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Der Einzelne, die Institutionen und ihr Einfluss auf einen neuen Kapitalismus

Pavan Sukhdev nennt vier Punkte, mit denen sich der Kapitalismus institutionell reformieren lasse. Wolf Lotter appelliert hingegen mehr an die Marktmacht jedes Einzelnen, die zu Veränderungen führen könne. Ein Blick auf neue Ideen zu einem neuen Kapitalismus.

Von Caspar Dohmen |
    Der Kapitalismus hat sich im Großteil der Gesellschaften und Kulturen als wirtschaftliche Organisationsform durchgesetzt. Nach dem grandiosen Scheitern der Planwirtschaft im real existierenden Sozialismus ist keine überzeugende Alternative zum Kapitalismus in Sicht. Seine Gestaltung ist deswegen eine der zentralen Fragen der Menschheit. Wie radikal sich Kapitalismus verändern kann, zeigt ein Blick auf die Geschichte. Da gibt es für den Manchesterliberalismus im England des 19. Jahrhunderts genauso Platz wie nach dem Zweiten Weltkrieg für die soziale Marktwirtschaft in Deutschland oder den Staatskapitalismus unserer Tage in China. Kennzeichen des heutigen, global dominierenden Kapitalismus' sind einseitige Fokussierung der Unternehmen auf die Gewinnmaximierung, die dominante Rolle multinationaler Konzerne und deregulierte Finanzmärkte. Die bitteren Folgen haben die europäischen Bürger gerade erst in der Finanzkrise zu spüren bekommen. Die Gewinne gehen an private Eigentümer, Verluste werden auf die Allgemeinheit abgewälzt. Damit müsse schnell Schluss sein, fordert Pavan Sukhdev in seinem Buch "Corporation 2020".

    "Es geht hier nicht um entfernte Ziele oder Visionen. Es geht um eine Deadline. Ich bin der festen Überzeugung: 2020 ist das Datum, bis zu dem wir die Art und Weise, wie wir Unternehmen führen, deutlich geändert haben müssen."

    Die heute dominierenden Kapitalgesellschaften bezeichnet er als die Corporation 1920. Denn das Jahr 1920 markiert für Sukhdev einen zeitlichen Wendepunkt, an dem sich die Kapitalgesellschaften schon einmal drastisch änderten. Damals habe sich der Gewinn als Orientierungsgröße für die Führung eines Unternehmens durchgesetzt, schreibt er und verweist auf einen spektakulären Prozess in den Vereinigten Staaten. Auf der Anklagebank saß Henry Ford. Der Automobilkönig wollte möglichst viele Menschen in seinen Fabriken einstellen, um sie an den Vorteilen des Industriesystems teilhaben zu lassen. Das war in den Augen Fords sozial. Und dafür nahm er auch einen geringeren Gewinn des Unternehmens in Kauf. Nicht aber die Gebrüder Dodge, die ein Zehntel der Aktien des damals weltweit größten Autobauers hielten. Sie klagten und die Richter sprachen ein folgenreiches Urteil, schreibt der Autor.

    "Vor diesem Fall glich das Konzept des Gewinns als Kernmotiv des Unternehmens einem Ammenmärchen - oft wiederholt, aber nie auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft. Nach dem Rechtsfall war das anders: Jetzt konnte das Unternehmen zu dem einzigen Zweck bestehen, finanzielle Gewinne für seine Anteilseigner zu erwirtschaften. Die Entscheidung des Gerichts änderte zwar nicht das Recht der USA, sie prägte aber in hohem Maße die öffentliche Meinung, wie ein modernes Unternehmen in den USA auszusehen hat."

    Dass der Autor diese spannende Entwicklungsgeschichte nachzeichnet, ist schon ein großer Verdienst. Denn notwendige Veränderungen bei Unternehmen werden heute nur stattfinden, wenn nur vermeintliche Dogmen als solche erkannt werden. Moderne Kapitalgesellschaften sind als Ergebnis gesellschaftlicher Entscheidungen veränderbar. Es ist kein Naturgesetz, dass die Unternehmen zulasten von Unternehmen und Gesellschaft Profit machen. Der Inder Sukhdev ist selbst ein Mann der Wirtschaft. Auf der Umweltkonferenz 2012 in Rio präsentierte er seine Kampagne "Corporation 2020". Damit die Ideen nicht schnell wieder versanden, habe er das Buch geschrieben, erzählt er. Er könne verstehen, dass die Menschen des Geredes über Krisenursachen müde sind.

    "Deswegen will ich, dass etwas passiert. Ich schlage vier Maßnahmen vor. Nummer eins. Die Bilanzen müssen die Wahrheit sagen. Als zweites müssen die schädlichen Dinge besteuert werden und nicht die Guten. Maßnahme drei ist die Reduzierung des exzessiven Fremdkapitaleinsatzes. Und sehr wichtig Punkt vier: Die Werbung muss aufhören, zu lügen."

    Wenn an diesen vier Stellschrauben gedreht wird, dann würden die Unternehmen künftig tatsächlich finanziell nachhaltiger handeln und Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft übernehmen. Eine zentrale Rolle bei der Transformation sieht der Autor bei der Politik, um diese neue DNA bei Unternehmen einzupflanzen. Aus sich selbst heraus würden die heutigen Kapitalgesellschaften kaum die notwendigen Reformen umsetzen. Sukhdev schreibt:

    "Es müssen politische Konzepte entwickelt und umgesetzt werden, die dafür sorgen, dass die Ziele von Unternehmen und Gesellschaften zunehmend deckungsgleich werden."

    Zu kurz kommt in dem Buch die Verantwortung des Einzelnen. Beispielsweise bleiben die Eigentümer der Kapitalgesellschaften seltsam anonym und verschwinden fast gänzlich hinter den Institutionen. Dabei hat Sukhdev am Anfang des Buches mit der Klage der Ford-Großaktionäre doch auf deren Bedeutung verwiesen. Wer sich mit der Rolle des Einzelnen für notwendige gesellschaftliche Reformen beschäftigen will, dem sei das Buch des Journalisten Wolf Lotter empfohlen. Er setzt erklärtermaßen nicht auf das Primat der Politik, sondern das Primat des Einzelnen. Der Autor fordert:

    "Überlassen wir den Kapitalismus nicht den Leuten, die ihn zum Inbegriff des Versagens und der Ungerechtigkeit gemacht haben."

    Lotter hält es für unumgänglich, dass die Menschen sich das ökonomische Rüstzeug verschaffen. Denn die Interessen des heute dominierenden Industrie- und Finanzkapitalismus seien eben häufig andere als die der Bürger. In diesem Punkt kann man Lotter nur beipflichten, ebenso wie bei seinem Plädoyer für mehr Mut und Zivilcourage des Einzelnen.

    "Freiheit wird nicht gegeben, Freiheit wird nicht gewährt. Freiheit nimmt man sich. Sie ist die Folge einer Entscheidung, nicht eines Gnadenaktes."

    Das Buch ist flott und verständlich geschrieben. Allerdings wirken einige Gedanken unvollendet. Durch die Zeilen schimmert zudem das alte wirtschaftsliberale Mantra, nachdem jeder seines eigenen Glückes Schmied ist – nun eben in der modernen Form der Selbstverwirklichung. Der Mitbegründer des Wirtschaftsmagazins "Brand Eins" schreibt:

    "Die Zivilgesellschaft ist die eigentliche Demokratie. Und sie braucht keine Gerechtigkeit, weil sie sich in Fairness übt."

    Von einer solchen Gesellschaft sind wir jedoch weit entfernt. Bei Lotter kommen wiederum gemeinschaftliche Organisationen und institutionelle gesellschaftliche Reformen zu kurz, wie sie Sukhdev entwirft. Ohne diese Elemente lassen sich beispielsweise Freiheit und Fairness nicht sichern. Außer dem Staat ist derzeit niemand in Sicht, der zum Beispiel für faire Chancengleichheit im Bildungssystem sorgen könnte. Beide Bücher haben also ihre blinden Flecken. Wer sich jedoch in beide Bücher vertieft, der bekommt ein ziemlich umfassendes Bild davon, wo derzeit der Einzelne und wo die Gesellschaft gefordert ist und wo er allein beziehungsweise alle gemeinsam ansetzen können, um Wohlstand und Gerechtigkeit auf nachhaltige Art und Weise umzusetzen.

    Buchinfos:
    Wolf Lotter: "Zivilkapitalismus. Wir können auch anders.", Pantheon Verlag, 224 Seiten, Preis: 14,99 Euro, ISBN: 978-3-570-55231-5

    Pavan Sukhdev: "Corporation 2020. Warum wir Wirtschaft neu denken müssen.", Oekom Verlag, 296 Seiten, Preis: 19,95 Euro, ISBN: 978-3-865-81437-1