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Der Dschungel in Paris

Die Pariser Vororte müssten einmal sehr schön gewesen sein. So schön, dass sie einen Maler wie Henri Rousseau zu paradisischen Urwaldgemälden inspirieren konnten. Den Zöllner trieb es kreuz und quer durch die Stadt bis an ihre Ränder und darüber hinaus, um Stoff für seine naiv-realistischen Arbeiten als selbst erklärter Sonntagsmaler zu sammeln. Als Rousseau 1910 im Alter von 66 Jahren starb, hat er für die Kunstmoderne mehr getan, als ihm selbst bewusst geworden ist. Sein Werk ist jetzt in einer großen Ausstellung in London zu sehen, in der Tate Modern.

Von Hans Pietsch | 07.11.2005
    Was für ein schlechter Maler Henri Rousseau doch war! Die Anatomie seiner Menschen und Tiere stimmt selten – hier ein schief angesetztes Bein, dort eine aus dem Nichts auftauchende Hand -, von Perspektive scheint er wenig Ahnung gehabt zu haben und das Licht seiner glühenden Sonnen und weißen Monde wirft nie einen Schatten. Selbst die Art, wie er seine Bilder mit Riesenbuchstaben signiert, erscheint holprig. Doch das alles vergibt man einem Künstler, der eine ganz eigene, verzauberte Welt schuf, in der man sich verlieren und träumen kann.

    Er war Anfang 40, als er zu malen begann. Autodidakt und bis 1893, als er seinen Job als Zollbeamter am Pariser Stadtrand aufgab, ein wahrer Sonntagsmaler. Sein Ziel: ein angesehener akademischer Maler zu werden, der Historienschinken malt und Gruppenporträts und patriotische Szenen. Glücklicherweise fehlte ihm dazu das malerische Talent, sonst hätten wir nicht diese wunderbaren Dschungelbilder und seine Darstellungen der Pariser Vorstädte.

    Die Schau in der Tate Modern hat mehr als 50 Gemälde zusammengetragen, nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet: da hängen also die köstlichen "Fußballspieler" mit ihren blau-weiß und rot-weiß gestreiften Badeanzügen neben Affen, die sich im Dschungel gegenseitig Orangen zuwerfen; da hängt ein kleines Selbstporträt, auf dem er sich als bescheidener Sonntagsmaler darstellt, neben einem majestätischen Selbstbildnis als akademischer Maler, mit schwarzem Samtanzug und Baskenmütze, vor dem Hintergrund des modernen Paris; und in einem Raum hängen seine winzigen Pariser Straßenszenen – nicht die Grands Boulevard, die die Impressionisten so liebten, sondern der Pariser Stadtrand, dort wo die Stadt ins offene Land übergeht, voller genauer Beobachtung, aber auch Melancholie. Hier sieht man, was ihn auszeichnet – er versteht es, das Vertraute fremd, und das Fremde vertraut zu machen.

    Doch natürlich kennt man den Zöllner hauptsächlich wegen seiner Dschungelbilder. Mit seinem allerersten beginnt die Schau – "Tiger in einem tropischen Gewitter: Überrascht!” verblüffte 1891 auf dem Salon des Independents ein nichts ahnendes Publikum und erntete ihm seine erste positive Kritik. Der junge Maler Felix Vallotton nannte das Werk "das Alpha und Omega der Malerei” und forderte seine Leser auf, es sich unbedingt anzusehen.

    Nicht nur Vallotton bewunderte die Arbeit des malenden Zöllners. Picasso war ebenso ein Fan wie Robert Delaunay, beide kauften Werke von ihm. Selbst Wassily Kandinsky besaß zwei Gemälde. Er konnte mit ihrer Kunst nichts anfangen, sie lernten von ihm, dass man mit Fantasie, Energie und Entschlossenheit als Künstler reüssieren kann, auch wenn man zunächst ausgelacht wird.

    Fast zehn Jahre dauerte es, ehe er sich erneut dem Dschungel als Thema zuwandte. Der Urwald als unheimlicher, gefährlicher Ort. Voller Gewalt, wie bei der blutigen Arbeit "Der hungrige Löwe greift eine Antilope an” von 1905. Aber auch als friedvoller Ort, wo Affen Ball spielen und angeln. In einem Raum stellen die Kuratoren Rousseaus mögliche Quellen vor, von Postkarten über populäre Magazine mit Fotos von Frankreichs Schwarzafrikanischen Kolonien bis zu ausgestopften Tieren aus dem Naturkundemuseum – der die Antilope anspringende Löwe ist eine direkte Kopie einer solchen Tierszene.

    Die Schau endet mit seinem vielleicht berühmtesten Dschungelbild: "Der Traum”, das kurz vor seinem Tod im Jahre 1910 entstand. Ein weiblicher Akt liegt auf einem roten Sofa – das im Atelier des Malers stand -, mitten im Dschungel, umgeben von Tieren, die vom Flötenspiel einer Orpheus-ähnlichen Gestalt in der Bildmitte angelockt werden. Der Dichter Guillaume Apollinaire schrieb: "Das Bild strahlt Schönheit aus und ich glaube, in diesem Jahr wird niemand lachen.”

    Ein Jahr nach seiner Beisetzung in einem Armengrab bezahlten Picasso und Delaunay einen neuen Grabstein. Der Bildhauer Konstantin Brancusi schuf ihn, mit einem eingemeißelten Gedicht von Apollinaire. Die jungen Wilden verneigten sich vor dem "modernen Primitiven”.

    War Henri Rousseau wirklich der naïve Sonntagsmaler oder war er sehr viel differenzierter? Die Ausstellung wirft die Frage auf, beantwortet sie jedoch nicht. Vielleicht gibt es auch gar keine Antwort.

    Rousseaus Kunst spricht das Kind in uns allen an, ermöglicht es uns wieder zu staunen. Doch wie die besten Kindergeschichten sind auch seine Gemälde voller Dunkelheit, Gewalt und Geheimnis. Das ist es, was ihn so populär macht. Das größte Geheimnis bleibt aber er selbst.

    Henri Rousseau: Jungles in Paris. Tate Modern, London. Bis 5.2.2006