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Der Doppelpass im Wahlkampf

Bei der Bundestagswahl am 22. September sind rund 5,8 Millionen Deutsche mit ausländischen Wurzeln wahlberechtigt, also gut neun Prozent. Die Parteien kümmern sich um diese wichtige Wählerklientel mit Kandidaten und Themensetzung.

Von Susanne Grüter | 19.08.2013
    "Deutschland muss endlich auch auf Augenhöhe mit anderen, modernen Demokratien dieser Welt kommen: USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Finnland, Dänemark. Bereits die Mehrheit aller Länder auf dieser Welt akzeptiert die doppelte Staatsangehörigkeit."

    Thomas Oppermann, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion Anfang Juni im Bundestag. Die doppelte Staatsbürgerschaft hat sich in den letzen Jahren zum Debattenklassiker im Parlament entwickelt. Zuletzt sind verschiedene Anträge der Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke wieder an der schwarz-gelben Regierungsmehrheit in Berlin gescheitert. Die Union bleibt hart: kein Doppelpass, was vor allem die vielen türkisch-stämmigen Migranten trifft. CDU-Innenpolitiker Reinhard Grindel:

    "Die Einbürgerung ist der Schlussstein eines gelungenen Integrationsprozesses. Und die Regierungschefin für diese Mitbürger, das ist Angela Merkel und nicht Herr Erdogan. Und das müssen wir auch einmal deutlich machen. Wer ja sagt zu Deutschland, wer mit uns sehr gerne miteinander leben will, von dem kann ich auch die Entscheidung erwarten für die deutsche Staatsbürgerschaft unter Ablegung seiner alten Staatsbürgerschaft, jawohl, das kann ich."

    Das Thema hat in diesem Jahr besondere Bedeutung: Es ist Wahlkampf, und Migranten sind inzwischen eine wichtige Wählergruppe. Außerdem greift 2013 zum ersten Mal die sogenannte Optionspflicht. Nach der müssen sich Kinder, die hier geboren sind und ausländische Eltern haben, zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern entscheiden, sobald sie mit 18 volljährig geworden sind - spätestens aber, wenn sie 23 Jahre alt werden. Entscheiden sie sich nicht, wird ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Grünen:

    "Warum zwingen wir diese jungen Deutschen eigentlich, sich zu entscheiden, ob sie diesen oder jenen Pass haben wollen? Das ist ein politischer Fehler, dieser Optionszwang. Wir machen Menschen, die zum Großteil sogar hier geboren sind - geborene Deutsche - zu Ausländern in ihrem eigenen Land."

    "Wenn man 18 wird, bekommt man einen Brief vom Regierungspräsidium, der ist dann auch ziemlich dick und ziemlich auffällig. Als ich den Brief erhalten habe, habe ich ihn erst mal geöffnet und habe gelesen, oh, ok ich muss mich entscheiden. Und dann habe ich den erst einmal zur Seite gelegt, damals hatte ich noch was anderes im Kopf."

    Damals steckte er gerade im Abi-Stress, sagt Musa Cakilli aus Rüsselsheim. Der 19-Jährige bereitet sich nun auf sein Studium vor. Wirtschaftsingenieur will er werden. Aber da liegt noch dieser Brief von der Einbürgerungsbehörde herum und bereitet ihm schlechte Laune.

    "Meine Freunde, meine italienischen, griechischen oder auch kroatischen Freunde können mit der doppelten Staatsbürgerschaft rumlaufen, nur ich darf das nicht. Und das sehe ich als eine Art der Diskriminierung. Darum möchte ich beide Staatsangehörigkeiten behalten, denn ich sehe mich als Deutscher und als Türke. Ich bin mit der deutschen Kultur aufgewachsen, aber auch mit der türkischen. Ich kann weder auf die türkische Küche verzichten, noch auf die deutsche Pünktlichkeit."

    Tatsächlich besitzen viele Einwanderer in Deutschland dauerhaft völlig legal zwei Pässe – EU-Bürger zum Beispiel. Weitere Ausnahmen sind Afghanen, Iraner und Marokkaner. Deren Heimatländer machen es ihren Bürgern unmöglich, ihre Staatsbürgerschaft aufzugeben. Folglich dürfen die nach einer Einbürgerung in Deutschland ihren Ursprungspass behalten. Für Türkischstämmige gilt das nicht – die müssen sich entscheiden. Musas Entschluss steht fest:

    "Ich habe jetzt mit einem Rechtsanwalt aus Frankfurt einen Antrag im Regierungspräsidium eingereicht. Und wir haben daraufhin leider eine Absage bekommen. Und dass ich halt eine Staatsangehörigkeit aufgeben muss. Ich habe aber nichts aufgegeben. Und wir haben jetzt Klage beim Amtsgericht Darmstadt eingereicht."

    Möglicherweise hat diese Klage Aussicht auf Erfolg. Unter Staatsrechtlern ist das Optionsmodell umstritten. Denn nach dem Grundgesetz kann die Staatsangehörigkeit nicht so ohne Weiteres wieder entzogen werden. Musa Cakillis Verfahren wird sich noch eine Weile hinziehen.

    Cakilli klagt gegen die größte deutsche Einwanderungsbehörde, das Regierungspräsidium Darmstadt. Dezernatsleiter dort und damit zuständig für ganz Süd-Hessen, also auch für Rüsselsheim, ist Martin Jungnickel. Er muss so handeln, obwohl er es eigentlich gar nicht will.

    "Dieses Gesetz ist - abgesehen von der Ideologie, über die man natürlich immer streiten kann - auch handwerklich schlecht gemacht. Handwerklich schlecht gemacht, aber dann doch so klar formuliert, dass es mich als Verwaltung bindet. Und es dann zu obskuren Ergebnissen kommt. Und das treibt mich schon um."

    Seit 2007 zum Beispiel ist die Mehrstaatlichkeit bei EU-Bürgern erlaubt. Der Gesetzgeber habe aber dabei vergessen, die Optionskinder mit einzubeziehen, sagt Martin Jungnickel.

    "Das heißt, ein Deutsch-Italiener muss für die deutsche Staatsangehörigkeit optieren und gleichzeitig einen Antrag auf Beibehaltung seiner italienischen stellen. Wenn er das nicht tut, verliert er die deutsche Staatsangehörigkeit, kann sich anschließend wieder einbürgern lassen oder muss es sogar, um dann doch das Ergebnis zu erhalten, nämlich beide Staatsangehörigkeiten zu besitzen. Wenn das nicht obskur ist."

    Ein weiteres Problem: Einige versäumen den Stichtag und verlieren ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Bei Martin Jungnickel in Darmstadt sind bis jetzt immerhin 35 von beinahe 300 Optionspflichtigen betroffen.

    Zu dieser Generation gehören alle, die ab 1990 geboren wurden und in diesem Jahr 23 werden. Auf sie hat man das Gesetz erst rückwirkend ausgedehnt. Deren Eltern mussten die deutsche Staatsangehörigkeit bei der Geburt noch beantragen. Anders als bei der regulären Regelung: Kinder ausländischer Eltern ab dem Geburtsjahr 2000 haben automatisch einen deutschen Pass, bis sie volljährig werden. Deren Zahl wird daher entsprechend höher liegen.

    "Es ist ein höllischer bürokratischer Aufwand, der sich im Moment noch etwas in Grenzen hält, weil wir sogenannte Altfälle abarbeiten, der aber enorm hoch wird, wenn die sogenannten echten Optionsfälle kommen. Und die kommen ab dem Jahre 2018 mit etwa jeweils etwa 40.000 Menschen pro Jahr auf die öffentliche Verwaltung zu."

    Für dieses Jahr rechnet das Bundesinnenministerium nur mit etwas mehr als 3.400 Fällen. Martin Jungnickel hofft, dass das Optionsmodell nach der Wahl noch einmal überprüft wird.

    "Wenn es so bleiben würde, dann wird bundesweit eine Personalaufstockung von bis zu 1.000 Mitarbeitern erforderlich werden. Und da diese Verfahren ja gebührenfrei sind, das heißt, der Staat kann das Geld nicht wieder hereinholen, weil es ja ein staatliches Interesse ist, das da durchgesetzt wird, ist die spannende Frage, wer möchte denn gern diese 1.000 Menschen bezahlen? Da bin ich mal gespannt."

    Musa Cakilli spekuliert darauf, dass die doppelte Staatsbürgerschaft nach der Wahl doch noch kommt. Und seine Zukunft nicht allein von einem Richterspruch abhängt. Wo er am Wahltag sein Kreuzchen machen wird, überlegt er noch.

    "Schließlich sind wir auch hier Wähler. Und ich habe auch eine Stimme. Und da sollte die Bundesregierung eine klare Regelung treffen und uns auch mit ins Boot nehmen."

    5,8 Millionen der insgesamt 15,7 Millionen Bürger mit Migrationshintergrund sind am 22. September wahlberechtigt. Entsprechend versuchen die Parteien jetzt, diese Wähler anzusprechen, auch mit ihren Kandidaten.

    "Ich bin Cemile Giousouf, Bundestagskandidatin für Hagen und den Ennepe-Ruhr-Kreis I. Ich bin zur CDU gekommen während meines Studiums. Ich arbeite als Referentin im Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales. Jetzt bin ich freigestellt und kann mich komplett auf den Wahlkampf konzentrieren."

    Sommerfest in einem Hagener Stadtteil. Für die 35-jährige Cemile Giousouf willkommener Anlass, sich in ihrem neuen Wahlkreis bekannt zu machen. Als erste muslimische Bewerberin der CDU überhaupt will sie in dem Städtchen am Rande des Ruhrgebiets ein Direktmandat holen. Ihre Eltern stammen aus Griechenland, gehörten dort einer türkischen Minderheit an und kamen in den 70er-Jahren als Gastarbeiter nach Leverkusen. Eine Exotin bei den Christdemokraten.

    "Es stimmt, dass die CDU, was die Mandatsträger angeht, tatsächlich Nachholbedarf hat. Aber ich sehe mich absolut nicht in der Quotenfunktion. Und es kann ja nicht sein, dass gerade in Städten wie Hagen - wir haben hier knapp 38 Prozent Zuwanderer, also die höchste Quote in ganz NRW -, dass hier Entscheidungen gefällt werden, wo, ja, ein großer Prozentsatz von Menschen überhaupt nicht mit einbezogen wird."

    Die Hagener CDU ist stolz auf ihre Kandidatin, aber es war auch Überzeugungsarbeit nötig, um ihr den Weg zu ebnen, das räumt Bezirksbürgermeister Heinz-Dieter Kohaupt ein.

    "Man hat das ja auch am Wahlergebnis gesehen, dass jetzt hier nicht 98 Prozent für die Bundestagskandidatin stimmen, sondern halt nur, es waren nur etwas über 50, 53 Prozent oder so was. Da sieht man dann schon die Stimmungslage. Es ist nur keine einfache Gemengelage für eine christliche Partei letztendlich, eine Muslima jetzt mit nach vorne zu bringen."

    Die Parteispitze in Düsseldorf hat die Kandidatur massiv unterstützt. Der Landesvorsitzende der NRW-CDU und frühere Integrationsminister, Armin Laschet:

    "Man kann auch von jemanden, den man ermutigt, jetzt nicht erwarten, dass der erst mal 20 Jahre Junge Union macht. Dann haben wir nämlich im Jahr 2033 den ersten im Parlament. Also man muss manchmal auch sagen, so wie wir Frauen stärker wollten, so wie wir jüngere Leute in Parlamenten wollen, so wollen wir auch Zuwanderer im Parlament haben."

    Hat die CDU, die zusammen mit der CSU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ist, eine Chance bei Wählern mit Zuwanderungshintergrund?

    "Es ist ja nicht so, dass die komplette CDU dagegen ist. Es gibt durchaus auch innerhalb der CDU Stimmen, die doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen. Aber es ist richtig, dass die mehrheitliche Meinung in der Partei ist, dass sich Menschen, die hier geboren sind, für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden sollten. Ich persönlich habe da eine andere Haltung. Also ich würde mich freuen, wenn wir insgesamt das Staatsbürgerschaftsrecht modernisieren würden. Aber ich merke auch unter den Migranten, dass sie nicht nur auf die Themen doppelte Staatsbürgerschaft und EU-Beitritt der Türkei reduziert werden wollen."

    Darin weiß sich Cemile Giousouf mit ihrem Förderer Armin Laschet einig. Dem stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden geht es um mehr:

    "Wie kann jeder, unabhängig von der Herkunft der Eltern, Aufstieg durch Bildung schaffen. So, und das ist gerade bei vielen Migrantenkindern noch ein Problem. Wir haben erst 13 Prozent, die am Ende das Abitur schaffen. Da brauchen wir mehr Ganztagsangebote, mehr Bildungschancen auch unabhängig von den Eltern. Und das ist die große Aufgabe der nächsten Jahre, das ist aus meiner Sicht die Kernaufgabe, wichtiger als alle doppelten Staatsbürgerschaften: Wie kann man eine Bildungskarriere in unserem Land schaffen?"

    "Mein Name ist Mahmut Özdemir. Ich bin Mitglied der SPD seit meinem 14. Lebensjahr, bin in der Parteigeschichte der jüngste Juso-Vorsitzende im Stadtteil Duisburg-Homberg auch geworden. Und arbeite derzeit als zuständiger Referent für den Rechtsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen für die SPD-Abgeordneten."

    Der 26-jährige Volljurist verfügt schon über lange Parteierfahrung und war zuletzt Mitglied der Bezirksvertretung. Auch er kandidiert für den Bundestag. Die Sozialdemokraten haben sich schon immer für die doppelte Staatsbürgerschaft eingesetzt. Entsprechend kann Mahmut Özdemir der Anti-Haltung der Union nicht folgen.

    "Wenn ich dann an einen Herrn David McAlister denke, der Ministerpräsident gewesen ist, allerdings zwei Pässe in der Tasche hatte. Also bei dem hat niemand die Frage gestellt, ist er loyal dem deutschen Staat gegenüber als Ministerpräsident. Er hat den Eid auf die Verfassung abgelegt, auf die niedersächsische. Bei dem hat niemand diese Frage gestellt."

    Die Genossen gehen sogar einen Schritt weiter. Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Guntram Schneider, ebenfalls SPD:

    "Wir sind allerdings der Auffassung, dass auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft an den Kommunalwahlen teilnehmen sollen und können, weil sie hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Schauen sie, ein Türkischstämmiger, der die türkische Staatsangehörigkeit hat, der kann ohne Probleme Vorstandvorsitzender der Lufthansa werden, aber eben nicht Bezirksbürgermeister in Köln-Ehrenfeld. Das passt nicht zusammen, da wird deutlich, hier muss einiges verändert werden."

    Auch die SPD hat längst erkannt, dass sie sich für Migranten auf breiter Front engagieren muss, wenn sie bei ihnen punkten will. Mit einem Einzelthema wie der doppelten Staatsbürgerschaft allein kommt keine Partei mehr weiter. Mahmut Özdemir:

    "Die gesellschaftliche Realität geht einfach dahin, dass auch irgendwann der Ali oder der Salvatore auch städtischer Beamter wird, dass er Lehrer wird, dass er Staatsanwalt wird, dass er Richter wird. Und da bin ich insbesondere auch der rot-grünen Landesregierung dankbar, die mit gutem Beispiel mit anonymen Bewerbungsverfahren vorangeht. Da kommt es eben nicht darauf an, ob es der Ali, der Salvatore oder der Horst ist, sondern da kommt es nur darauf an, wat kann der Jung' oder wat kann dat Mädchen."

    Chancengleichheit und Bildung sind die Schlagworte in der Integrationspolitik aller Parteien. Bildung spielt auch beim Einbürgerungsverhalten von Zuwanderern eine entscheidende Rolle. So eine Studie vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. Je gebildeter, desto eher neigen Migranten dazu, den deutschen Pass zu beantragen. Martina Sauer hat die Studie geleitet und auch gefragt, warum sich manche eben nicht einbürgern lassen.

    "Weil sie doch das Gefühl haben, sie sind ja auch mit deutscher Staatsbürgerschaft zumindest gesellschaftlich keine voll akzeptierten Deutschen, sie werden immer die Zuwanderer, die Ausländer bleiben. Das mag auch eine Rolle spielen, zu sagen, nein, dann behalte ich auch meine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft."

    Bis in die 80er-Jahre wurde kaum Integrationspolitik gemacht. So kam auch das geltende Optionsmodell erst 1999 zustande, als Kompromiss zwischen damaliger rot-grüner Regierung und der Opposition aus Union und FDP. Im hessischen Landtagswahlkampf hatte der damalige CDU-Spitzenkandidat Roland Koch zuvor eine umstrittene Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gestartet.

    "Fest steht, dass es kein Fehler war, denn das ergibt sich aus dem Wahlergebnis heute Abend. Wir wollen gemeinsam ein unsinniges Gesetz verhindern. Die Sozialdemokraten gehen einen extrem gefährlichen Weg und das heißt, die CDU muss ihre Kampagne fortführen, dann kann es ihr gelingen, die SPD zur Vernunft zu bringen."

    Daraufhin schaltete sich Angela Merkel ein, damals noch CDU-Generalsekretärin.

    "Wir sind nur der Meinung, dass die generelle doppelte Staatsbürgerschaft keinem Einzigen hilft, sich wirklich integriert zu fühlen. Ich glaube auch, dass es ganz falsch wäre, wenn die CDU den Eindruck erweckt, dieses Thema kann man allein mit Unterschriften beherrschen."

    Im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2000 versuchte der damalige CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers, mit der Kampagne "Kinder statt Inder" die Anwerbung ausländischer Computerexperten zu stoppen. Bei der SPD haben vor allem die ausländerdiskriminierenden Thesen Thilo Sarrazins zu breiter Irritation geführt. Der NSU-Terror löste bei Migranten eine Schockwelle aus und hat ihr Misstrauen in staatliche Stellen und Parteien nachhaltig verstärkt. Letztere bemühen sich um ein besonderes Entgegenkommen, zumal auch der Fachkräftemangel in Deutschland ins Bewusstsein gerückt ist.

    "Da ist ein ganz, ganz großes Schlagwort jetzt die sogenannte Willkommenskultur. Dass man also versucht, Neuzuwanderern, hoch qualifizierten Neuzuwanderern das Leben hier möglichst angenehm zu gestalten. Das fängt bei ganz profanen Dingen wie Hilfe bei der Wohnungssuche, Deutschkurse und so weiter an, geht aber schon auch ein bisschen weiter, auch zu sagen, natürlich spielt auch das gesellschaftliche Klima da eine Rolle. Und da bemühen wir uns jetzt, Zuwanderung jetzt auch als Chance zu betrachten und nicht nur Zuwanderer als lästige Parasiten zu begreifen."

    Anfang Juli haben mehrere rot-grüne Landesregierungen auch im Bundesrat noch einmal eine Initiative für die doppelte Staatsangehörigkeit in Gang gesetzt. Doch vor der Wahl wird sich da nichts mehr tun. Nach dem 22. September vielleicht schon, meint NRW-Integrationsminister Guntram Schneider.

    "Die SPD und die Grünen sind nicht ganz allein auf weiter Flur. Die FDP ist auch der Auffassung, dass die Übernahme der deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert werden muss, dass es mehrere Staatsangehörigkeiten geben kann. Und die FDP tritt auch für das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer ein. Auch die Linkspartei unterstützt diesen Kurs. Es wird darauf ankommen, was sich in der CDU tut. Dort gibt es auch sehr besonnene und vernünftige Kräfte."

    Cemile Giousouf aus Hagen zum Beispiel, wenn sie denn den Einzug in den Bundestag schafft.

    Wahlplakat: "Das ist echt groß das Ding, das Bild ist relativ groß, und ja, ist schon ein komisches Gefühl erst mal. Da muss man sich erst mal dran gewöhnen, dass man bald überall in der ganzen Stadt steht."

    Ihr Parteikollege Yasin Tekin, der ihr beim Plakatkleben hilft, gerät ins Schwärmen.

    "Sie wird es schaffen, die Vorurteile, die vielen Deutschen mit Migrationshintergrund gegenüber bestehen, auch aus dem Weg zu räumen, zumal sie auf der einen Seite Muslima ist, auf der anderen Seite eine Frau ist. Weil viele ja dann auch immer behaupten, Islam und Frauenrechte seien nicht miteinander vereinbar. Und die Frauen stünden eher im Hintergrund. Dass das nicht so ist, sieht man. Und die entsprechende Unterstützung wird sie auch bekommen."
    Diskriminierung als Alltagserfahrung? Szene aus einer Schule im Leipziger Osten
    Bildung wird von vielen Migrationspolitikern als Schlüssel angesehen. (picture alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch)