkreise auszubilden, die bisher getrennte Gehirnareale neu verbinden. So gibt es zum Beispiel einen Schaltkreis für das Fahrradfahren und einen Schaltkreis für das Weben. Der Schaltkreis für das Lesen ist im wahrsten Sinn eine Mischung aus Sehen, Sprache, Gedanken, Erinnerung, Aufmerksamkeit und Gefühlen."

    Der französische Hirnforscher Stanislaw Dehaene hat diese Prozesse, in dem das Gehirn Bekanntes auf völlig neue Art und Weise verknüpft, "neuronales Recycling" genannt. Maryanne Wolf spricht von einer "offenen Architektur" des Gehirns, die uns nicht nur physiologisch, sondern auch intellektuell und gefühlsmäßig regelrecht über uns hinauswachsen lässt:

    "Beim Lesen aktivieren wir verschiedene Areale unserer beiden Hirnhälften, um das alles zusammenzubringen. Diese Prozesse verbinden unser bisheriges Wissen mit dem Text. So kommen wir zu Ableitungen, Analogien und kritischer Analyse – also zu unseren eigenen Gedanken und Fantasien, zu Einsichten, Selbstreflexion und neuen Erfindungen."

    Diese Fähigkeiten sehen die beiden Autoren durch das Internet gefährdet. Dabei leugnen sie dessen Vorteile nicht, machen aber klar: Die Annahme, das Internet steigere unsere Produktivität, treffe nur insoweit zu, als das Web uns ermögliche, mehr Informationen in kürzerer Zeit zu sammeln. Das Zerstückeln unserer Aufmerksamkeit, das das Internet uns aufzwingt, und das als "Multitasking" viel beschworen wird, kann jedoch äußerst kontraproduktiv sein. Forscher an der Stanford Universität fanden, dass Multi-Tasker sehr schlecht wichtige Informationen von unwichtigen trennen konnten. Diese Gruppe ließ sich auch sehr leicht ablenken. Wer denkt, Zugang zu mehr Wissen bedeute automatisch auch mehr Wissen, irrt also. Nicholas Carr verweist auf das Ergebnis einer weiteren Studie an der Universität von Chicago:

    "Die Forscher fanden, je mehr die Menschen im akademischen Bereich Online-Quellen nutzten, desto weniger Quellen zitierten sie in ihren Arbeiten. Da Suchmaschinen wie Google im Grunde eine Beliebtheitsskala reflektieren, landen alle nur noch bei einer kleinen Gruppe von Informationen - denjenigen, die an der Spitze der Suchergebnisse stehen. So kann eine Suchmaschine die Informationen, die wir erhalten, einengen, statt zu einer Vielfalt an Inhalten zu führen."

    Maryanne Wolf ist überzeugt: Das Internet formt nicht nur unser Gehirn, es formt auch unsere Persönlichkeit und die Rolle, die wir in der Gesellschaft spielen:

    "Die Art, wie wir lesen, beeinflusst unser Denken. Und unser Denken beeinflusst, wie wir handeln. Ich glaube, die meisten Menschen sind sich dessen nicht bewusst. Sie denken, Lesen ist etwas Wunderbares – aber keine bedeutsame Sache. Sie irren. Lesen ist das mächtigste Werkzeug, das unser Geist besitzt, um selbstständig zu denken."

    Das Internet könnte womöglich sogar unsere Fähigkeit beeinträchtigen, tief gehende Gefühle zu entwickeln, meint Nicholas Carr:

    "Einige Hirnforschungen zeigen, dass sich unsere feinsinnigsten Emotionen über relativ langsame mentale Prozesse entwickeln. Sollte dies stimmen, befürchten die Wissenschaftler: Wenn wir beständig abgelenkt sind, und unsere Aufmerksamkeit ständig abschweift, dann könnten am Ende nicht nur unsere Gedanken seicht sein. Wir könnten auch seichtere Gefühle haben und unseren Reichtum an emotionalem Erleben verlieren – Mitgefühl zum Beispiel."

    Weder Nicholas Carr noch Maryanne Wolf wollen das Rad der Zeit zurückdrehen. Beide plädieren jedoch vehement für einen veränderten Umgang mit dem Internet. Dazu gehörten, so ihr Appell, regelmäßige Zeiten der Internet-Abstinenz. Gleichzeitig machen sie deutlich: Es geht um mehr als um Selbstdisziplin und eine individuelle Entscheidung. 20 Jahre nach Entstehen des World Wide Web, ist ihrer Ansicht nach die Zeit gekommen, das Internet in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen.

    Maryanne Wolf:
    "Wir können einhalten und uns fragen, welches volle Repertoire an Fähigkeiten wünschen wir uns für die nächste Generation? Darin liegt meine Hoffnung. Wir könnten beides haben: Mit dem Internet besitzen wir die Vorteile des schnellen und umfassenden Sammelns von Informationen. Und ein gut ausgebildetes Lesegehirn befähigt uns zu kritischer Analyse."
    Nicholas Carr: "Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Gehirn verändert",
    übersetzt von Henning Dedekind, Blessing Verlag,
    383 Seiten, 19,95 EUR.

    Maryanne Wolf: "Das lesende Gehirn: Wie der Mensch zum Lesen kam - und was es in unseren Köpfen bewirkt",
    übersetzt von Martina Wiese, Spektrum Akademischer Verlag,
    349 Seiten, 26,95 EUR.