- Der Durchblicker Kiepenheuer und Witsch, 148 Seiten Preis: 16,80 Mark
- Ecstasy Kiepenheuer und Witsch, 350 Seiten Preis: 19,80 Mark
Voyeure gucken hin, ohne mitzumachen. In diesem Sinne wird der Leser bei Irvine Welsh zum Voyeur - es sei denn, er hätte zwei Jahrzehnte Drogenerfahrung aufzubieten. Welsh, der knapp vierzigjährige Schotte aus Edinburgh, hat genau das. Und er versteht es, darüber zu schreiben. Das Ergebnis hieß erstmal "Trainspotting", ein Roman, der Welsh bekannt machte. Die Geschichte einer Klicke heroinabhängiger Jugendlicher wurde verfilmt, sein Verfasser zum Kultautor gekrönt: Vom "Dichterfürsten der Drogengeneration" war in den britischen Blättern die Rede. Nun erfährt man, daß Welsh sich nicht nur bei Heroin auskennt. Ecky, Speed, Koks, Valium, Paracetamol, Methedrin, Hasch, Smack, LSD und Becks, all das schlucken, rauchen, spritzen und trinken seine Leute in nur zwei weiteren Büchern: "Der Durchblicker" und "Ecstasy".
Da ist zum Beispiel Brian. Er ist sechzehn, liest nur Biographien, ist wohl ein bißchen zu clever für seine Kumpels, die ihn den "Durchblicker" nennen. Brians Familie ist die Mutter weggelaufen, und durch die schottische Landschaft tobt eine Rezession. Wir befinden uns in der Ära vor Tony Blair, noch haben die Tories England im Griff. Brian, der einen Job beim Park- und Bäderamt der Stadt schiebt, der Müll einsammelt und Thermostate anstellt, damit verschwitzte Fußballer duschen können, muß sich von seinen Vorgesetzten blöde Sprüche gefallen lassen:
"Ich gebe zu, der Job könnte besser sein. Der Service ist auf den Hund gekommen. Wir können ja nicht mal die alten Kleinbusse der Mobilstreife und die Sprechanlage erneuern. Die Schuld muß ich natürlich unseren politischen Herren im Freizeitausschuß geben. Subventionen, damit alleinerziehende, schwarze, lesbische Kollektive experimentelle Theaterprojekte aufziehen können; für so was haben sie immer Geld übrig." Die Zukunft muß düster aussehen für einen Halbstarken, wenn solche Leute das Sagen haben. Außerdem fehlt Brian die Mutter. Damit ist sein Schicksal als Underdog besiegelt, und der Sozialarbeiter im Leser hat sein Fressen gefunden. Irvine Welsh macht sich nicht viel Arbeit, wenn er uns erklärt, warum Brian Drogen nimmt. Spannender sind da schon Passagen, in denen er beschreibt, was nach dem Konsum derselben passiert:
"Er kochte Smack auf, und ich machte mir ‘nen Druck mit seinem Besteck. Ich fing an, viel übers Schwimmen nachzudenken, und über Fische. Welche Freiheit sie genießen, zwei Drittel der Oberfläche des Planeten und so. Das nächste, was ich mitkriegte, war der Hai, der sich drohend vor mir aufbaute. Raymie war verschwunden. - Die Schlüssel, schnauzte er. Ich sah ihn mit glasigen Augen an. Es fühlte sich an, als wär mein Körper ein langer Flur, und der Hai stände an der Tür am anderen Ende des Flurs. Scheiße, wovon redete der da? Was für Schlüssel? Schlüssel. Schlüssel. Mutter Teresa und die Straßenkinder von Kalkutta. Brot für die Welt."
Irvine Welsh schafft es, Horror- und andere Trips in Worte zu kleiden, ihnen in einem neuen Medium Gestalt, Rhythmus, Farbe zu verleihen. Das ist sein Verdienst. Blickt man aber auf die Geschichte, die "Der Durchblicker" erzählt, dann wird das Eis dünn. Brian säuft und hurt, er begeht einen Mord und empfindet etwas Reue. Schließlich erfährt er, in einem Telefonat nach Australien, daß seine Mutter gestorben ist. Die Geschichte ist zuende, und bleischwer senkt sich der Kitsch herab. Bleibt die Frage, ob man unbedingt alles publizieren und übersetzen muß, nur weil ein Autor einmal Schlagzeilen gemacht hat.
Etwas anders liegt der Fall bei "Ecstasy", der zweiten deutschen Neuerscheinung von Irvine Welsh in diesem Jahr. Drogendealer trifft Hausfrau, Contergan-Mädchen trifft Raver, Krankenschwester trifft Schnulzenautorin: "Drei Romanzen mit chemischen Zusätzen" serviert uns der Autor. Es geht darum, was die kleinen Pillen namens "E" tun, wenn man sie einmal geschluckt hat. Ferner geht es um die Chemie als Zustand zwischen zwei Menschen, man könnte auch "Liebe" dazu sagen. Schließlich interessiert Welsh sich dafür, wie die Chemie-Pillen das Chemie-Gefühl beeinflussen. Hier entpuppt er sich, Trash und Pulp Fiction zum Trotz, als eine Art von Romantiker. Die beiden Freunde Lloyd und Nukes jedenfalls finden, daß wahre Liebe nur ohne Pillen Bestand hat:
"- Und trotzdem kann man Liebe, richtige Liebe, im Clubumfeld finden. Dort fällt es den Leuten ja nur leichter, sich kennenzulernen, sich zu öffnen und Hemmungen abzubauen. Ist doch nichts Schlimmes. - Ah, aber jetzt hör dir das mal an. Da kann man sich auch schwer vertun. Wenn man E genommen hat, sieht jede Braut absolut scharf aus. Da gibt’s nur eins - den Acid Test: Geh mit ihr den nächsten Tag auf den Trip. Guck dir an, wie sie dann aussieht." Nukes, Tatsache ist, ich wasch mir jeden Tag den Schwanz und zieh frische Unterhosen an. Nukes zieht ne Braue hoch und grinst. Dann muß es Liebe sein, meinte er."
Heather und Lloyd heißen die Liebenden dieser Erzählung namens "Acid-House-Romanze". Sie war eine frustrierte Ehefrau, er ein Dealer und Kleinkrimineller. "Ecstasy" oder "E" wirkt bei ihnen als Katalysator: Es baut Hemmungen ab, schickt sie in eine Traumwelt und zurück. Heather und Lloyd finden die Liebe, verlieren sie und beschließen dann, ihrer Zukunft clean entgegenzugehen. Anders ergeht es Rebecca, der Hauptfigur der "Rave und Regency-Romanze". Rebecca braucht Ecstasy, um die Wirklichkeit zu erkennen. Sie verdient sich mit Schmonzetten im Groschenformat ein stattliches Sümmchen, schreibt über zarte Mädchen von hohem Geblüt, wüste Schurken und edle Retter. Was Rebecca nicht weiß: Ihr Mann investiert jeden Groschen, den sie verdient, in Pornos wie "Feiste Faustfick Emanzen". Nachdem ihr die Krankenschwester Lorraine Ecstasy verabreicht hat, überführt Rebecca die derbe Wirklichkeit in ihre Schnulzen: "Vor Denby standen drei Podeste. Auf einem kniete ein gefesseltes, geknebeltes nacktes Mädchen und streckte ihren Hintern in die Luft. Auf dem nächsten Podest ein Junge in identischer Position. Auf dem dritten war ein großes, robustes Schwarzkopfschaf fesgebunden und geknebelt. Die Podeste waren mit Flaschenzügen versehen, die es erlaubten, die Höhe der Teilnehmer in dem Wettstreit einzustellen. Harcourt hatte die Männer angewiesen, alles so einzurichten, daß sich die Analöffnungen der drei Geschöpfe auf gleicher Höhe befanden, aufgereiht, um Denbys pochende Männlichkeit zu empfangen."
Ein Marquis de Sade würde erbleichen bei dem, was dann kommt. Rebecca schlägt ihrem Mann ein Schnippchen, denn mit solchen Ferkeleien lassen sich ihre Silvia-Romane natürlich nicht mehr verkaufen. Irvine Welsh wiederum nimmt sich selbst auf den Arm, denn so explizit hatten wir uns die Sache mit den Romanzen nicht vorgestellt. Deren Genuß allerdings ist nur mit Blick auf die Nebenwirkungen zu empfehlen. Von Gewalt und Sex mit lebenden Teilnehmern bis zur Leichenschändung läßt Welsh nichts aus, was man als geschmacklos, sadistisch, obszön oder pervers empfinden könnte. Er schreibt sich in einen ästhetischen Nihilismus hinein, der alle Widerstände des Lesers einebnet. Warum Welsh das tut, verrät ein Motto, das er seinen Erzählungen voranstellt. Es handelt sich um ein Zitat von Iggy Pop: "Es heißt immer, man stirbt am Tod, aber am Tod stirbt man nicht. Man stirbt an Langeweile und Gleichgültigkeit."
- Ecstasy Kiepenheuer und Witsch, 350 Seiten Preis: 19,80 Mark
Voyeure gucken hin, ohne mitzumachen. In diesem Sinne wird der Leser bei Irvine Welsh zum Voyeur - es sei denn, er hätte zwei Jahrzehnte Drogenerfahrung aufzubieten. Welsh, der knapp vierzigjährige Schotte aus Edinburgh, hat genau das. Und er versteht es, darüber zu schreiben. Das Ergebnis hieß erstmal "Trainspotting", ein Roman, der Welsh bekannt machte. Die Geschichte einer Klicke heroinabhängiger Jugendlicher wurde verfilmt, sein Verfasser zum Kultautor gekrönt: Vom "Dichterfürsten der Drogengeneration" war in den britischen Blättern die Rede. Nun erfährt man, daß Welsh sich nicht nur bei Heroin auskennt. Ecky, Speed, Koks, Valium, Paracetamol, Methedrin, Hasch, Smack, LSD und Becks, all das schlucken, rauchen, spritzen und trinken seine Leute in nur zwei weiteren Büchern: "Der Durchblicker" und "Ecstasy".
Da ist zum Beispiel Brian. Er ist sechzehn, liest nur Biographien, ist wohl ein bißchen zu clever für seine Kumpels, die ihn den "Durchblicker" nennen. Brians Familie ist die Mutter weggelaufen, und durch die schottische Landschaft tobt eine Rezession. Wir befinden uns in der Ära vor Tony Blair, noch haben die Tories England im Griff. Brian, der einen Job beim Park- und Bäderamt der Stadt schiebt, der Müll einsammelt und Thermostate anstellt, damit verschwitzte Fußballer duschen können, muß sich von seinen Vorgesetzten blöde Sprüche gefallen lassen:
"Ich gebe zu, der Job könnte besser sein. Der Service ist auf den Hund gekommen. Wir können ja nicht mal die alten Kleinbusse der Mobilstreife und die Sprechanlage erneuern. Die Schuld muß ich natürlich unseren politischen Herren im Freizeitausschuß geben. Subventionen, damit alleinerziehende, schwarze, lesbische Kollektive experimentelle Theaterprojekte aufziehen können; für so was haben sie immer Geld übrig." Die Zukunft muß düster aussehen für einen Halbstarken, wenn solche Leute das Sagen haben. Außerdem fehlt Brian die Mutter. Damit ist sein Schicksal als Underdog besiegelt, und der Sozialarbeiter im Leser hat sein Fressen gefunden. Irvine Welsh macht sich nicht viel Arbeit, wenn er uns erklärt, warum Brian Drogen nimmt. Spannender sind da schon Passagen, in denen er beschreibt, was nach dem Konsum derselben passiert:
"Er kochte Smack auf, und ich machte mir ‘nen Druck mit seinem Besteck. Ich fing an, viel übers Schwimmen nachzudenken, und über Fische. Welche Freiheit sie genießen, zwei Drittel der Oberfläche des Planeten und so. Das nächste, was ich mitkriegte, war der Hai, der sich drohend vor mir aufbaute. Raymie war verschwunden. - Die Schlüssel, schnauzte er. Ich sah ihn mit glasigen Augen an. Es fühlte sich an, als wär mein Körper ein langer Flur, und der Hai stände an der Tür am anderen Ende des Flurs. Scheiße, wovon redete der da? Was für Schlüssel? Schlüssel. Schlüssel. Mutter Teresa und die Straßenkinder von Kalkutta. Brot für die Welt."
Irvine Welsh schafft es, Horror- und andere Trips in Worte zu kleiden, ihnen in einem neuen Medium Gestalt, Rhythmus, Farbe zu verleihen. Das ist sein Verdienst. Blickt man aber auf die Geschichte, die "Der Durchblicker" erzählt, dann wird das Eis dünn. Brian säuft und hurt, er begeht einen Mord und empfindet etwas Reue. Schließlich erfährt er, in einem Telefonat nach Australien, daß seine Mutter gestorben ist. Die Geschichte ist zuende, und bleischwer senkt sich der Kitsch herab. Bleibt die Frage, ob man unbedingt alles publizieren und übersetzen muß, nur weil ein Autor einmal Schlagzeilen gemacht hat.
Etwas anders liegt der Fall bei "Ecstasy", der zweiten deutschen Neuerscheinung von Irvine Welsh in diesem Jahr. Drogendealer trifft Hausfrau, Contergan-Mädchen trifft Raver, Krankenschwester trifft Schnulzenautorin: "Drei Romanzen mit chemischen Zusätzen" serviert uns der Autor. Es geht darum, was die kleinen Pillen namens "E" tun, wenn man sie einmal geschluckt hat. Ferner geht es um die Chemie als Zustand zwischen zwei Menschen, man könnte auch "Liebe" dazu sagen. Schließlich interessiert Welsh sich dafür, wie die Chemie-Pillen das Chemie-Gefühl beeinflussen. Hier entpuppt er sich, Trash und Pulp Fiction zum Trotz, als eine Art von Romantiker. Die beiden Freunde Lloyd und Nukes jedenfalls finden, daß wahre Liebe nur ohne Pillen Bestand hat:
"- Und trotzdem kann man Liebe, richtige Liebe, im Clubumfeld finden. Dort fällt es den Leuten ja nur leichter, sich kennenzulernen, sich zu öffnen und Hemmungen abzubauen. Ist doch nichts Schlimmes. - Ah, aber jetzt hör dir das mal an. Da kann man sich auch schwer vertun. Wenn man E genommen hat, sieht jede Braut absolut scharf aus. Da gibt’s nur eins - den Acid Test: Geh mit ihr den nächsten Tag auf den Trip. Guck dir an, wie sie dann aussieht." Nukes, Tatsache ist, ich wasch mir jeden Tag den Schwanz und zieh frische Unterhosen an. Nukes zieht ne Braue hoch und grinst. Dann muß es Liebe sein, meinte er."
Heather und Lloyd heißen die Liebenden dieser Erzählung namens "Acid-House-Romanze". Sie war eine frustrierte Ehefrau, er ein Dealer und Kleinkrimineller. "Ecstasy" oder "E" wirkt bei ihnen als Katalysator: Es baut Hemmungen ab, schickt sie in eine Traumwelt und zurück. Heather und Lloyd finden die Liebe, verlieren sie und beschließen dann, ihrer Zukunft clean entgegenzugehen. Anders ergeht es Rebecca, der Hauptfigur der "Rave und Regency-Romanze". Rebecca braucht Ecstasy, um die Wirklichkeit zu erkennen. Sie verdient sich mit Schmonzetten im Groschenformat ein stattliches Sümmchen, schreibt über zarte Mädchen von hohem Geblüt, wüste Schurken und edle Retter. Was Rebecca nicht weiß: Ihr Mann investiert jeden Groschen, den sie verdient, in Pornos wie "Feiste Faustfick Emanzen". Nachdem ihr die Krankenschwester Lorraine Ecstasy verabreicht hat, überführt Rebecca die derbe Wirklichkeit in ihre Schnulzen: "Vor Denby standen drei Podeste. Auf einem kniete ein gefesseltes, geknebeltes nacktes Mädchen und streckte ihren Hintern in die Luft. Auf dem nächsten Podest ein Junge in identischer Position. Auf dem dritten war ein großes, robustes Schwarzkopfschaf fesgebunden und geknebelt. Die Podeste waren mit Flaschenzügen versehen, die es erlaubten, die Höhe der Teilnehmer in dem Wettstreit einzustellen. Harcourt hatte die Männer angewiesen, alles so einzurichten, daß sich die Analöffnungen der drei Geschöpfe auf gleicher Höhe befanden, aufgereiht, um Denbys pochende Männlichkeit zu empfangen."
Ein Marquis de Sade würde erbleichen bei dem, was dann kommt. Rebecca schlägt ihrem Mann ein Schnippchen, denn mit solchen Ferkeleien lassen sich ihre Silvia-Romane natürlich nicht mehr verkaufen. Irvine Welsh wiederum nimmt sich selbst auf den Arm, denn so explizit hatten wir uns die Sache mit den Romanzen nicht vorgestellt. Deren Genuß allerdings ist nur mit Blick auf die Nebenwirkungen zu empfehlen. Von Gewalt und Sex mit lebenden Teilnehmern bis zur Leichenschändung läßt Welsh nichts aus, was man als geschmacklos, sadistisch, obszön oder pervers empfinden könnte. Er schreibt sich in einen ästhetischen Nihilismus hinein, der alle Widerstände des Lesers einebnet. Warum Welsh das tut, verrät ein Motto, das er seinen Erzählungen voranstellt. Es handelt sich um ein Zitat von Iggy Pop: "Es heißt immer, man stirbt am Tod, aber am Tod stirbt man nicht. Man stirbt an Langeweile und Gleichgültigkeit."